Im folgenden Beitrag geht es um die Frage, ob eine gezielte Interessenförderung ein geeigneter Hebel für die Erwachsenenbildung sein könnte, um Personen im Allgemeinen, vor allem aber auch Personen mit wenig Bildungserfahrung zum selbstbestimmten, freiwilligen und langfristigen Lernen zu motivieren. Dass Interesse ein wesentlicher Motivator für Lernen ist, ist nicht neu und spielt in der Entwicklung der Volksbildung seit ihrem Beginn mit verschiedenen Zugängen eine große Rolle. In diesem Beitrag, der etwas abgeändert bei einem Symposium im Rahmen des ÖFEB-Kongresses 2019 „Vermessen? Zum Verhältnis von Bildungsforschung, Bildungspolitik und Bildungspraxis“ präsentiert wurde, geht es aber weniger um die Themen Weiterbildungsmotive, -wünsche etc., sondern um die Frage, ob bzw. wie Interessensförderung über eine „Bildungspflicht“ hinaus zum selbstmotivierten Lernen und zum verbesserten Verbleib von TeilnehmerInnen in der Bildung führen könnte. Zur Veranschaulichung dieser Überlegung werden drei Denkmodelle präsentiert, die sich mit der Progression und den Auswirkungen von Interesseentwicklung befassen: das „Engagement in reading activities“ bei PISA, die „4 Levels of Interest“ von Hidi und Renninger und das Zweiachsen-Modell von Anke Grotlüschen.
Interesse-Entwicklung und die Entwicklung von Interesse-Theorien
Die Grundlagen für die heutigen pädagogisch-psychologischen Interesse-Theorien finden sich zumindest schon am Beginn des 20. Jahrhunderts. Der amerikanische Pädagoge John Dewey beschrieb 1913 Interessen folgendermaßen:
„Interessen sind, wie wir festgestellt haben, sehr vielfältig; jeder Impuls und jede Gewohnheit, die einen Zweck erzeugen, der genügend Kraft hat, eine Person dazu zu bewegen, nach seiner Verwirklichung zu streben, wird zu einem Interesse. Aber trotz dieser Vielfalt sind die Interessen im Prinzip eins. Sie alle kennzeichnen eine Identifikation in der Handlung, und damit im Wunsch, in der Anstrengung und im Denken des Selbst mit den Objekten […].“ (Dewey: 1913; übersetzt mit www.DeepL.com/Translator)
Diese pädagogischen Überlegungen finden sich etwa zeitgleich auch in den Tätigkeiten der sogenannten Fachgruppen, die zu Beginn des 20 Jahrhunderts und in der Ersten Republik in den Wiener Volkshochschulen entstanden sind als „halbautonome, organisatorisch selbstverwaltete Interessensgruppen mit einer erwähnenswerten Vielfalt an Themen, Methoden und infrastrukturellen Möglichkeiten“ (Lenz & Gruber: 2016, 29). Die Fachgruppen der Wiener Volkshochschulen waren ein Modell interessegeleiteten Lernens. Sie waren Zusammenschlüsse von Volkshochschulmitgliedern auf der Grundlage eines fachspezifischen Interesses und sollten ihren Mitgliedern ein „tieferes Eindringen in ein bestimmtes […] Gebiet des Wissens oder der Kunst“ ermöglichen (Volkshochschule Wien Volksheim: o. J., 740). ExpertInnen und Laien haben auf einer egalitären und möglichst demokratischen Basis in den Fachgruppen zusammengearbeitet, wobei das Ziel in einer wissenschaftlich ausgerichteten Denkschulung, in selbstbewusster Lebensführung und in der Förderung der Selbsttätigkeit der TeilnehmerInnen bestand. Die Fachgruppen verfügten über ein eigenes Budget und eine eigene Bildungsinfrastruktur wie Bibliotheken, teilweise auch Laboratorien und Kabinette und in den Fachgruppen wurde, abhängig vom jeweiligen Gegenstand, methodisch sehr vielfältig gearbeitet: Lektüre, Diskussionen, Vorträge, Exkursionen, GastreferentInnen, Vorträge der Mitglieder. Darüber hinaus verfügten die Fachgruppen über eigene Strukturen und bildeten eine Sektion in den Volkshochschulen mit vielen Möglichkeiten der Mitgestaltung. Die Auswahl der Themen, die gemeinsam be- und erarbeitet wurden, erfolgte innerhalb der Fachgruppe. Aus den Reihen der Fachgruppenmitglieder wurden Kursvertrauenspersonen gewählt, die verbindend zwischen den KursleiterInnen und den KursteilnehmerInnen wirkten. Sie übermittelten die Wünsche und Anregungen und hatten dadurch Einfluss auf die thematisch-inhaltliche Gestaltung. In einem Stufenmodell stellten die Fachgruppen nach den Vorträgen und Kursen die höchste Stufe im Angebot der Volkshochschule dar (vgl. Filla: 2001).
Eine pädagogische Neukonzeption des Interessenkonzepts, das das Interesse als relativ stabiles Persönlichkeitsmerkmal mit einer bedeutsamen Rolle für die Identitätsentwicklung definierte, erfolgte in den 1970er und 1980 Jahren u. a. durch Hans Schiefele, der eine pädagogisch-psychologische Interessensforschung begründete. Darauf aufbauend wurde in den 1990er-Jahren vor allem die von Andreas Krapp federführend entwickelte „Münchner Interessetheorie“ bedeutsam. Sie nimmt die Relation zwischen Person und Gegenstand als Ausgangsbasis und definiert die Verbindung von Interesse und Bedürfnis unter Berücksichtigung der drei Valenzen: kognitive, emotionale und Interessensintensität als Erklärung für intrinsische Motivation und Wohlbefinden.
Besondere Aufmerksamkeit erzielten auch die beiden Forscher Deci und Ryan mit ihrer „Selfdetermination-Theory“, bei der sie die menschliche Motivation durch die Grundbedürfnisse nach Autonomie, Kompetenz und soziales Eingebettetsein begründet sehen und dem „Zweck“ die entscheidende Rolle zuweisen: Zweckfreiheit führt zu intrinsischer Motivation; Zweckorientierung zu extrinsischer.
Für die Erwachsenenbildung interessant ist auch die Forschung interindividueller Interesseverläufe über längere Zeiträume, die zum Beispiel im biographietheoretischen Ansatz von Peter Alheit zum Tragen kommt. Lernen wird dabei als Transformation der Erfahrungen, des Wissens und der Handlungsstrukturen im lebensgeschichtlichen Kontext gesehen. Hier lässt sich auch eine Verbindungslinie zum Ansatz des „transformative Learning“ von Jack Mezirow ziehen, der in seiner konstruktivistischen Theorie der Erwachsenenbildung davon ausgeht, dass es Lernenden in Krisensituationen gelingen kann, mittels Diskurs und kritischer Reflexion ihre bisherigen Ansichten und Annahmen zu überdenken und neue, für die geänderte Lebenssituation geeignetere Strategien anzuwenden (vgl. Mezirow: 2000).
Zur intensiveren Befassung mit der Entwicklung der Interessetheorien sei auf die umfassende Darstellung derselben im Buch von Anke Grotlüschen „Erneuerung der Interessetheorie. Die Genese von Interesse an Erwachsenen- und Weiterbildung (2010) sowie auf den Beitrag von Florian H. Müller „Interesse und Lernen“ (2006) in dieser Ausgabe verwiesen.
Interesse- und Leseentwicklung: zwei kommunizierende Gefäße
Dass in der Erwachsenenbildung dem Interesse-Ansatz und der Interesse-Entwicklung wieder eine steigende Bedeutung zukommt, mag daran liegen, dass jüngste Analysen der Leistungsbefunde und Regulierungstendenzen nicht die erwarteten Ergebnisse mit den geltenden pädagogischen Maßnahmen zeigen.
In der Erwachsenenbildung sind es vor allem die statistischen Daten über die Leseleistung der erwachsenen ÖsterreicherInnen aus PIAAC (Statistik Austria: 2013), die zur berechtigten Frage führen, wie zeitgemäße pädagogische Maßnahmen die Defizite der Grundbildung (und Allgemeinbildung) beheben können, aber auch nachhaltig genug wirken, um ein weiteres Scheitern am Bildungssystem zu verhindern. Wohl ist es sinnvoll, jene zirka 17 Prozent erwachsene ÖsterreicherInnen, die trotz Schulbildung nicht in der Lage sind, längere Texte sinngemäß zu verstehen und eine fundierte Meinung zu vertreten, mit finanziell und methodisch sicheren und aufbaufähigen Strukturen zum (Wieder-)Einstieg in die Bildung zu veranlassen. Allein eine Bildungsabschlussverpflichtung ist noch keine Garantie dafür, dass auch das Ziel einer nachhaltigen und selbständigen Weiterbildung in Sinne des lebensbegleitenden Lebens erreicht wird. Doch könnten die Bildungsmaßnahmen dazu genützt werden, die TeilnehmerInnen nicht nur für eine situationsbezogene Wissensaufnahme zu motivieren, sondern sie dahingehend zu fördern, dass sie sich darüber hinaus individuell mit Interessensgebieten befassen und diese nach dem Pflichtprogramm eigenständig weiterentwickeln.
Eine beachtenswerte Untermauerung dieses Gedankens kommt aus dem Ergänzungsband zur PISA-2009, „Learning to Learn“. (Volume 3, 26 ff.). Hier wird anhand des bestehenden Datenmaterials dargestellt, dass neben den üblichen Faktoren wie sozio-ökonomischer Hintergrund, personelle und finanzielle Ressourcen, Curricula, Unterricht und Unterrichtsorganisation vor allem ein Faktor bestimmend für die Leseleistung ist: das Engagement bei Lese-Aktivitäten.
PISA ordnet dabei der Definition von „Engagement bei Leseaktivitäten“ folgende Aspekte zu: Lesen für die Schule, Freude am Lesen, aufgewandte Zeit für das Lesen aus Freude, Unterschiedlichkeit des Lese-Materials; Unterschiedlichkeit von Online-Leseaktivitäten.
How does PISA define “engagement in reading activities”
Quelle: OECD (2010, Results: Learning to Learn, S, 26)
Aus den PISA-Ergebnissen zeigt sich, dass in so gut wie allen Ländern jene SchülerInnen, die gerne und viel lesen, signifikant besser beim Lesetest abschneiden als jene, die nicht gerne lesen. Lesevergnügen oder Interesse stehen also offensichtlich in einem engen Zusammenhang mit der Leseleistung. Die Verbindung von Engagement, Lernstrategien und Leistung wird als zirkulärer Prozess gesehen: Wenn Personen mehr lesen werden sie zunehmend besser beim Lesen, und wenn sie gut lesen können, neigen sie auch dazu, mehr zu lesen und gern zu lesen. In Österreich wenden allerdings 40 Prozent der SchülerInnen gar keine Zeit zum Lesen aus Vergnügen auf.
In Österreich geben 53 Prozent der SchülerInnen an, dass sie nur dann lesen, wenn sie müssen und für 35 Prozent ist Lesen Zeitverschwendung. (bifie: 2019, 65 f.).
A cycle of engagement in reading activities, learning strategies and reading performance
Quelle: OECD (2010, Results: Learning to Learn, S, 27)
Förderliche Faktoren zur Leseentwicklung aus empirischer Sicht
Auch die amerikanischen Wissenschaftlerinnen Suzanne Hidi und Ann Renninger (2016) kommen bei ihrer Analyse von Studien zum Leseverhalten von SchülerInnen der Unterstufe zum Schluss, dass vor allem ein Faktor entscheidend ist für die positive Leseentwicklung: das Interesse. Sie stellen dazu unter anderem fest, dass jene Texte, die die LeserInnen interessieren, das Lesenlernen im Allgemeinen und das fachspezifische Lesen im Besonderen am besten fördern. Interessantes Material wird signifikant schneller gelesen, auch wenn es herausfordernd ist. Es spielt wohl auch eine Rolle, dass es dabei eine signifikant geringere Anzahl an Geistesabwesenheit („mind-wandering“) gibt. Interessant ist auch, dass bei Texten mit vielen Anknüpfungspunkten, aber einer verständlichen, komplexen Handlung mit multiplen Charakteren das Interesse und die Leselust gesteigert werden und das Belastende am Lesen dadurch kompensiert wird. (Harry Potter-Phänomen, vgl. Hidi & Renninger: 2016). Erklärt wird das damit, dass Lesende bei interessanten Texten eine andere Art der Codierung und Verarbeitung des Gelesenen verwenden und dabei weniger kognitive Ressourcen benötigen als bei langweiligen Texten. Lese-Interesse lässt sich jedoch nicht nur durch Fachtexte in schriftlicher Form fördern, sondern auch über Unterhaltungslektüre, Features, Multimedia, über das Hören von Podcasts, digitale Aktivitäten etc.
Interesse: ein dynamischer Faktor zum Wecken und Weiterentwickeln
Aufbauend auf ihren langjährigen pädagogischen psychologischen und neurowissenschaftlichen Studien entwickelten Hidi und Renninger ein Modell, das die Interessensentwicklung in vier Phasen entstehen lässt. Bei ihrem Modell gehen sie von folgenden Prämissen aus:
- Das Phänomen „Interesse“ zeigt sich sowohl als psychologischer Zustand, charakterisiert etwa durch Aufmerksamkeit, Konzentration etc., wenn sich eine Person mit einem Thema befasst. Es ist aber auch als kognitive und affektive motivationale Voraussetzung zu sehen, die bewirkt, dass Menschen kurzfristig oder langfristig, situationsbezogen oder individuell Interessen entwickeln;
- Interessen sind nicht angeboren und statisch, sondern sie entwickeln sich;
- Interessen können in jedem Alter und mit jeder Vorerfahrung einer Person ausgelöst werden;
- Interessen können in mehreren verschiedenen Bereichen gleichzeitig vorhanden sein;
- Interessen fördern Aufmerksamkeit, Zielsetzung, Verständnis, Ideen und Wissen;
- Interessen führen zum Wunsch nach Erkundung und Informationen;
- Interessen unterstützen die Erwartung und Motivation der Lernenden, weiterzukommen;
- Interessen bewirken positive Lernen bei allen Altersgruppen und in allen Bildungskontexten;
- Die Entfaltung von Ideen und Wissen führt zu einer komplementären und reziproken Kombination von Interesse mit Freude;
- Interessen lassen sich gut von außen wecken, fördern und unterstützen.
Auf zwei Unterschiede machen Hidi und Renninger aufmerksam: „etwas mögen“ („liken“) ist nicht einfach gleichzusetzen mit Interesse, da es auch um den Grad der Ausprägung geht, der beim Begriff Interesse vielfältiger gestaltet ist als beim Begriff „mögen“, der nur eine lineare Spannweite von „nicht mögen“ bis „sehr mögen“ vorsieht.
Interesse ist auch nicht gleichzusetzen mit „Neugierde“, denn Neugierde zeigt sich in vielen Fällen nur in Bezug auf eine „Wissenslücke“, die durch einige Informationen geschlossen werden kann. Allerdings kann Neugierde auch zu einem anhaltenden Interesse führen, wenn die Informationssuche zu weiterführenden Beschäftigungen mit dem Thema führt.
Modelle von Interesse-Entwicklung
Vier-Phasen-Modell von Hidi und Renninger
Hidi und Renninger bauen ihr Modell auf folgenden vier Phasen auf: 1. Ein Interesse wird durch eine bestimmte Situation geweckt bzw. ausgelöst; 2. In dieser Phase wird das geweckte Interesse aufrechterhalten bzw. vertieft; in der 3. Phase erfolgt eine qualitative Entwicklung: Aus dem vertieften, situationsbedingten Interesse entwickelt sich bei den Personen ein eigenes, individuelles Interesse, das sich in der 4. Phase festigt und weiter entwickelt. Die beiden Autorinnen beschreiben dazu schematisch, welche Merkmale die jeweiligen Phasen der Interessensentwicklung kennzeichnen und woran sich die progressive Entwicklung feststellen lässt.
(Quelle: Renninger & Hidi, The Power of Interest for Motivation and Engagement, S. 13)
Modell der pragmatischen und habituellen Interessebegründung von Anke Grotlüschen
Auch die deutsche Bildungswissenschaftlerin Anke Grotlüschen, die eine der führenden ForscherInnen Deutschlands zum Thema „Leben mit geringer Literalität“ ist, setzt sich in ihrem bereits erwähnten Buch „Erneuerung der Interessetheorie“ nicht nur fundiert mit den vorherrschenden Theorieansätzen auseinander, sondern entwickelt ähnlich wie Hidi und Renninger ein Modell zur Interesseentwicklung. Dieses Modell basiert im Wesentlichen auf Elementen der pragmatischen, subjektwissenschaftlichen und habitustheoretischen Ansätze. Für Grotlüschen sind äußere Einflüsse bestimmend für das Lerninteresse bzw. die Lernwiderstände und diese sind zugleich an die subjektiv empfundene Selbstbestimmung gebunden. Das Interesse durchläuft in diesem Modell drei Phasen: Latenz, Expansion, Kompetenz; dabei entsteht und vergeht es nur langsam.
Interessegenese im Spannungsfeld zweier Theorie-Achsen (Empirische Differenzierung, Wdh.)
(Quelle: Grotlüschen, Erneuerung der Interessetheorie, S. 291)
Ähnlich wie Hidi und Renninger beschreibt auch Grotlüschen schematisch die Charakteristika der Lernentwicklung in den jeweiligen Phasen bzw. Ebenen.
Interessegenese und ihre Charakteristika (Wdh.)
(Quelle: Grotlüschen, Erneuerung der Interessetheorie, S. 290)
Trotz anderer Herangehensweisen zeigen sich zwischen den beiden Modellen deutliche Übereinstimmungen bezüglich der Wirkung von Interessensentwicklung.
Das betrifft einmal die Fähigkeit von Lernenden, sich selbständig mit Wissen zu befassen. Bei Hidi und Renninger erfolgt das vor allem in den Phasen 3 und 4, wenn sie schreiben, dass Lernende Wissen und Werte gespeichert haben und auch in der Lage sind, den Inhalt selbständig wieder aufzugreifen. (Siehe: Modell Hidi & Renninger weiter oben). Grotlüschen formuliert das unter anderem in ihrem Model in der Spalte „Kompetenz“ auf Ebene 3 so: „Die Person generiert Wissen über den Gegenstand aufgebaut.“ (Siehe: Modell Grotlüschen weiter oben). Auch die Fähigkeit, Fragen zur Weiterentwicklung formulieren zu können, scheint in beiden Modellen wichtig zu sein. Für Hidi und Renninger kann eine Person mit gut entwickelten individuellen Interessen selbstreguliert Fragen stellen und Antworten suchen („Self-regulates easily to refraim questions and seek answers“, siehe Modell Hidi & Renninger weiter oben). Bei Grotlüschen ist es ebenfalls ein Merkmal von Kompetenz: „kann Fragen formulieren“. Auch die Fähigkeit, Fachwissen gegenüber anderen Personen zu vertreten, wird von beiden als wichtig erachtet. Hidi und Renninger siedeln dieses Merkmal in Phase vier an: „Can persevere through frustration and challenge in order to meet goals“. Grotlüschen ordnet es der Spalte Kompetenz zu: „Das Interesse wird fachlich vertreten (Lobbying)“. Einen wichtigen Stellenwert nimmt in beiden Modellen auch die Bereitschaft zur Reflexion und kritischen Bewertung des Inhalts ein. Hidi und Renninger sehen Personen auf Phase vier als reflexionsbereit bezüglich des Inhalts an, weil sie in der Lage sind, Feedback zu schätzen und aktiv einzuholen. Für Grotlüschen ist das die Fähigkeit, eine„Positionen einer Kritik zu unterziehen“. Wichtig ist in beiden Modellen auch die Bereitschaft und Voraussetzung zum Engagement bzw. zu einer Beteiligung in einem bestimmten Bereich. Grotlüschen nennt es: „Emotionale und kognitive Beteiligung kumuliert im Involvement“ und „Soziale Beteiligung wird als Netzwerk berichtet“, Hidi und Renninger formulieren es als Erreichen der psychologischen Voraussetzung und nachhaltigen Bereitschaft zur Beteiligung in einem bestimmten Bereich.
Die Unterschiede und Wirkungen bei der Progression der Interesseentwicklung zeigten sich besonders gut zwischen den Stufen 3 und 4 im Modell von Hidi und Renninger:
Während nämlich die Lernenden (bzw. Lesenden) sowohl auf Stufe 3 als auch Stufe 4 gleichermaßen ein positives Gefühl haben und in der Lage sind, Wissen und Werte zu speichern und den Inhalt zu reflektieren, zeigen sie in anderen Bereichen deutliche Unterschiede: Auf der Stufe 3 sind sich Lernende noch nicht sicher, ob sie an einem Interessegebiet zu einem späteren Zeitpunkt weiterarbeiten werden. Zudem bleiben sie auf die eigenen Fragen fokussiert und sind fachlich noch nicht versiert genug, um bei Konfrontationen ihre Standpunkte behaupten zu können. Feedback macht sie daher unsicher und sie möchten es eher vermeiden.
Personen mit einer Interesseentwicklung auf Stufe vier sind sich dagegen sicher, dass sie ihr Interessegebiet später selbständig wieder aufgreifen werden. Sie sind fachlich bereits so sicher, dass sie fachspezifische Beiträge von anderen Personen anerkennen können und neue Fragen formulieren und Antworten darauf suchen. Bei Frustrationen und Herausforderungen können sie durchhalten, um ihre Ziele zu erreichen. Außerdem schätzen sie Feedback und holen es auch aktiv ein.
Interesse-Entwicklung in der Erwachsenenbildung, eine Investition für lebenslanges Lernen?
Für die Erwachsenenbildung bietet die Befassung mit Interesseentwicklung den Vorteil, dass dieser Lernansatz den Zielen des lebenslangen Lernens entspricht, indem laut Studien die Menschen sich langanhaltend, unabhängig und freiwillig mit Themen befassen und mehr Verständnis und vertieftes Wissen über das Thema erwerben.
Die Daten des Adult Education Survey (2016) unterstützen das Argument, dass ein interessegeleiteter Ansatz eine Hebelwirkung für die Teilnahme am lebensbegleitenden Lernen haben kann. Das Argument „Erweiterung von Wissen und Fertigkeiten in einem interessanten Gegenstand“ ist für alle Bildungsniveaus ein sehr wichtiger Grund zur Teilnahme an nicht-formaler Bildung: 75 Prozent der PflichtschulabsolventInnen geben dies an, ebenso rund 83 Prozent der LehrabsolventInnen, 88 Prozent der MaturantInnen und 91 Prozent der UniversitätsabsolventInnen (Statistik Austria: 2016/17).
Erwachsenenbildung setzt damit an den Potenzialen der Menschen an und nicht an ihren Defiziten. Dafür ist ein breites Erwachsenenbildungsangebot notwendig für das sich die Europäischen Schlüsselkompetenzen für das lebensbegleitende Lernen gut eignen. Eine interessegeleitete Erwachsenenbildung erfordert eine breites und ein offen und für alle zugängliches Angebot (vgl. Bisovsky: 2014).
Methodisch gesehen kann die Interessensentwicklung vielfältig unterstützt werden.
Ganz allgemein kann sie darin bestehen, dass Unterrichtende Lernenden dabei helfen, Verbindungen mit bereits vorhandenem Wissen herzustellen, auf inhaltliche Zusammenhänge aufmerksam zu werden und aktiv zu partizipieren, etwa durch den Aufbau bzw. die Nutzung von Netzwerken mit Wissens- und Bildungsorganisationen, z. B. Universitäten, Bücherein etc. Auch themenspezifische Klubs, Foren, Wissens-Netzwerke; Laien-ExpertInnen-Projekte z. B. zur Lokalgeschichte oder im naturwissenschaftlichen Bereich würden sich als zeitgemäße Fortführung der ehemaligen „Fachgruppen“ zur Interesse-Entwicklung eignen.
Eine wertvolle Ergänzung zum Angebot wäre auch der Aufbau einer Reflexions-Kultur im Sinne des „transformative Learning“ (vgl. Mezirow: 2000) bzw. ein biographietheoretischer Fokus, der in konfliktträchtigen Situationen wie zum Beispiel beim Übergang in den Ruhestand die Transformation von Erfahrungen und Handlungsstrukturen in produktive Lernsituationen und neue Wissensgebiete unterstützt (vgl. Müller: 2006).
Eine interessante Frage wäre auch, ob eine gezielte Interesseentwicklung beitragen könnte, Personen mit wenig Bildungserfahrung längerfristig für Bildung zu interessieren. Vielfach wandern Personen nach einem kurzen Andocken und einer begrenzten (Pflicht-)Teilnahme in der Erwachsenenbildung wieder ab, weil es für sie keine erkennbaren Vorteile zum Weiterlernen gibt. Zwar ist Weiterbildung oft auch deswegen unattraktiv, weil das „Mitkommen“ im Lernprozess durch die Komplexität des Fach-Stoffes oder die erforderliche Schriftkompetenz beim Mitschreiben zu schwierig ist, doch häufig fehlt auch einfach der Zugang und das Interesse am vorgeschlagenen Inhalt. Grotlüschen formuliert das so: „In jedem Kurs sitzt jemand mit höchstem Interesse und jemand mit äußerster Langeweile […] Hier sind sehr unterschiedliche Personen, Vorkenntnisse, Einbettungen und Lebenslagen zu erwarten, die ihrerseits für die Interessensintensität Relevanz haben“ (Grotlüschen: 2010, 172). Offene Zugänge zum Lernen und Förderung individueller Interessen könnten einen Beitrag zum Verbleib in den Einrichtungen bieten.
Die Interesseentwicklung könnte aber auch eine geeignete Maßnahme zur Verfolgung eines wichtigen gesellschaftspolitischen Ziels sein, nämlich die „Anschlussfähigkeit an weiterführende Bildung“, die im Rahmen der verpflichtenden Grundbildung gefordert wird. (Siehe: Planungsdokument der Bund-Länder-Initiative zur Förderung von Pflichtschule/Basisbildung für Erwachsene 2018–2021, Stand Mai 2019). Dazu müsste es gelingen, die Förderung von situationsbedingten Interessen gezielt als Hebel zum Übergang in individuelle Interessen einzusetzen und KursteilnehmerInnen zum freiwilligen, selbständigen und unabhängigem Befassen mit Wissen über den Kursbesuch hinaus zu motivieren.
Für die Erwachsenenbildung könnte das Thema Interesse-Entwicklung zudem den Vorteil haben, aktiv an einer praxisorientierten Forschung zu partizipieren, z. B. zur Umsetzbarkeit und Wirksamkeit von Modellen der Interesseentwicklung. //
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