1.
Humanität ist mehr als Menschlichkeit, ein philosophisch-moralisches Konstrukt, das normativ dahintersteht. Der Topos vom „humanen Menschenbild“ lässt vermuten, dass es auch ein „inhumanes Menschenbild“ gibt, was ja der Realität entspricht, sofern mit „human“ gute Werte verbunden sind. Homo homini lupus – der Mensch hat seine schlechten Seiten, vielleicht mehr als gute. Humanität ist also nicht per se „gut“, sondern im gesellschaftlichen Konsens normativ als gut aufgeladen. Was aber ist das Gute? Wertschätzung des Anderen, moralische Grundhaltung, Solidarität, Gewaltfreiheit? Oder Anderes? Wir fragen danach, warum Humanisierung durch Bildung und Humanisierung der Bildung gerade heute immer wichtiger werden. Und warum Bildung ihre Aufgabe nur erfüllen kann, wenn sie ihre Rolle bei der Humanisierung der Gesellschaft nur verwirklichen kann, wenn sie sich reflexiv selbst humanisiert.
Die erziehungswissenschaftliche Sichtweise schaut mehr auf den Prozess, wie Humanität erzeugt wird und wie dazu beigetragen werden kann, dass es die „gute“ Humanität ist. Dieser Prozess ist Teil des Lernens, des Lernprozesses der Menschen. Menschen humanisieren sich im Lernen, sofern es die Lernprozesse darauf anlegen und dazu geeignet sind. Lehre kann dazu beitragen. Humanisierung als Prozess des didaktischen Handelns und des Lernens hat Humanität als Ziel und als Voraussetzung. Als Voraussetzung, weil ohne sie keine humanisierenden Lehr-Lernprozesse entstehen. Als Ziel, weil sie in einer humanen Gesellschaft Ziel allen Lernens ist.
Aber, und hier liegt die eigentliche Aufgabe, das Verständnis von der Humanität, die Werte der Humanität entstehen selbst erst im Prozess. Sie sind Teil eines intersubjektiven Aushandlungsprozesses, der von den Beteiligten vereinbart wird. Die Ethnologen wissen heute ein Lied davon zu singen: Die Idee von Humanität der westlichen Gesellschaften auf indigene Gesellschaften normativ zu übertragen ist nicht human, sondern inhuman. Es fehlt der Kern von Humanität: die gemeinsame Akzeptanz der damit verbundenen Werte. Dies zu erreichen ist genuine Aufgabe von Bildung, und ist ergebnisoffen, oder sollte es sein.
Bildung, besonders jedoch Erwachsenenbildung ist dagegen zu oft inhaltlich gefesselt, insbesondere durch ihre zunehmende Instrumentalisierung für Qualifikationen, die wie eine Zwangsjacke ihr kulturelles Potenzial bändigt. Das heutige Wort für Bildung heißt „Schlüsselkompetenzen“.
Wir leben in Zeiten des Wandels, des permanenten und immer schnelleren Umbruchs. Auch ohne empirische Analysen kann das gesehen werden an den Begriffen für die Gesellschaft, die atemlos erfunden und schnell wieder vergessen werden: moderne Industriegesellschaft, Postmoderne, Informations-, Risiko-, Erlebnis-, Wissens- und andere Gesellschaften. Es sind Versuche, den Kern einer sich herausbildenden neuen Gesellschaftsordnung zu bestimmen, Zukunftsperspektiven zu formulieren, die Konturen des Kommenden zu erkennen. Jedoch: die Arbeit an diesen Perspektiven ist verschüttet von den Krisen, die sich – von humanen Wesen selbst gemacht – in immer rascherer Folge ablösen und überlappen. Gesundheit (Pandemie), Klima (Erwärmung), Müll (Plastik), Wasser (Dürre), Ökonomie (Wirtschaftskrise), Migration – wie Dämonen dringen sie in die Diskurse und das Verständnis von Welt ein.
2.
Und ein anderer schrecklicher Dämon ist uns aktuell ganz nahegekommen: der Krieg. Der Einfall der Russen in ein kleineres, schwächeres Nachbarland, die Ukraine, erfolgte gewissermaßen vor unserer Haustür. Mord, Vertreibung, Flucht, Schreckensbilder aus zerbombten Städten, von hungernden Menschen, verwundeten Kindern, von Toten brennen sich bei uns ein. Die in Gewalt und Schrecken materialisierte Inhumanität kommt immer näher. Es ist eine schwere Bürde an grundlegenden Problemen und Bedrohungen, die uns alle betreffen, in Deutschland, in Europa, weltweit. Es ist die Entfernung zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen, die uns Angst macht. Das Individuum scheint an seine Grenzen zu kommen – gegen die globalen Probleme kann es wenig oder nichts tun, auch wenn sie individuell wirken, ja vielfach ist es kaum möglich, die Ursachen und Dimensionen dieser Probleme auch nur zu verstehen.
Der Angriff Russlands auf die Ukraine betrifft unendlich viele Facetten von Bildung. Jede von ihnen trägt alles in sich, was Bildung ausmacht: Wissen, Verstehen, Gefühl, Moral, Ethik und Handlung. Jede von ihnen ist ein Aspekt von Humanität. Schon allein auf der Wissensebene stellt uns die Invasion Russlands vor einige Herausforderungen. Fragen des Völkerrechts und des Menschenrechts sind betroffen. Die Sanktionen der „westlichen“ Staaten verlangen nach einem Verständnis von wirtschaftlichen, von internationalen Zusammenhängen. Die kriegerischen Auseinandersetzungen bedürfen militärischer, logistischer und geographischer Interpretationen. Die Rolle von EU, NATO, UNO, ihre jeweiligen internen Prozesse, sind von hoher Komplexität politischen Handelns. Die Frage der Gefahr eines Dritten Weltkrieges schließlich erfordert eine permanente Bewertung der Handlungen und Worte der wichtigsten Akteure.
Dies sind jedoch nur einige der Felder, in denen Wissen und Verstehen gefragt sind. Es geht auch um die Ukraine selbst, ihre Geschichte und ihr Verhältnis zu Russland, um Kiew, das schon eine Metropole war, als Moskau sich erst aus einer Kleinstadt entwickelte. Um die Sprache und Kultur der Ukrainer. Um die Annexion der Krim durch Russland vor acht Jahren, die ebenso lange andauernden kriegerischen Geschehnisse im Donbass. Um politische Gruppierungen innerhalb der Ukraine. Um ihre Minderheiten und ihren Umgang mit ihnen. Es geht um die russische Propaganda-Maschinerie, die einer Gehirnwäsche gleich einem Millionenvolk einen Angriffskrieg als militärische Spezialoperation zum Schutze russischer Mitbürger und MitbürgerInnen verkauft. Und schließlich geht es um Psychologie, das Weltbild des Aggressors, sein Umfeld (die „Oligarchen“), seine Ziele und Visionen.
Die Welle der Flüchtlinge erfordert unsere Hilfsbereitschaft, unsere Humanität, ebenso wie die Not der Menschen, die weiterhin in der Ukraine leben und kämpfen. Die Auswirkungen des Krieges auf unsere eigene Ökonomie, unser Alltagsleben, bedürfen eines Verständnisses der Zusammenhänge. Und schließlich stellt sich uns täglich die brennende Frage, ob die von uns gewählten politischen Repräsentanten richtig handeln, verantwortlich, mit vorausschauendem und humanem Blick.
Es ist kaum vorstellbar, dass einzelne Individuen über ausreichende Informationen, über ein ausreichendes Wissen zu all diesen Aspekten verfügen. Zu Politik, Wirtschaft, Militär, Versorgung, Hilfe hören und sehen wir Worte und Bilder. Ist all dem zu vertrauen? Russinnen und Russen, die im Westen leben und hauptsächlich das russische Staatsfernsehen konsumierten, beginnen an dessen Vertrauenswürdigkeit zu zweifeln. Aber dieser Zweifel erstreckt sich – konsequenterweise – auch auf die westlichen Medien. Wenn es möglich ist, in dem einen Medium ein so konsequent durchstrukturiertes Lügengerüst aufzubauen, ist es dies auch in einem anderen Medium. Da ist doch der direkten Kommunikation zu trauen, mit Menschen, die man kennt. Damit sind wir wieder beim Entstehen der vielen virtuellen Welten, in denen Fakten aller Art herumschwirren und kaum zu prüfen sind, im schlimmsten Falle in „Blasen“, die nach außen weitgehend abgeschottet sind. Nur Transparenz ermöglicht es, eigene Meinungen zu bilden, den Weg der Humanität zu gehen, nicht Informationsverbote, Gehirnwäsche und „Fake News“. Auch westliche Demokratien sind, wie wir in der Trump-Zeit erleben mussten, vor entsprechenden Versuchen nicht gefeit.
3.
Im Lichte des modernen philosophischen und gesellschaftlichen Denkens scheint das 21. Jahrhundert eine Ära der Depression, des Pessimismus und der Frustration zu sein. Große Ideologien brachen zusammen, visionäre Wahrnehmungsformen des Menschen und seiner Aktivitäten in der Welt verloren an Schwung. Seit José Ortega y Gasset weicht der Begriff der Humanisierung häufig dem Begriff der „Dehumanisierung“, der Entmenschlichung bedeutet und auf einen Prozess der Veränderung zwischenmenschlicher Beziehungen hinweist, deren Teilnehmer unpersönlich werden und deren Einstellung zu anderen eine objektive, analytische Form ohne Gefühle, Empathie und Affekte annimmt. Die Analogie dazu im Krieg sind die technischen Fernwaffen, Bomben und Raketen, die Menschen töten, ohne dass der Aggressor dies selbst noch wahrnimmt. Der Mensch ist universeller Existenzangst ausgesetzt. Die Reichen haben Angst, ihren Reichtum zu verlieren, die Armen glauben nicht daran, je ihr Schicksal verbessern zu können. Rückständigkeit und Demütigung wurden zusammen mit zunehmender sozialer Ungleichheit und Zweifeln an Solidarität zu den Hauptursachen für moralische Verwüstungen und zu einer Quelle sozialer Konflikte (Bauman: 1976, 2008). Die Demoralisierung, die durch Unanständigkeit, Unbeständigkeit von Bindungen, Vulgarität, Manipulation und Lügen zum Ausdruck kommt, schreitet voran (Beck: 1986; Beck, Giddens & Lash: 1994; Fukuyma: 1992).
Der in der Psychologie auftauchende Begriff „Infrahumanisierung“ verweist weniger auf den brutalen Prozess der Entmenschlichung anderer, als vielmehr auf eine mehr oder weniger subtile Einschränkung ihrer Menschlichkeit, indem anderen Menschen weniger Menschlichkeit als uns selbst oder unseren Angehörigen zugesprochen wird (Leyens u. a.: 2000). Und das, obwohl Offenheit gegenüber anderen Menschen, wie Hannah Arendt (1989) schreibt, gegenüber anderen Menschen eine Grundvoraussetzung für die Menschlichkeit in jeder Bedeutung dieses bedeutungsvollen Wortes sei. In diesem Sinne ist Offenheit ein grundlegendes, konstitutives Merkmal der Menschlichkeit, das alle Aspekte des menschlichen Seins in der Welt umfasst. Das geht in seiner Essenz weit über den Markt- und Berufskontext hinaus, der jene Bildungskonzepte dominiert, die heute in der Praxis oftmals dazu führen, dass Menschen mit Kenntnissen, Fähigkeiten und Kompetenzen ausgestattet werden, die für ein effizientes Funktionieren auf dem Arbeitsmarkt erforderlich sind – um dabei geflissentlich zu übersehen, dass Ausbilden und Erziehen doch heißt, dem Bilde der Menschheit erst wirklich zuzustreben.
Ein Merkmal der Neuzeit ist zweifellos das Ungleichgewicht zwischen der materiellen und der geistigen Dimension des Lebens, das Wilhelm Dilthey bereits an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bemerkte und das in Opposition zu den Naturwissenschaften, die sich mit der materiellen Außenwelt der Natur befassen, die Geisteswissenschaften, die Wissenschaft von den geistigen Erfahrungen des Menschen, einführte. Edmund Husserl hat in seinem berühmten Vortrag „Die Krise der europäischen Menschlichkeit und Philosophie“ vom 7. Mai 1935 in Wien nachgewiesen, dass es mit dem Besitz instrumenteller Vernunft allein für den Menschen nicht getan ist. Objektive Tatsachen, so verkündete er, enthüllen keine lebensbezogenen Zusammenhänge, Ideale, Normen oder Bedeutungen und bieten keine existenzielle Unterstützung. Sein „Heroismus der Vernunft“, der in der Überwindung der instrumentellen Vernunft zu bestehen habe, wirkt in der Ära postfaktischer Wahrheiten noch herausfordernder, weil es heute schwierig ist, auf „objektive Tatsachen“ zu zählen. Wie dem auch sei, aus dem Denken und der Sprache unserer Zeitgenossen verschwand nicht nur der Begriff des Geistes, sondern mit ihm auch viele andere, einst wichtige Begriffe: „Glück, das durch Erfolg ersetzt wurde; Weisheit, die von einer Zivilisation des Wissens geleugnet wird; Theorie, in ihrer griechischen Urbedeutung als Kontemplation und Bewunderung für Wahrheit, Güte und Schönheit aufgefasst, wurde durch eine als effiziente Hypothese verstandene Theorie beseitigt“ (Gadacz: 2017, 223).
Ist es immer noch möglich, die Trends umzukehren, die eine weitere Infrahumanisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen, eine Entmenschlichung des sozialen Lebens und – ganz allgemein gesagt – eine Erschöpfung der Erde heraufbeschwören? Gibt es in Zeiten der Spezialisierung, der Technisierung der Bildung, des Pragmatismus, des Primats von Lernergebnissen und der Transformation der Wissenschaft in ein Produktionsunternehmen überhaupt Raum für Überlegungen zur Humanisierung der Bildung? Mit anderen Worten, ist es noch möglich, Werte zu vermitteln, kulturelle Ressourcen zu nutzen und sich auf dem Gebiet eines neuen Humanismus wieder auf griechische „paideia“ und römische „humanitas“ zu besinnen?
4.
Aber wie könnte eine solche Bildung aussehen? Unter Berücksichtigung aller global stattfindenden, gesellschaftlich-zivilisatorischen Veränderungen und in der Perspektive kultureller Gegebenheiten sollte sie in erster Linie die Auswirkungen von Phänomenen und Prozessen abmildern und begrenzen, die eine Bedrohung für Menschen darstellen, wie z. B. Rivalitäten, extremer Individualismus, Ökonomisierung und immer stärkere Dissonanzen zwischen Wohlstandseliten und von Armut betroffenen Schichten; Respekt für Menschlichkeit ausdrücken; einen goldenen Mittelweg zwischen „Sein“ und „Haben“ suchen; Hilfe bieten bei der Suche nach einem sinnvollen Leben, ausgedrückt in axiologischer Reife im kognitiven, emotionalen und moralischen Bereich. Die Erziehung gemäß dem Gedanken eines neuen Humanismus ist nichts anderes als eine Formel für die Bildung des Menschen als eines Subjekts, das sich Determinismus, Fatalismus, Verdinglichung und mechanistischer Reflexionstheorie entgegenzustellen vermag. Das Zusammenspiel vieler kognitiver Perspektiven ist hier nicht ohne Bedeutung. Immerhin erhalten wir von Kant und Descartes eine Botschaft über die aktive und tätige Rolle des wissenden Geistes und des Selbstbewusstseins des menschlichen Wesens, aus der Psychologie hingegen hinsichtlich des Bedürfnisses nach Selbsterkenntnis, Selbstbewusstsein, der Fähigkeit zum Lenken des eigenen Lebens und von Kreativität. Die Soziologie liefert wiederum Voraussetzungen für die Aktivität und die Fähigkeit, die Gegenüberstellung von Mensch und Welt zu überwinden sowie Zusammenarbeit und Autonomie zu fördern.
Es ist unstrittig, dass Bildung „das heute vorherrschende Medium [ist], über das soziale Ungleichheit produziert und reproduziert wird“ (Quenzel & Hurrelmann: 2019, 3). Die Folgen der Bildungsarmut sind ebenfalls bekannt und empirisch begründet (z. B. Stiglitz: 2015; Moosbrugger u. a.: 2019; Keim u. a.: 2019). Zeitgenössische Denker liefern zahlreiche Inspirationen für ihre Erneuerung, um sie menschlicher, gerechter und humaner zu gestalten. Das Fundament derartiger Modernisierungsvorschläge ist der Glaube, dass die Welt eine andere sein kann; dass es alternative Entwicklungsmöglichkeiten gibt; dass es nicht zu spät ist, um Apathie und Krise zu überwinden und die Menschheit vor ihrem endgültigen Fall zu schützen. Einer der wesentlichen Gedanken zu „guter Bildung“ für heute ist das Konzept von Zygmunt Bauman, der in der lebenslangen Erziehung die Unabdingbarkeit der „Ermächtigung“ des Menschen zum Treffen rationaler Entscheidungen aufdeckt, indem er in dieser menschlichen Eigenschaft die Voraussetzung dafür sieht, um die Bedingungen für das Treffen von möglichen und realen Entscheidungen überhaupt zu schaffen. Bauman will vor allem staatsbürgerliche Bildung, Achtung der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Selbstverwaltung, Verantwortung und Solidarität, eine Bildung, die Schluss macht mit der Abgrenzung und Abwendung von Bedürftigen und Verletzten, Ausgeschlossenen und Opfern der wirtschaftlichen Globalisierung. „Die Menschheit steckt in der Krise – und der Ausweg aus ihr führt über zwischenmenschliche Solidarität“, so Bauman (2016, 26).
Viele Humanisten teilen die Position Baumans und fordern, dass Bildung für Krieg, Aggression und Gewalt einer Bildung Platz machen soll, die solche Ideen, Einstellungen und Verhaltensweisen fördert, die für eine Zeit des Friedens angemessen sind. Ein Blick auf jene Spiele, die heute unsere Kinder faszinieren, und auf Medieninhalte, die junge Menschen erreichen, genügt, um zu wissen, welche Schwierigkeiten zu meistern sind.
Wie kann man sich angesichts solcher Phänomene auf die Kategorie der Subjektivität beziehen, die die Geistes- und Sozialwissenschaften unermüdlich einfordern und die sie unter anderem mit dem Bewusstsein der Beziehung des Individuums zur Außenwelt, dem Verstehen der Umgebung und der sich daraus ergebenden Situationen, mit der Fähigkeit zum Entdecken von Ursache-Wirkungs-Beziehungen zwischen Phänomenen sowie dem Erkennen der Rolle ihres eigenen Verhaltens in deren Hervorbringung in Verbindung bringen? Subjektivität ist das Antonym zu Vergegenständlichung, ein Ausdruck des Strebens nach der Befähigung des Individuums, eine Bedingung für das Treffen rationaler, sich auf die Zukunft auswirkender Entscheidungen, sowie die Fähigkeit zum Ablehnen verlockender, aber undurchführbarer Vorschläge. Der bulgarische Politikwissenschaftler Iwan Krastew (2017, 44–45) stellt fest: „Der Ehrgeiz des neuen Populismus besteht darin, Menschen ohne ein zukunftsgerichtetes Projekt zu unterstützen. In diesem Sinne handelt es sich um eine Doktrin, die sich ideal an die Erwartungen von Gesellschaften anpasst, deren Bürger vor allem Konsumenten sind, die ihre Anführer als Kellner betrachten, die ihre Wünsche so effizient wie möglich zu erfüllen haben“. Die „Abkürzung“ – wie Bauman (2010, 2016) die populistischen Erzählungen nennt – ist doch in Wirklichkeit „ein Weg ins Nirgendwo“. Ein Beispiel dafür ist das gegen Migranten gerichtete Narrativ, das suggeriert, dass die Welt ohne Neuankömmlinge sicherer und frei von Ungewissheiten sein würde.
Nicht ohne Bedeutung für die Humanisierung der Bildung sind immer zahlreichere Konzepte in Bezug auf die wechselseitige Korrelation von Freiheit und Gleichheit. Humanisten – basierend auf den Ergebnissen von Forschungen zur Reproduktion kultureller Unterschiede, die durch Umgebungen der Primärsozialisation und Inkulturation bestimmt werden – plädieren dafür, dass die universellen Rechte jedes Einzelnen in der Erziehung so weit wie möglich umgesetzt werden, um soziale Bindungen und politische Partizipation aufzubauen (z. B. Bernstein: 2000). Sie schaffen breite Programme zur strukturellen und funktionalen Prävention sozialer Ungleichheiten beim Zugang zu Kultur und zu einem menschenwürdigen Leben (z. B. Therborn: 2006). Sie sind jedoch in modernen demokratischen Staaten, deren System von den zwei Grundprinzipien Freiheit und Gleichheit getragen wird, weder universell noch leicht zu akzeptieren (Rawls: 1975). Die Betonung der Freiheit über die Gleichheit führt dazu, dass jegliche Unterschiede gerechtfertigt und als natürlich behandelt werden, wobei deren Abmilderung dann nur auf Grundlage freiwilliger Hilfe oder Gnadenakte möglich ist. Dies ist in der neoliberalen Ordnung der Fall, die Bildung den Regeln des freien Marktes unterwirft. Nur eine umfassende Demokratie, die den Grundsatz der sozialen Gleichheit betont, führt systemische Maßnahmen herbei, die ungerechte Differenzen zu Beginn und in späteren Phasen des menschlichen Lebens zu verhindern helfen (Rawls: 1975).
Es besteht kein Zweifel daran, dass das, was sich im Bildungsbereich vor unseren Augen abspielt, die Zukunft von Gesellschaften bestimmen wird. Was sind die wichtigsten pädagogischen Herausforderungen und welche Maßnahmen sollten zur Humanisierung des sozialen Lebens ergriffen werden, insbesondere Bildungsprozesse, die sich über das gesamte menschliche Leben erstrecken? Was sollten wir lernen und wie?
5.
Das Verständnis dieser Frage wird zum Schlüssel für das Verständnis der Bildungspolitik und die Entwicklung der Bildungssysteme in den reichen westlichen Ländern. Was ist Politik? Sie hat Analogien zur Pädagogik, ein Prozess, der die menschliche Identität gestaltet sowie Bedürfnisse, Identifikationen, Werte und Verständnisweisen einer Welt formt, die immer weniger humane Formen aufweist. Und doch bilden die Politiken dieser Welt Ideologien und die soziale Ordnung aufrechterhaltende Formen.
Ein genauer Blick auf die Politik der liberalen Demokratie, das Verstehen ihrer Grenzen ist nicht gleichbedeutend mit dem Suchen nach ihren Mängeln, sondern vielmehr ein Weg der Erforschung der Möglichkeiten zur Anpassung und Verbesserung ihrer derzeitigen Institutionen, einschließlich von Bildungseinrichtungen. Gegenwärtig diskutiert niemand mehr die These, dass jene, die Bildung in einen Korporatismus führenden neoliberalen Reformen nichts anderes als die Politisierung von Bildung im Sinne des Interessensspiels bestimmter sozialer Gruppen sind. Der Einblick in das Wesen, die Anatomie und den Sinn des Neoliberalismus, obwohl bereits von Pierre Bourdieu und Michel Foucault signalisiert, ist angesichts seiner neuen Einflüsse auf die Kultur des Lehrens und Lernens nach wie vor ein dringendes Bedürfnis. Lernen wird nicht nur instrumentalisiert und polarisiert, sondern vor allem entmenschlicht, einseitig praktisch ausgerichtet und nimmt einen oberflächlichen und passiven Charakter an. Daher sollte man nicht nur nach den Herausforderungen für die moderne humanisierte Bildungswelt fragen, sondern auch nach ihren Auswirkungen auf den individuellen und sozialen Aspekt. Ein neues kritisches Bewusstsein in diesem Bereich zu schaffen, die Ziele, Methoden, Motivationen und Qualitätsstandards zu verstehen, die dazu führen, dass Menschen nicht nur zu eifrigen Produzenten oder leidenschaftlichen Konsumenten, sondern ebenso zu Menschen mit autonomer Handlungsfähigkeit und intrinsischer Motivation erzogen werden, wird damit zum wichtigsten Bedürfnis gegenwärtiger Bildungsprozesse.
Jeder Versuch, Herausforderungen an Lehr- und Lernprozesse im Kontext ihrer Humanisierung zu lösen, muss zwangsläufig fragmentarisch, unvollständig und selektiv sein. Unabhängig von der Bedeutung einzelner Themen gehören jedoch die technischen Herausforderungen, die mit der Kombination von Biotechnologie und Informationstechnologie verbunden sind, zu den dringendsten. Die zentrale gesellschaftspolitische Frage lautet: Wie lässt sich in unserer Zeit der Besitz sensibler Daten regulieren und dabei gleichzeitig die eigene und persönliche Einzigartigkeit schützen? Hierbei geht es gleichfalls um den Sinn und das Vertrauen in die liberale Erzählung, die noch vor nicht allzu langer Zeit unbestreitbar schien. Es handelt sich dabei auch um eine politische Herausforderung, denn die beiden Grundwerte Freiheit und Gleichheit sind gleichermaßen bedroht. Die Entwicklung von Informationstechnologie und Biotechnologie muss sich auf irgendeine Weise mit globaler Zusammenarbeit verbinden lassen. Demgegenüber zielen jegliche Nationalismen, Religionen und Kulturen eher auf Teilung statt auf das Hervorbringen gemeinsamer globaler Handlungen. Hier müssen sich die dringendsten Bildungsaktivitäten mit Lösungen für Migrationsprobleme befassen. Wie wir wissen, bringen Migrationen dauernde Probleme und menschliche Dramen mit sich: die Erfahrung von Leid, Ungleichheit, Ausbeutung, Angst, Zusammenstöße von Kulturen und häufig Destabilisierung.
Hier zeigt sich eine weitere Herausforderung, nicht nur in Bezug auf die Verzweiflung, sondern gerade auch mit Blick auf die Hoffnung. Wir müssen uns fragen: Wie kann man lernen, Verzweiflung zu überwinden und seine eigenen Ängste und Befürchtungen zu kontrollieren? Wie erzieht man Menschen zu Hoffnung und Demut gegenüber den eigenen Einschätzungen? Eine Bewertung ist immer auch mit einer weiteren Herausforderung in Bezug auf die Kategorie der Wahrheit in einer Welt verbunden, in der globale gesellschaftliche Prozesse zu kompliziert bzw. vernetzt sind, um noch von einer einzelnen Person verstanden zu werden. Woher soll sie also wissen, was die Wahrheit über die Welt ist? Wie man nicht der Lüge, düsteren Ideologien und gezielter Desinformation zum Opfer fällt?
Die nächste Herausforderung ist das Erlernen von Widerstandskraft. Wie kann man leben, wenn alte Erzählungen zusammenbrechen, aber noch keine neuen ihren Platz eingenommen haben? Die grundlegende Frage ist die, was und wie man lernen sollte, um im Labyrinth eines Lebens zu bestehen, dessen einzige Konstante der Wandel ist. Die Antwort darauf scheint einfach zu sein. Es ist die Rückkehr zu den humanistischen Universalien des gesellschaftlichen Lebens, das heißt das, was die Würde der menschlichen Person schützt und gleichzeitig die Gesellschaft als Gemeinschaft zusammenhält. Dem ist noch hinzuzufügen, dass sich die Entwicklungsziele eines guten menschlichen Lebens auf eine Schlüsselannahme beziehen müssen, und zwar die, dass der Staat und seine Bildungspolitik gegenüber all ihren Konzepten und Varianten neutral zu bleiben haben. Oder anders gesagt: die „gute Gesellschaft“ muss erst in einem öffentlichen Raum entstehen, der durch unsere Rechte definiert ist, aber ungeachtet jener Differenziertheit von Rechten, die uns zustehen.
Diese einfache Annahme des Kommunitarismus mag in der Welt der offensiven Bildungspolitik des entmenschlichten Korporatismus utopisch erscheinen. Aber wir haben immer noch die Wahl, wir können uns immer noch genauso anstrengen, zu lernen und uns selbst kennenzulernen, um unsere Menschlichkeit auf ethische Weise zu gestalten. Jerzy Skolimowski (2003, 42–43) appelliert besonders an Wissenschafter und WissenschafterInnen: „Es stimmt einfach nicht, dass Moral und wissenschaftliche Erkenntnis getrennte Wege gehen. Alles ist miteinander verbunden. Wenn das System im Morast versinkt, dann versinken auch unser Denken, unser Handeln und unsere moralischen Entscheidungen“.
6.
Es scheint so, als ob wir das alles wissen würden, die Bildung sich aber, statt auf einen neuen Humanismus zuzusteuern, eher entmenschlicht. Formulieren wir daher zwei Schlüsselkategorien, ohne die die menschliche Existenz in Lernprozessen steril und ineffizient wird. Das sind: Grenzüberschreitung und Selbstverwirklichung. Der metaphorische Grenzraum und seine Durch- und Überschreitung scheinen in der humanistischen Bildung aus mehreren Gründen von grundlegender Bedeutung zu sein. Die menschliche Existenz ist ohne ständige Entscheidungen und das Einlassen auf einen Mehrdeutigkeitsdiskurs unmöglich. Nach dem Konzept von Michail Bachtin (1979) kann sie nicht außerhalb des Dialogs verwirklicht werden. Ebenfalls nah an dieser Idee ist die dialogische Herangehensweise Martin Bubers (2008) an das Leben, bei der nur die Beziehung zum „Du“ das Entstehen des „Ich“ ermöglicht. Es gibt daher im metaphorischen Grenzraum keinen Platz für eine dogmatische, autoritäre Sicht der Welt; sein konstitutives Merkmal ist die Polyphonie, d.h. die Gleichwertigkeit, Gleichheit und gegenseitige Koexistenz verschiedener Weltbilder, verschiedener Diskurse und Realitätserzählungen, die Menschen auf unterschiedliche Weise erfahren.
Selbstverwirklichung ist wiederum ein Prozess, bei dem die menschlichen Potenziale und Fähigkeiten aktualisiert werden können und in dessen Rahmen ein Glücksgefühl erlangt werden kann. Dieser Prozess kennt keine Grenzen und besteht im fortschreitenden Aufbau eines ganzheitlichen Selbstverständnisses und dem Streben nach dessen Verwirklichung im Laufe lebenslanger Bildung (Schulz: 1990). Sie ist also mit dem notwendigen Gefühl von Lebenssinn, der Aktualisierung menschlicher Fähigkeiten, der Selbstverbesserung und von auf die Veränderung der Welt abzielenden Aktivitäten verbunden. Diese beiden Perspektiven der Selbstverwirklichung – die existentielle und die gesellschaftliche – stehen nicht im Widerspruch zueinander, sondern ergänzen sich sogar. Beide regulieren den Prozess der Selbststeuerung durch Reproduktion und durch die Schaffung von Kultur. Dies wurde einst von den Philosophen der Frankfurter Schule hervorgehoben, die argumentierten, dass das Aufwachsen in der Wertewelt einer bestimmten Kultur gleichzeitig in einer Aura der Befreiung von eben jener Art der kulturellen Verstrickung durch sich selbst realisierende, kreative, auf die Zukunft gerichtete kritische Handlungen stattfinden sollte.
Zukunftsentwürfe sind von der Tagesordnung praktisch verschwunden, vor allem von der politischen Tagesordnung. Visionen von der Reichweite der Französischen Revolution, des Kommunistischen Manifests, der Menschenrechtscharta sind Vergangenheit. Vergeblich sucht man nach humanen Konzepten wie Thomas Morus´ Bericht über die Insel „Utopia“ (1516), auf der Privateigentum abgeschafft, Arbeitszeit begrenzt, Kopf- und Handarbeit gleichwertig und die Bildung von Männern und Frauen gleich ist. Wo sind die Modelle, Ideen, Visionen, die weiterreichen als bis zum Ende einer Legislaturperiode? Die Werte formulieren und Ziele festlegen, die eine humanere und lebenswertere Gesellschaft umreißen und die Menschen zum Weg dahin motivieren?
Wer, wenn nicht die Erwachsenen, welche die gegenwärtige Gesellschaft steuern und für eine lebenswerte Zukunft verantwortlich sind, kann diese Perspektiven und Rahmungen geben? Doch dazu bedarf es einer Bildung, die wertorientiert ist, die befähigt, in die Zukunft zu schauen, einer Erwachsenenbildung, die sich mit den Menschen entfalten kann.
Es gibt viel zu tun für eine solche Erwachsenenbildung. Sie hat dazu beizutragen, Problemlösungen und Visionen in einzelnen gesellschaftlichen Bereichen zu entwickeln, wissensbasiert und mit humanen Werten, etwa in der Arbeitswelt, der Ökologie, der Kultur und Sprache, dem Verhältnis von Männern und Frauen, in Bildung und Ausbildung, in sozialen und familiären Belangen. Nicht nur das: Sie hat auch kohärente Zusammenhänge dieser Bereiche herzustellen, ohne die Zukunft nicht gedacht werden kann.
Es gilt, daran zu erinnern, dass schon zu den Frühzeiten einer im Grundsatz diskutierten Erwachsenenbildung gefordert wurde, sie habe den Wandel nicht zu verwalten, sondern zu gestalten. Oder, genauer: die Menschen dazu zu befähigen, diesen Wandel zu gestalten.
Es ist zweifelhaft, ob der Fokus auf dem betrieblichen und beruflichen Lernen, wie ihn der Adult Education Survey (AES) immer wieder zeigt, diese Aufgabe erfüllen kann. Gewiss, es gibt zahlreiche vielversprechende Ansätze in der heutigen Erwachsenenbildung. Aber wir brauchen – vor allem auch politisch – eine deutlich breiter und tiefer angelegte Lernkultur, ein Bildungssystem, das kohärent mit den anderen Lebensbereichen wie Arbeit und Alltag und in sich selbst vernetzt ist, wir brauchen Initiativen, die zu weiterreichender und umfassenderer Bildung aufrufen und sie ermöglichen.
7.
Was kann Bildungsarbeit tun? In Russland hat die Erziehungsministerin angeordnet, dass in allen Schulen Sonderunterricht zu Ursache und Verlauf der „militärischen Spezialoperation“ in der Ukraine stattzufinden hat – Bildung als Propagandainstrument. Befragungen zeigen, dass die Mehrheit der russischen Bevölkerung den kriegerischen Überfall auf das Nachbarland gutheißt. Kann man es ihr verübeln angesichts der medialen Gehirnwäsche, der die Russen tagtäglich ausgesetzt sind? Kann Bildung zur Humanität im Zeichen von Aggression, Gewalt und Krieg überhaupt stattfinden? In der westlichen Welt? In der Erwachsenenbildung? Kritisches Urteilsvermögen, humane Werte, Vertrauen – wird genug getan? //
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