Die erste Wiener Volkshochschule, der 1887 gegründete Volksbildungsverein, nach einiger Zeit mit Sitz im V. Wiener Gemeindebezirk, Stöbergasse, führte bereits vor dem Ersten Weltkrieg eine Zweigstelle im benachbarten Arbeiterbezirk Favoriten.
Die 1897 gegründete Urania mit ihrem Haus am Rande der Innenstadt im I. Wiener Gemeindebezirk plante im Ersten Weltkrieg einen Dezentralisierungsschritt und hatte bereits Planzeichnungen für ein Zweighaus im VI. Bezirk in der Nähe des Westbahnhofes. Die Pläne zerschlugen sich jedoch.
Das 1901 gegründete Volksheim eröffnete 1905 ein eigenes Haus im XVI. Wiener Gemeindebezirk und nahm in der ersten Hälfte der 1920er-Jahre vier ebenfalls Volksheime genannte Zweigstellen in den Bezirken Brigittenau, Landstraße, Leopoldstadt und Simmering in Betrieb.
Eine Volkshochschule für jeden Bezirk
Nach einem Plan von Ludo Moritz Hartmann, der formal die Funktion eines stellvertretenden Volksheimobmannes bekleidete, sollte jeder Bezirk in Wien eine Volkshochschule bekommen. Bis 1925 konnte davon nur ein „Festungsgürtel“ genannter Teil mit Volksheim-Zweigstellen in den genannten Bezirken, die in der martialischen Sprache der Zeit als „Forts“ bezeichnet wurden, realisiert werden. Die Arbeiter-Zeitung veröffentlichte im September 1925 dazu eine illustrierende Skizze.1
Arbeiter-Zeitung vom 27. September 1925
Die Alternative zur Dezentralisierung, die Schaffung einer Volkshochschule mit einem großen Haus als Zentrum der Bildungstätigkeit, wie das etwa in Berlin mit der Urania als naturwissenschaftlicher Volksbildungsstätte und ihrem 1889 eröffneten Haus der Fall war, wurde in Wien nie auch nur ins Auge gefasst. In Wien wurde auf Dezentralisierung und damit inhaltlich-konzeptionelle Pluralisierung gesetzt – jedenfalls bis 1934.
Bevölkerungsnahe Dezentralisierung
Die Dezentralisierung des Volksheims2 verlief in einer Weise, die viel über die Ideologie und das gesellschaftliche Umfeld der Volkshochschulen in den 1920erJahren aussagt. Es trafen sich die Zielsetzungen der Verantwortlichen des Volksheims mit lokalen Bedürfnissen und Aktivitäten sowie den Vorstellungen von Bildung in den jeweiligen Bezirken, wie sie vorrangig durch die organisierte Arbeiterschaft repräsentiert wurden.
Ebenso wie die Gründung des Volksheims „von unten“ initiierte wurde, sind auch die Dezentralisierungsbestrebungen „von unten“ getragen worden. Gerade dies hat wesentlich zu ihren quantitativen und in einigen Bereichen auch qualitativen Erfolgen beigetragen. Von der heute gängigen „Niederschwelligkeit“ war dabei nicht die Rede. Ziel war es, anspruchsvolle Bildungstätigkeit mit Nähe zur Bevölkerung, insbesondere zur Arbeiterschaft zu verbinden.
Leopoldstädter Volksheim
Den Auftakt machte die Gründung des Leopoldstädter Volksheims, das am 26. Jänner 1920 im Gymnasium in der Zirkusgasse – heute erinnert in dieser Schule nichts an das einstige Volksheim – eröffnet wurde. Der Gründung ging eine in die Jahre des Ersten Weltkrieges zurückreichende Entwicklung voraus. Bereits 1916 wurde mit Vorbereitungsarbeiten für die Gründung eines „Volksheims auf der Donauinsel“ begonnen. Das Projekt scheiterte an mannigfaltigen Hindernissen. Kurz nach Republiksgründung wurde die Überlassung eines Saalgebäudes im Augarten ins Auge gefasst und Mitte Juli 1919 von den „hofärarischen Behörden zugesagt“. Auch dieses Projekt scheiterte, vor allem wegen der rasant steigenden Umbaukosten. Für das nicht ad acta gelegte Projekt wurde ein Provisorium im erwähnten Gymnasium gefunden, aus dem – bis zum Nationalsozialismus – ein Definitivum wurde.
Die Eröffnung der neuen Volksheim-Zweigstelle fand eine breite mediale Resonanz. Volksheim-Obmann Friedrich Becke – ein international renommierter Geologe – griff zur Feder und verfasste einen längeren Beitrag für die Neue Freie Presse3. Vergleichbares wäre heute undenkbar. Der Zoologe Heinrich Joseph, von 1909 bis 1925 auch Sekretär des Ausschusses für volkstümliche Universitätsvorträge, nutzte die Große Volks-Zeitung4 als Tribüne. Der Kulturredakteur der Arbeiter-Zeitung und Volksheim-Lehrer Otto Koenig verfasste gleichfalls einen Artikel, in dem er feststellte: „Keine dürftige Tochteranstalt, eine ebenbürtige Zweiganstalt, an der nicht nur, aber auch die erprobten Kräfte des Stammhauses am Koflerpark (heute Ludo-Hartmann-Platz; d. Verf.) wirken.“5
Simmeringer Volksheim
In der Ausschusssitzung am 20. April 1921 berichtete Volksheim-Sekretär Richard Czwiklitzer über Verhandlungen zur Errichtung einer weiteren Zweigstelle in Simmering. Die Arbeiterschaft des Bezirks würde dies begrüßen. Angestrebt wurde aber auch die Errichtung einer selbständigen Volkshochschule. Im Zuge der Verhandlungen stellte Ludo Hartmann fest, die Führung der neuen Einrichtung müsse dem Volksheim-Ausschuss obliegen, in den jedoch die Simmeringer Arbeiter- und Lehrerschaft Vertreter entsenden solle, um Zentralisierung mit Basisbindung zu verbinden. Trotz mancher Querschüsse aus dem politisch konservativen Lager und nach Überwindung einiger Probleme wurde das Simmeringer Volksheim am 2. Oktober 1922 eröffnet. Obwohl nur mit 1.000 Mitgliedern gerechnet wurde, zählte die eher kleine Einrichtung bald 1.500 Mitglieder.
Volksheim Landstraße
Danach gab es fehlgeschlagene Gründungsversuche, vor allem konnte kein Floridsdorfer Volksheim realisiert werden. An den Dezentralisierungsplänen wurde aber festgehalten und am 6. Oktober 1924, fünf Wochen vor dem frühen Tod von Ludo Hartmann, wurde das Volksheim Landstraße im III. Bezirk eröffnet.
Ende der institutionellen Dezentralisierung
Den Abschluss der institutionellen Dezentralisierung des Volksheims machte im XX. Wiener Gemeindebezirk die Eröffnung des Brigittenauer Volksheims am 12. Oktober 1925. Diese Einrichtung zählte bereits vierzehn Tage später 1.500 Mitglieder. Die Kurse erfreuten sich eines „glänzenden Besuchs“, heißt es in einer zeitgenössischen Quelle. Rein wissenschaftliche Kurse wiesen eine HörerInnenzahl von 100 bis 200 auf. Angesichts solcher Zahlen wurde die Frage nach der Didaktik nicht gestellt. Diese Volksheim(zweigstellen)eröffnung war ebenfalls ein Medienereignis. Noch ausgeprägter als bei den anderen Volksheim-Zweigstellen war die Eröffnungsfeier in der Brigittenau ein Treffen für Politik und Wissenschaft.
Mit der erfolgreichen Inbetriebnahme des „5. Volksheims“ war Mitte der 1920er-Jahre der qualitative wie quantitative Höhepunkt erreicht. Der Plan, das Zweigstellennetz weiter auszubauen, musste angesichts sich auftuender Schwierigkeiten aufgegeben werden. So gab es beispielsweise ein größeres Defizit im Simmeringer Volksheim.
Realisierung in der Zweiten Republik
Unter völlig anderen Vorzeichen konnte der Plan, in jedem Wiener Bezirk eine Volkshochschule, oder zumindest eine Zweigstelle zu errichten, in der Zweiten Republik verwirklicht werden. Dies ging auch, und das ist eine weitere Wiener „Spezialität“, mit der Errichtung zahlreicher Volksbildungsbauten durch die Stadt Wien einher. Medial und in der Öffentlichkeit wurde das allerdings nie so beachtet wie die begrenzte Dezentralisierung in den 1920er-Jahren. //
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