„Populismus“ ist eines der Modewörter des politischen Diskurses heute. Angesichts der Erfolge Trumps in den USA, Le Pens in Frankreich, Erdoğans in der Türkei, Orbáns in Ungarn und vieler anderer ähnlicher Personen, Bewegungen und Parteien scheint dies auch durchaus angemessen. Aber gleichen sich alle diese Bewegungen und Parteien, macht es Sinn und hilft dies weiter, sie alle als populistisch zu bezeichnen und gleich noch Nicolás Maduro in Venezuela oder auch Alexis Tsipras von der Bewegung Syriza in Griechenland und Pablo Iglesias Turrión von Podemos in Spanien hinzuzunehmen,1 wie es oft in Medien oder auch Fachpublikationen geschieht? (Z. B. bei Müller: 2016).
Oder sind gar alle, die den Prozess der europäischen Einigung neoliberal nennen und nicht gut heißen Populisten? Hört man auf den EU-Kommissionsvorsitzenden Jean Claude Juncker oder den EU-Ratsvorsitzenden Donald Tusk, könnte dieser Eindruck entstehen (vgl. dpa: 2017, a, b). Verwischt eine solche Gleichsetzung von Verschiedenem unter der Bezeichnung Populismus nicht die Fähigkeit, zu unterscheiden, und ist Populismus tatsächlich der richtige Begriff, um aktuelle Vorgänge der Politik zu verstehen, oder nicht vielmehr ein politisches Schimpfwort für ungeliebte politische GegnerInnen? (Vgl. Schandl: 2017).
Nach einigen Anmerkungen zum Phänomen des Populismus – vor dem Hintergrund der Wahlen in Frankreich 2017 und dem Verfassungsreferendum in der Türkei – fragt der Autor nach dem Beitrag der Erwachsenenbildung und der Politischen Bildung, um diesen verschiedenen Phänomenen, die sich in einem Raum der Krise der Demokratie zutragen (vgl. Lassnigg & Vater: 2016; vgl. Kloyber & Vater: 2010), entgegenzuwirken und sich Analysen zum Thema Populismus zu Nutze zu machen.
Wir leben in einer Zeit, in der der US-Präsident offen Frauen und Minderheiten beleidigt, die Verfassung der Vereinigten Staaten mit Füßen tritt (Prantl: 2017) und Groll und Hass sät (vgl. Butler nach Daumas: 2017, S. 4). Wir leben in einer Zeit des reaktionären, nostalgischen Populismus, getrieben von der Angst, die eigenen Privilegien zu verlieren (Soloveitchik: 2017, S. 5), meint die US-amerikanische Philosophin Judith Butler in einem Interview über Donald Trump; in einer Zeit der „negativen Renaissance“, wie der Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“, Heribert Prantl, in einer Festrede an der Universität Linz zum Thema Populismus anmerkte (Prantl: 2017). Aber wir sollten, so Prantl, nicht den Populismus fürchten, sondern das Phlegma und die Angst davor!
„Je suis la candidate du peuple!“ Was charakterisiert Populismus?
„Je suis la candidate du peuple!“ (Ich bin die Kandidatin des Volkes!), so Marine Le Pens Reaktion auf das Wahlergebnis des ersten Wahldurchgangs der Präsidentenwahlen in Frankreich, gehört im ORF Ö1-Morgenjournal vom 24. April 2017. Sie sei, so die Selbsteinschätzung von Marine Le Pen nach dem ersten Wahldurchgang in Frankreich, die Kandidatin des Volkes, ohne Wenn und Aber, auch wenn sie nicht gewählt wird. „Wir sind das Volk! Wer seid ihr?“, fragt Recep Tayyip Erdoğan (vgl. Martens: 2017) seine ihn im Rahmen der demokratischen Möglichkeiten kritisierenden GegnerInnen.
Solche Selbsteinschätzungen sind laut Jan-Werner Müller (Müller: 2016, S. 25 ff.) ein zentrales Merkmal von Populismus: ein Alleinanspruch, das Volk zu vertreten, ob gewählt oder nicht, verbunden mit der gleichzeitigen Ausgrenzung aller anderen als nicht relevant, selbstsüchtig, volksvergessen oder sogar als krank. In seiner gut lesbar geschriebenen Abhandlung „Was ist Populismus?“ (Müller: 2016) geht Jan-Werner Müller, Politikwissenschafter der Universität Princeton (USA), dieser Frage nach und versucht dabei den Begriff präziser zu fassen. Laut Müller charakterisieren den Populismus folgende Merkmale:
„Wir, das Volk“: Die Verwendung eines ausschließlichen „Wir“ – aller Österreicher oder Franzosen2 – wobei die Benutzung dieses „Wir“ keinerlei Legitimation und auch keinerlei Bestätigung durch Wahlen bedarf, da ja die schweigende Mehrheit immer für die Populisten sei (Müller: 2016, S. 25 ff., S. 19 f.).
„Das Volk will“: Es geht im Populismus3 nicht um die Interessen großer Volksmassen, ; die populistische Bewegung oder deren (charismatische) FührerIn erkennt und formuliert die eigentlichen Interessen des Volkes durchaus auch gegen dieses. Beispielsweise kann niemand ernsthaft behaupten, Trump würde die Interessen der weißen US-Arbeiter vertreten, die ihn gewählt haben.4 (vgl. Müller: 2016, S. 37 ff.)
Nicht diesem „Wir“ Zugehörige werden ausgegrenzt und beschimpft, verhöhnt et cetera (vgl. Müller: 2016, S. 42 f.)
Es wird eine Medienkonzentration angestrebt (oder existiert), alternative Medien werden angegriffen (Anti-Pluralismus). (Vgl. Müller: 2016, S. 19).
Bei aller möglichen Kritik5 an seiner Position trifft Müller Unterscheidungen und Abgrenzungen, die als wichtig erscheinen. Hinzugefügt werden sollten meiner Einschätzung nach zumindest zwei Charakteristika:
- Komplexität wird im populistischen Diskurs reduziert und es werden intuitiv plausibel erscheinende Schlüsse gezogen;
- Le Pen, Trump und andere europäische PopulistInnen vertreten oder betreiben eine Politik der Umverteilung von unten nach oben, die sozio-ökonomisch objektiv nicht diejenigen begünstigt, für die sie scheinbar Partei ergreifen (vgl. Anderson: 2017, S. 1 bzw. S. 10 f.).
Die Angst vor dem Wahlverhalten der „einfachen Leute“ oder „stop being poor!“
Die Reaktion der gesellschaftlichen Mitte oder der Eliten auf ein Wahlverhalten zugunsten rechter, populistischer Parteien oder auch nur zugunsten von Parteien, die gegen den Kurs der Eliten stehen, entbehrt nicht einer gewissen Undifferenziertheit, wenn die GegnerInnen der neoliberalen Architektur Europas in Bausch und Bogen als Populisten bezeichnet werden, wie auch die AfD oder Fidez (vgl. Anderson: 2017, S. 1 ff.; Prantl: 2017). Gleichzeitig wird eine Wut der Eliten auf die Massen, die offensichtlich falsch wählen6 spürbar, die auch historisch nicht ohne Vorläufer ist (vgl. Nagle: 2017, S. 3). So beispielsweise in Kampagnen wie „stop being poor!“ der Rechtsaußen-US-Republikaner, die moralisierend betonen, Armut sei selbstverantwortet, oder auch in manchen Stellungnahmen und Interviews nach den Wahlen, wo primär die Dummheit der wählenden Massen betont wurde. Dummheit, Faulheit oder eine labile Psyche seien die Ursachen dafür, dass die Menschen nicht die Parteien wählen, die für Europa, den gemäßigten Kapitalismus der Demokraten oder der französischen Sozialisten stehen (vgl. Nagle 2017, S. 3), und Faulheit und Dummheit wären gleichzeitig der Grund für Armut oder auch dafür, nicht Teil der Elite zu sein.
Emmanuel Macron stellt sich auf eine gemäßigtere Art in diese Tradition, wenn er arbeitslosen Kritikern empfiehlt, doch arbeiten zu gehen („La meilleure façon de se payer un costard c’est de travailler“7; gleichzeitig reiht er sich mutig in die Tradition des dritten Weges eines Blair und oder Schröder ein, wie betonte ein Sympatisant in einem ORF-Interview nach dem ersten Wahldurchgang betonte. Im eigentlichen Sinne eine gefährliche Drohung für alle, die arbeiten, stehen doch Schröder und Blair für massiven Sozialabbau, Flexibilisierung und für eine Abkoppelung von Interessen, die eigentlich für klassisch sozialdemokratische gehalten wurden (vgl. Anderson: 2017; Hall: 2011).
Perry Anderson verweist in einem Beitrag in „Le Monde Diplomatique“ auf andere Erklärungsmuster für die Abkehr der WählerInnen von den einstigen Volksparteien, die für Europa, für den scheinbaren gesellschaftlichen Konsens und den Sozialstaat standen: etwa den seit den 1970er-Jahren andauernden Sozialabbau, der, so scheint es, strukturell mit der europäischen Einigung und auch mit dem dritten Weg verbunden ist, der Logik der ökonomischen Zwangslagen (Stichwort: „Wirtschaftsstandort“). Er verweist auf die realen Lohnverluste für viele Menschen und auf die Tatsache, dass es auch in Europa zunehmend Menschen gibt, die im eigentlichen Sinne nur mehr wenig zu verlieren zu haben glauben, und insoferne bereit sind, radikale Alternativen zu wählen, die derzeit in Europa nur die rechten und neofaschistischen und populistischen Parteien anbieten würden (vgl. Anderson: 2017, S. 10).
Ebenso deutlich verweist Anderson auf die Tatsache einer unheimlichen Übereinstimmung der realen Institutionenarchitektur Europas mit den Ideen einer Entkopplung von Wirtschaft und Demokratie und der Beteiligung der BürgerInnen, wie dies Friedrich A. Hayek vertrat, der ja bekanntermaßen nicht nur ein radikaler Antidemokrat war und dies auch selber niederschrieb (vgl. Hayek 2003), sondern auch eine aktive, unterstützende Sympathie für Diktaturen wie dem mörderischen Regime Pinochets hegte und auslebte (vgl. Plehwe & Walpen: 1999).
Die europäische Institutionenarchitektur weist deutliche Defizite bezüglich parlamentarischen Einflusses und demokratischer Kontrolle auf, bei gleichzeitigen Versuchen, die neoliberale Wirtschaftspolitik als unveränderbar darzustellen (in Verfassungsrang) mit Schuldenbremsen und strikter Austerität zu verankern (vgl. Anderson: 2017, S. 1). Europa hat laut Anderson eine eindeutig neoliberale Agenda (vgl. Anderson: 2017).8 In einer Situation, in der rechte und linke Eliten die gesellschaftliche Form als unveränderlich im Sinne Margaret Thatchers darlegen („There is no alternative!“; vgl. Hall: 2011; Anderson: 2017), erscheint die radikale Alternative eines Ausstiegs (Ende Europas, Ausschluss Griechenlands, Ende der Austerität und Währungsunion, et cetera) für viele verzweifelte WählerInnen besser, als gar keine veränderbare Zukunft mehr zu haben (Prantl: 2017). Von Seiten der linken und moderaten Kräfte fehlt derzeit eine Alternative oder auch nur eine Entwicklungsperspektive gegenüber noch mehr Sparen, noch mehr Austerität, noch mehr vom gleichen Europa fast völlig. Europa verwehrt seinen BürgerInnen eine gestaltbare Zukunft und es „hat seine BürgerInnen nicht vor einem zügellosen Kapitalismus geschützt, sondern sie ihm ausgeliefert!“ (Prantl: 2017).
Was sind die Aufgaben der Erwachsenenbildung? Ein Plädoyer
Ausgehend von den gesammelten Charakteristika des Populismus ergeben sich eine Reihe von Aufgaben für die Erwachsenenbildung, die teils mit grundlegenden Selbstdefinitionen der Erwachsenenbildung übereinstimmen,9 teils eng mit kritischer oder emanzipatorischer Erwachsenenbildung verbunden sind (vgl. Vater: 2015). Dass diese heutzutage von angepassteren Formen von Bildung verdrängt wird, steht auf einem anderen Blatt. Wobei nicht gesagt ist, dass Bildung alleine der Weg wäre, um alle Probleme der Gesellschaft durch einen gleichwertigeren Wettbewerb und bessere Chancen für alle zu beseitigen – dazu braucht es Politik und demokratische Gestaltung.
Dennoch sind die Prinzipien der einer gemeinnützigen, aufklärungsorientierten oder in der Tradition der ArbeiterInnenbildung stehenden Erwachsenenbildung eigentlich nichts anderes als die Prinzipien der (aufgeklärten) Kritikfähigkeit,10 die jedwedem Populismus entgegenwirken. Erwachsenenbildung dieser Art bildet die Kompetenz, sich eine eigene Meinung zu bilden und Verkürzungen und Schnellschlüssen zu misstrauen. Es ist die Infragestellung von Gewohntem, die Infragestellung der Brauchbarkeit von Wissen und Bildung und deren Angemessenheit, zugunsten einer Reflexions- und Lösungsermächtigung, die gegen Populismus gefordert ist.
Das bedeutet eine Praxis, die Wissen – in Bildern gesprochen – nicht als Naturrohstoff versteht, der geschürft und von Experten vermittelt wird, die alles wissen und zumeist Männer sind, sondern eine Praxis, die von Ansätzen ausgeht, die Bildung und Wissen als Arbeitsfeld sehen, als demokratisch zu bestimmendes Arbeitsfeld, das durch Demokratie-Lernen – im Sinne von Auseinandersetzung und Mitbestimmung – bestimmt ist, und nicht durch scheinbare Naturnotwendigkeiten, Volksinteressen oder Sachzwänge. Das erfordert eine lebendige, problemzentrierte Auseinandersetzung mit der Welt und der eigenen Umwelt, eine Ermächtigung zu ihrer Veränderung (vgl. Hooks: 1994, S. 14). Diese problemzentrierte Bildung meint eine Erwachsenenbildung, die Position bezieht, die Fragen der Globalisierung und Ungleichheit miteinbezieht, die an den persönlichen Erfahrungen der sich Bildenden ansetzt und von dort zur gemeinsamen Analyse und Interpretation der sozialen Welt weitergeht, um ein kritisches Bewusstsein zu schaffen. Bildung wird bei Hooks und Freire verstanden als maßlos, d.h. nicht hinreichend messbar und prognostizierbar (vgl. Vater: 2015). Pädagogik wird als engagiert und einen Standpunkt beziehend definiert. Sie ist eine kollektive Praxis, die Freiheit zum Ziel hat (vgl. Filla: 2001), wobei wohlgemerkt die Freiheit aller sich Bildenden gemeint ist. Sie ist verbunden mit dem Wunsch und dem Verlangen, auch Dinge zu verändern und nicht in einer „There is no Alternative“-Welt zu leben. Sie ist ein Prozess der unerzwungenen Neuordnung der Wünsche (vgl. Spivak: 2006, S. 41).
Und sie fördert und fordert Partizipation, die mehr ist als unverbindliche Beratung für die Politik, mehr als eine partizipative Beschäftigungstherapie ohne Effekte; sie ermöglicht Demokratie im Üben von Auseinandersetzung, Streit und Konsensfindung, in der Sensibilisierung für Grundprinzipien der Demokratie wie Gewaltenteilung, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Freiheit der Meinungsäußerung.
Sie steht für Differenzierung, Komplexität und Pluralismus, auch medialen – mehr als die tägliche Wiederholung von Nichtssagendem, Ausgrenzendem oder den Befindlichkeiten der jeweiligen HerausgeberInnen, wie Gratiszeitungen dies oft unter Beweis stellen. Diese Bildung steht gegen Ausgrenzung, für Bescheidenheit in der Erkenntnis der eigenen Grenzen und sie wirkt gegen die Angst, zumal sie auch nicht aus der Angst zurückzubleiben und unzureichend zu sein entsteht (vgl. weiterführend Vater: 2015). //
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