„The Invention of Nature“ lautet der Titel im Original. Das lateinische Wort „invenire“ (erfinden, erfahren, entdecken) beinhaltet „ire“ (gehen). Dieser semantische Hintergrund charakterisiert deutlich die Tätigkeit des nach Napoleon bekanntesten Mannes seiner Zeit, den Naturforscher Alexander von Humboldt (1769–1859). Zeitgenossen bezeichneten ihn als unruhig, sprunghaft, immer unterwegs, getrieben von Ideen und Absichten, die er gar nicht alle umsetzen konnte. Seit seinem dritten Lebensjahrzehnt, die Autorin spricht von den Zeiten der Anfänge und des Aufbruchs, reiste er viel. Zunächst als Bergassessor, dann ab 1796, nach dem Tod seiner Mutter durch die Erbschaft reich und unabhängig geworden, erkundete er Europa. Er besuchte die verschiedensten Stätten der Gelehrsamkeit in der Überzeugung, es gebe keinen einzelnen Menschen, der ihn alles lehren könnte (S. 66).
Mit Zustimmung der spanischen Krone bereiste er von 1799 bis 1804 Südamerika. Er kletterte in Vulkane, bestieg schneebedeckte Berge, befuhr Ströme, entkam Krokodilen, Schlangen und Leoparden, aber nicht den Moskitos. Er erforschte Fauna und Flora des Regenwaldes. Er beschrieb, sammelte und zeichnete Pflanzen und Tiere, teilte die Lebensformen der indigenen Bevölkerung und schuf das Bild der Natur in Form eines „Naturgemäldes“. Darin hängt alles mit allem zusammen. Humboldt gilt als Schöpfer eines Verständnisses von Natur, das sich heute im Begriff Ökologie, einer Gesamtsicht, die die Wechselwirkungen zwischen den Lebewesen und der Umwelt berücksichtigt, findet.
Alexander von Humboldt vermittelte auch Wissen. Er war lehrender Forscher, Schriftsteller, Vortragender, wissenschaftlicher Weiterbildner! Als Aufklärer verbreitete er seine Erkenntnisse und Erfahrungen durch Bücher, Zeichnungen, Fundstücke, Vorträge, durch Teilnahme an Gesellschaften in Salons – auf diese Weise erreichte er alle Bevölkerungsschichten.
Alexander von Humboldt war offensichtlich der bekannteste Wissenschaftler seiner Zeit. Orte, Berge, Gewässer, sogar eine Mondlandschaft wurde nach ihm benannt. Mit den wichtigsten politischen Persönlichkeiten seiner Zeit war er in Kontakt. Bis zu 3000 Briefe erhielt er jährlich, etwa 2500 schrieb er selbst pro Jahr. Zeit seines Lebens war er auch Förderer junger männlicher Talente. Mit seiner Strahlkraft vermittelte er ein von Ihm „erfundenes“ Bild von Natur, das den Menschen mit dieser in Beziehung setzte – nicht als Beherrscher, sondern als möglicher Gestalter von Lebensbedingungen. Die Natur – ein Reich der Freiheit – zu erkunden sowie Wissen und Erkennen zu ermöglichen, bezeichnete er als Freude und Berechtigung der Menschheit.
Die Autorin, die Historikerin und Journalistin Andrea Wulf, in Indien, Deutschland und Großbritannien sozialisiert, hat sich auf die Spuren Alexander von Humboldts begeben. Als Quellen nutzte sie u. a. Briefe, Bücher, Zeitungsberichte aber auch die Reisewege Humboldts. Einigen davon ging sie nach, um auch mögliche Gefühlsstimmungen ihres Protagonisten erleben zu können. Denn sie wollte dem Naturforscher gerecht werden, dem eine Verbindung zwischen Wissenschaft und Abenteuer, zwischen Intellekt und Emotionen gelungen ist. Dadurch erhalten wir einen Einblick in die historische Entwicklung von Naturwissenschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wir erfahren viel über die Bedeutung aristokratischer Geldgeber und Mäzene, über die Demokratisierung von Wissen und seine Vermittlung, über die Bedingungen und Kriterien wissenschaftliche Erkenntnisse hervorzubringen und an ihnen teilzuhaben. Nicht zuletzt schildert das Buch sehr lebensnah den persönlichen Einsatz und das Engagement Alexander von Humboldts, um Wissen, das keineswegs immer den Herrschenden diente zu schaffen und eine eigenständige, aufklärerische ebenfalls nicht herrschaftskonforme, gesellschaftspolitische Position zu vertreten.
Die Autorin gliedert ihr Buch mit der Intention, Alexander von Humboldt wieder zu entdecken, in fünf Teile. Der erste Teil, „Aufbruch: Erste Ideen“, schildert Alexander von Humboldts Heranwachsen, Studium, berufliche Entwicklung sowie seinen Kontakt mit ihn beeinflussenden Personen. Zu diesen gehörte in besonderer Weise Wolfgang von Goethe. Im zweiten Teil, „Ankunft: Sammlung der Ideen“, begleiten wir Humboldt auf seiner Reise durch Südamerika. Hier wird der Forscher auch als Politikberater im modernen Sinne vorgestellt. Er informierte Thomas Jefferson, den dritten Präsidenten der Vereinigten Staaten über Lebenssituationen, geographische oder ökonomische Grundlagen in dem damals wenig bekannten benachbarten Mexiko. Simón Bolivar, Kämpfer gegen die spanische Kolonialherrschaft, fand durch Gespräche mit Humboldt sowie durch dessen Naturbeschreibungen zur Identifikation mit Südamerika. Dies und Humboldts Aktivitäten in Paris und Berlin sind Thema des dritten Teils „Rückkehr: Sichtung der Ideen“. Kapitel vier, „Einfluss: Verbreitung der Ideen“, umfasst Humboldts Reise durch Russland von Mai bis November 1829. Sie führte ihn von Sankt Petersburg bis an die Grenzen Chinas und der Mongolei. Schon ab 1827 agierte Alexander von Humboldt als Kammerherr im Dienste des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. Als liberaler Wissenschafter im Solde des restaurativen Establishments registrierte Humboldt die politische Ablehnung aller demokratischen Entwicklungen. Dem politisch kalt gestellten Bürgertum galt „Bildung“ als Trostpflaster anstelle politischer Partizipation. Alexander von Humboldt bewahrte sein liberales Denken. Er setzte auf Wissen, denn: „Mit dem Wissen kommt das Denken, schrieb er, und mit dem Denken die Kraft“ (S. 246). Seine an der Berliner Universität und an der Berliner Singakademie gehaltenen Vorträge waren „Straßenfeger“ und eine besondere Gelegenheit für Frauen, sich zu bilden.
Alexander von Humboldts Wirkung und Nachwirkung, z. B. auf Charles Darwin, Henry Thoreau auf Ernst Haeckel oder auf den Umweltschutz in Nordamerika behandelt die Autorin im letzten Kapitel „Neue Welten: Entwicklung der Ideen“.
Die Natur als „lebendiges Ganzes“ stellte Alexander von Humboldt in seinem fünfbändigen Werk „Kosmos“ dar. 1845 erschien der erste Band, sofort ein Bestseller. An der Fertigstellung arbeitete Humboldt bis zu seinem Tod mit 89 Jahren. Eine aktuelle Fassung des kompletten „Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung“ erschien 2004 im Rahmen der von Hans Magnus Enzensberger edierten „ Anderen Bibliothek“.
Andrea Wulf würdigt Alexander von Humboldt als engagierten Wissenschafter, der ein Verständnis von Natur entwarf, in die der Mensch eingebettet ist und die er mitgestaltet. Sie würdigt ihn als Schriftsteller und Vortragenden, der ein neues Weltbild vorstellte. Alexander von Humboldt wird als aufklärende Persönlichkeit beschrieben, die Wissen schuf und es weiter gab. Er stellte Erkenntnisse, Einsichten und Erfahrungen zur Verfügung, aber überließ es der Eigenverantwortung seiner Mitmenschen, dieses neue Wissen zu bewerten, zu beurteilen sowie es in und für ihr eigenes Leben zu integrieren. //
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