Katja Riemann: Zeit der Zäune. Orte der Flucht.

Katja Riemann: Zeit der Zäune. Orte der Flucht.
Frankfurt am Main: S. Fischer 2024, 447 Seiten.

Auf meinen Reisen habe ich nie Flüchtlinge, sondern immer nur Persönlichkeiten getroffen, erklärt Katja Riemann. Die Autorin, Filmschauspielerin, UNICEF-Botschafterin hat schon viele Orte, wo Flüchtlinge leben, besucht. Diese Orte nennt sie „Schmerzpunkte der Welt“. Gegen die Bilderflut, die nur wenige bleibende Eindrücke hinterlässt, setzt sie die „langsamen“ Worte ein. Mit ihrem Buch will sie persönliche Bezüge und Aufmerksamkeit für die Lage Geflüchteter herstellen. Laut aktueller Statistik befinden sich derzeit etwa 122 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht.

Als erstes beschreibt Katja Riemann ihren Aufenthalt im Flüchtlingscamp Moria auf der griechischen Insel Lesbos im August 2020. Im Monat darauf ist das ganze Lager abgebrannt.1

In dem Lager, für knapp 3000 Menschen geplant, lebten damals etwa 20.000 Geflüchtete. Von den ersten Kontakten an erleben wir mit Katja Riemann, wie sie Beziehungen zu den Menschen und ihren Tätigkeiten aufnimmt. Sie teilt ihre Eindrücke mit Leserin und Leser: die Überfüllung des Lagers, übelriechende sanitäre Anlagen, Bedingungen des Wohnens in den Zelten, eine Schule, die geflüchtete Afghanen aufgebaut haben, die Gastfreundschaft der Bewohner*innen. Sie berichtet von den Bäckern, die in ihren Öfen, es handelt sich um in das Geröll hineingeschlagene Löcher, frisches Brot backen. Katja Riemann spürt (S. 15): „Hier wird versucht, zu überleben und irgendwie Würde zu behalten. Oder Vertrautes beizubehalten. Ein frisches Brot, wie man es von zu Hause kennt, kann dazu beitragen.“ 

Als Frau findet die Autorin bei diesen und anderen „Orten der Flucht“ leichter als ihre männlichen Kollegen Zugang zu den Anliegen weiblicher Geflüchteter. Frauen, meist mit Kindern und ohne Männer, und weibliche Jugendliche öffnen sich mit ihren aktuellen Nöten, schildern ihre Gründe für Flucht sowie ihre schlimmen Erfahrungen auf den Fluchtwegen. Katja Riemann versteht es, in wenigen Zeilen die verschiedenen Schicksale nahe zu bringen. Z. B. von zwei jungen Frauen aus Afghanistan, mit Universitätsabschluss in Finanz- und Rechnungswesen. Nach der Machtergreifung der Taliban sind sie geflüchtet. Ihre Interimszeit in Moria versuchen sie positiv zu nutzen. Sie hoffen, in einem westlichen Land aufgenommen zu werden. Werden sie woanders ankommen, fragt sich die Autorin?

Katja Riemann ist keineswegs nur eine distanzierte Beobachterin. Gut vernetzt mit örtlichen und internationalen Hilfsorganisationen versucht sie auch unmittelbare, spontane Hilfe anzubieten. Dadurch gibt das Buch viel Einblick, besonders in den Kampf von Frauen um Anerkennung, um eigenständige Lebensführung, um Entfaltung ihres individuellen und kollektiven Potenzials. Ein Einblick, der wahrscheinlich männlichen Berichterstattern verschlossen bleibt.

Eine andere Reise führt, durch Gebiete des „Islamischen Staat“ hindurch, zu einem Fluchtort von Jesidinnen in den Irak. Genauer in die autonome „Kurdistan Region Irak“. Katja Riemann berichtet von traumatisierten Frauen, von ihrer Geschichte und ihren Hoffnungen. Da es für die notwendige professionelle Hilfe an Fachkräften fehlte, wurde mit internationaler Hilfe vor wenigen Jahren an der nahen Universität Dohuk ein im Nahen Osten bislang einzigartiger Studiengang eingerichtet. Nach deutschem Vorbild entstand ein Masterstudiengang für Traumatologie, eine Basis für die Ausbildung von Psychotherapeuten*innen und Psychotraumatologen*innen. 

„Den berühmtesten Flüchtling der Welt“, den Dalai Lama, zitiert die Autorin (S. 327): „Bildung ist der Schlüssel zur Schaffung einer egalitären Welt.“ Viele Tibeter*innen darunter viele Kinder ohne Eltern, seit der Besetzung ihres Landes durch China auf der Flucht, haben sich nahe Daressalam, im Norden Indiens, angesiedelt. Ein Fluchtort, wo die Kinder ihre Landessprache lernen können. Denn Tibetisch zu sprechen, ist in Tibet von den chinesischen Behörden bei Strafe verboten. 

Besonderes Thema für die Autorin sind die Zäune um die spanischen Enklaven Melilla und Ceuta, also in Nordafrika auf europäischem Hoheitsgebiet. Diese zu betreten, soll Flüchtlinge durch acht Meter hohe Zäune, Stacheldraht mit Metallklingen und elektrisch geladen, verwehrt werden. Immer neue Versuche werden trotz schwerer Verletzungen, Todesgefahr und Abwehrmaßnahmen der Polizei riskiert. 

Katja Riemann legt offen, wieviel Gewalt und Verzweiflung an den Außengrenzen der Europäischen Union herrscht.

Eingebettet in das Buch finden sich Schlüsselbegriffe der Flucht, dargestellt und erläutert mit Interviews zwischen der Autorin, einschlägigen Expert*innen und Praktiker*innen in der Betreuung. Zum Vokabular gehören u. a.: Gewalt, Asyl, Trauma Aufenthalt. Rechtliche Grundlagen und aktuelle internationale Ergebnisse der Forschung werden lesefreundlich vorgestellt. 

In ihr Buch hat Katja Riemann ihr Lachen und Weinen, ihre Sorgen und Freude, ihre emotionalen und sachlichen Wahrnehmungen verwoben. Sie hat viel Hoffnungsvolles hineingeschrieben – Lesen wird zu einer emotionalen Reise. Eine Frage drängt sich auf: Welches und wieviel kreatives, humanes Potenzial wird an den Grenzen Europas teils gewaltsam festgehalten?

Das Buch schafft einen Zugang für alle, die wissen wollen, wie es sich an den geographischen Rändern unserer europäischen Gesellschaften lebt – und die überlegen wollen, ob das so bleiben soll und kann. //

1   Siehe: https://digital.wienbibliothek.at/wbrup/content/titleinfo/531957

Lenz, Werner (2025): Katja Riemann: Zeit der Zäune. Orte der Flucht. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Frühjahr 2025, Heft 284/76. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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