Was beeinflusst die individuelle Weiterbildungsentscheidung?

Vor einigen Wochen ist der Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman im Alter von 90 Jahren gestorben. Viele kennen ihn vielleicht als Autor des Bestsellers „Schnelles Denken, langsames Denken“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Schnelles_Denken,_langsames_Denken), im Original „Thinking – Fast and Slow“. Die eine oder der andere hat das Buch mit seinen 617 Seiten vielleicht auch gelesen – das Original umfasst nur 499 Seiten.

Kahnemann hat im Jahr 2002 den Wirtschaftsnobelpreis erhalten, weil er „Einsichten aus der psychologischen Forschung in die wirtschaftswissenschaftliche Analyse integriert“, so die damalige Begründung des Nobelpreis-Komitees. Seine wichtigste Arbeit war sicherlich die zur Prospect Theory. Gemeinsam mit Amos Tversky veröffentlichte er 1979 den Beitrag „Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk“ (https://www.jstor.org/stable/1914185). Worum ging es dabei? Grob gesagt darum, dass Menschen nicht rational entscheiden, sondern in Risikosituationen stärker von drohenden Verlusten als von potenziellen Gewinnen beeinflusst werden. Sie unterliegen Vorurteilen, die ihr Urteilsvermögen beeinflussen können.

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https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-531-92870-8

Workplace Learning: Subjective Motives and Supervisor Support Matter

Die Nachricht vom Tod von Daniel Kahneman hat mich an meine Doktorarbeit zurückerinnert, denn die Arbeit von Daniel Kahneman und Amos Tversky war ein wichtiger Impulsgeber für meine Dissertation bei Klaus Schoemann, Christian Stamov Roßnagel und Rolf Becker an der Jacobs University Bremen (heute Constructor University) zu individuellen Weiterbildungsentscheidungen. 

Weiterbildungsentscheidungen sind nämlich häufig nicht rational, sonst müssten viel mehr Menschen regelmäßig an beruflicher Weiterbildung teilnehmen. Das Gegenteil ist der Fall: Diejenigen, die wahrscheinlich den größten Nutzen aus einer Weiterbildung ziehen könnten, nehmen am seltensten teil, obwohl sie mitunter die höchste finanzielle Förderung erhalten. Aber warum? Dieser Frage wollte ich in meiner wissenschaftlichen Arbeit nachgehen.

Teil 1 der Antwort: Kosten und Nutzen alleine erklären nicht die Weiterbildungsteilnahme

In einer völlig rationalen Welt würden sich Beschäftigte immer dann für die Teilnahme an einer beruflichen Weiterbildung entscheiden, wenn der erwartete Nutzen höher ausfällt als die Kosten:

E(Nutzen) > Kosten

Die direkten Kosten einer Weiterbildung lassen sich leicht beziffern, die Berechnung des Nutzens ist dagegen nicht einfach und manchmal auch nicht möglich. Vor allem, wenn der mögliche Nutzen einer Weiterbildung erst in der Zukunft entsteht. Doch aus der aktuellen BMBF-Studie „Weiterbildungsverhalten in Deutschland 2022“ wissen wir, dass rund dreiviertel der Befragten den derzeitigen und den zukünftigen Nutzen von Weiterbildung positiv bewerten. Für betriebliche Weiterbildung sind die Werte noch etwas höher. Was die Kosten betrifft, werden diese im Fall von betrieblicher Weiterbildung häufig vom Arbeitgeber getragen, ansonsten gibt es verschiedenste Fördermöglichkeiten. Ganz neu ist das Qualifizierungsgeld. Die direkten Kosten fallen also vergleichsweise gering aus, während der Nutzen von vielen Weiterbildungsteilnehmenden positiv betrachtet wird.

Teil 2 der Antwort: Es kommt auf das individuelle Investitionsrisiko an …

Doch die Welt ist nicht völlig rational, sonst würden viel mehr Beschäftigte an Weiterbildung teilnehmen. Zwei weitere Ideengeber für meine Dissertation, Richard Breen und John Goldthorpe, haben 1997 die Arbeit von David Kahneman und Amos Tversky aufgegriffen und darauf hingewiesen, dass Bildungsentscheidungen, neben den Kosten und dem Nutzen, den sich Personen von der Bildungsteilnahme versprechen, auch von der subjektiv empfundenen Wahrscheinlichkeit eines Bildungserfolgs abhängen. Entsprechend kann die Formel von oben erweitert werden:

E(Nutzen) > Kosten/p(Weiterbildungserfolg)

Der rechte Teil der Formel beschreibt das individuelle Investitionsrisiko. Je kleiner die subjektiv empfundene Wahrscheinlichkeit eines Bildungserfolgs (d. h. die Lernselbstwirksamkeit) ist, desto größer ist das Investitionsrisiko. Dieses ist unter Umständen so groß, dass es den erwarteten Nutzen übersteigt und es zu keiner Weiterbildungsentscheidung kommt. Deshalb muss alles dafür getan werden, die subjektiv empfundene Wahrscheinlichkeit eines Bildungserfolgs zu erhöhen. Dies kann beispielsweise durch Vorbilder unter Kolleginnen und Kollegen geschehen, durch eine Begleitung durch Weiterbildungsmentor*innen oder durch ausführliche Qualifizierungsgespräche mit den direkten Vorgesetzten. Ergo ist der soziale Kontext mitentscheidend, wenn es um die Steigerung der Weiterbildungsbeteiligung geht. Mehr dazu weiter unten.

Teil 3 der Antwort: … und die Bildungsmotivation

Ich bin fest davon überzeugt, dass fast jede und jeder weiterbildungsbereit ist, wenn sie oder er sich die Weiterbildung zutraut und der individuelle Nutzen die Kosten überwiegt. Es gibt aber noch eine andere Facette, die Bildungsentscheidungen mit beeinflussen kann, nämlich die Wahrscheinlichkeit eines sozialen Statusverlusts – und damit sind wir wieder bei Daniel Kahneman. Wie auch bei Hartmut Esser und seiner SEU-Theorie („subjective expected utility“): Während es bei Bildungsentscheidungen der Kinder darum geht, dass es ihnen später einmal nicht schlechter geht als einem selbst, geht es bei Weiterbildungsentscheidungen um die Wahrscheinlichkeit eines Statusverlusts im Vergleich zu den direkten Kolleginnen und Kollegen. Dies schließt die Anerkennung durch die Vorgesetzten und andere Personen, den Erhalt des Karrierestatus und der Beschäftigungsfähigkeit, mit ein. Die Überlegung dahinter: Qualifizierte Fachkräfte müssen sich stetig weiterbilden, um den sozialen Status zu erhalten. Für Un- und Angelernte gilt dies weniger, ebenso für ältere Beschäftigte in unmittelbarer Nähe zum Ruhestand. Insofern kann die Formel nochmals erweitert werden:

E(Nutzen) + p(Statusverlust) > Kosten/p(Weiterbildungserfolg)

Während der rechte Teil weiterhin das Investitionsrisiko beschreibt, umreißt der linke Teil die Bildungsmotivation. Diese ist umso größer, je mehr ein sozialer Statusverlust droht, wenn keine Weiterbildung erfolgt. In der Theorie dürften also qualifizierte Produktingenieure aus der Fahrzeugtechnik derzeit eine vergleichsweise hohe Bildungsmotivation haben und – aufgrund der Förderungen von Weiterbildung und ihrem Vertrauen in die eigene Weiterbildungsfähigkeit – obendrein ein geringes Investitionsrisiko. Anders sieht es beispielsweise bei Un- und Angelernten aus; diese verfügen über geringere Bildungserfahrungen, und diese sind nicht selten eher negativ. Sie haben ein geringeres Vertrauen in die eigenen Weiterbildungsfähigkeiten und den Weiterbildungserfolg, weshalb sie trotz geringer Weiterbildungskosten ein sehr großes subjektives Investitionsrisiko haben. Zugleich haben Sie aufgrund ihrer beruflichen Position und kaum vorhandener Aufstiegsmöglichkeiten auch eine sehr geringe Bildungsmotivation. Sie entscheiden sich also gegen eine Weiterbildung.

Ergebnisse der empirischen Analyse

Ich hatte das Glück, diese Annahmen im Rahmen des interdisziplinären demopass-Forschungsprojekts in den Jahren 2008 bis 2010 empirisch mit eigenen Daten aus Unternehmen der Bremer und der niedersächsischen Metall- und Elektroindustrie überprüfen zu können. Insgesamt konnten Daten von über 700 Beschäftigten ausgewertet werden. Mich hat damals für meine Promotionsarbeit interessiert, durch welche Faktoren die selbst empfundene Wichtigkeit von Weiterbildung, also nicht die Weiterbildungsteilnahme selbst, beeinflusst wird.

Kosten und Bildungshintergrund beeinflussen die Weiterbildungsentscheidung nicht

Die Ergebnisse waren zum Teil überraschend. Indirekte und direkte Kosten hatten keinen signifikanten Effekt. Ebenso gab es keine signifikanten Unterschiede je nach Bildungshintergrund. Beschäftigte mit höherem Bildungsabschluss unterschieden sich in ihrer Einschätzung der Wichtigkeit von Weiterbildung nicht von geringer qualifizierten Kolleginnen und Kollegen. Das steigende Alter hatte zwar einen signifikanten negativen Einfluss auf die selbst empfundene Wichtigkeit von Weiterbildung, der Effekt war aber sehr klein.

Die Lernselbstwirksamkeit als Dreh- und Angelpunkt

Bestätigt werden konnte die Annahme eines Einflusses des erwarteten Nutzens, der Wahrscheinlichkeit eines sozialen Statusverlusts und vor allem der subjektiv empfundenen Wahrscheinlichkeit eines Weiterbildungserfolgs (d. h. der Lernselbstwirksamkeit). Letzteres hatte zudem die größte Effektstärke, weshalb es sich lohnt, Maßnahmen zu ergreifen, um die Lernselbstwirksamkeit der Beschäftigten zu erhöhen. Dies vor allem wegen der Interaktionseffekte, die ich in meiner damaligen Analyse nachweisen konnte. So empfinden Beschäftigte mit geringem Bildungshintergrund (z. B. Un- und Angelernte) eine höhere Wichtigkeit für Weiterbildung als Beschäftigte mit einer Meister-/Technikerfortbildung oder einem Hochschulabschluss – vorausgesetzt, sie verfügen über eine hohe subjektiv empfundene Wahrscheinlicht eines Weiterbildungserfolgs. Wenn dies nicht der Fall ist, empfinden die Kolleginnen und Kollegen mit dem höheren Bildungsabschluss eine höhere Wichtigkeit von Weiterbildung. Ein vergleichbares Ergebnis zeigt die Interaktion zwischen dem Alter und der subjektiv empfundenen Wahrscheinlichkeit eines Weiterbildungserfolgs. Wenn diese vorhanden ist, empfinden ältere Beschäftigte eine Weiterbildung als genauso wichtig wie ihre jüngeren Kolleginnen und Kollegen.

Angst vor sozialem Statusverlust als Treiber der Weiterbildungsentscheidung?

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Der Einfluss der Wahrscheinlichkeit eines sozialen Statusverlusts war zwar signifikant, die Effektstärke jedoch klein. Unterschiede je nach Alter oder Bildungshintergrund konnten nicht gefunden werden. Es stellt sich aber die Frage, wie die Ergebnisse ausfallen würden, wenn man die Studie heute erneut durchführen würde. Die Daten für meine Dissertation wurden in den Jahren 2008 und 2009 durchgeführt. Gut möglich, dass sich angesichts der Transformation und des in vielen Unternehmen angekündigten Stellenabbaus die Einschätzung der Wahrscheinlichkeit eines sozialen Statusverlusts bei vielen verändert hat. Entsprechend höher würde die Bildungsmotivation ausfallen und die Wahrscheinlichkeit einer Weiterbildungsteilnahme steigen.

Direkte Vorgesetzte und Kolleg*innen haben den größten Einfluss

Zurück zum sozialen Kontext. Wenn die subjektiv empfundene Wahrscheinlichkeit eines – bzw. das Selbstvertrauen in den Weiterbildungserfolg – einen so großen Einfluss haben, wie lässt sich dies dann steigern? Menschen sind „Herdentiere“, sie folgen ihren Peers. Weiterbildungsentscheidungen werden im sozialen Kontext getroffen. Sie sind also davon abhängig, ob sich die direkten Kolleginnen und Kollegen weiterbilden oder nicht, oder ob sich die Vorgesetzen um einen kümmern bzw. regelmäßige Feedbackgespräche führen. Meine damalige Analyse zeigt wenig überraschend, dass Beschäftigte mit höherem Bildungshintergrund ein größeres Selbstvertrauen in den eigenen Weiterbildungserfolg (d. h. eine höhere Lernselbstwirksamkeit) besitzen. Aber: Ältere Beschäftigte verfügen über ein höheres Selbstvertrauen als ihre jüngeren Kolleginnen und Kollegen, wenn sie sich von ihren Vorgesetzten unterstützt fühlen. Selbiges war für Beschäftigte mit niedrigem Bildungshintergrund im Vergleich zu ihren höherqualifizierten Kolleginnen und Kollegen zu beobachten.

Rückschlüsse für die Betriebspraxis

Welche Rückschlüsse lassen sich nun aus den Ergebnissen ziehen? Zum einen sicherlich die Bedeutung der jährlichen Qualifizierungs- bzw. Mitarbeitendengespräche, die nicht „zwischen Tür und Angel“ geführt werden sollten. Vorgesetzte haben die Chance, die Lernselbstwirksamkeit bzw. die subjektiv empfundene Wahrscheinlichkeit eines Weiterbildungserfolgs der Mitarbeitenden zu erhöhen, in dem sie zuhören, sich einlassen und gemeinsam Pläne für die individuelle Weiterbildung erstellen und Weiterbildungserfahrungen reflektieren. Sie können ein positives Bild von Weiterbildung zeichnen und das Weiterbildungsklima im Team nachhaltig beeinflussen. Auch die Kolleginnen und Kollegen können die Lernselbstwirksamkeit erhöhen – entweder durch ihr Zutun als Lernbegleiter oder durch ihre bloße Weiterbildungsteilnahme. Tue Gutes und rede darüber – das sollten alle beherzigen, die an einer Weiterbildung teilgenommen haben. Das dient nicht nur dem Wissenstransfer, sondern zeigt auch allen, die bisher vor einer Weiterbildung zurückgeschreckt sind, dass die Maßnahme gar nicht so schlimm ist und auch von einem selbst bewältigt werden kann.

Das alles ist natürlich mit viel Aufwand verbunden, für den im Betriebsalltag häufig die Zeit fehlt. Aber vielleicht kann man mit kleinen Schritten dahin kommen, dass alle den Nutzen von Weiterbildung für sich erkennen und sich die Weiterbildung auch zutrauen. Dann ist schon viel gewonnen. //

1   Mit freundlicher Genehmigung des Autors entnommen aus: https://www.linkedin.com/posts/baron-stefan_kahneman-weiterbildung-activity-7191086933991653376-dIox?utm_source=share&utm_medium=member_desktop [10.5.2024].

Baron, Stefan (2024): Was beeinflusst die individuelle Weiterbildungsentscheidung? In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Frühjahr/Sommer 2024, Heft 282/75. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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