Bereits um 1900 hatten sich in Wien jene Volksbildungseinrichtungen etabliert, die für die weitere Entwicklung der Volkshochschulen in Österreich richtungsweisend wurden. Es waren dies der 1887 gegründete Wiener Volksbildungsverein, die 1895 an der Universität Wien eingerichteten volkstümlichen Universitätsvorträge (University Extension), die 1897 ins Leben gerufene Wiener Urania sowie zuletzt das 1900 gegründete Volksheim im Wiener Arbeiterbezirk Ottakring – die erste Abendvolkshochschule in Europa.
Die Intention jener zivilgesellschaftlichen Bildungsinitiativen war ein gesellschaftlich möglichst breiter Zugang zu allen Bereichen des Wissens, der Kunst und Literatur. In diesem von sozialem Reformgeist getragenen Bildungsenthusiasmus vermengten sich die Ideale der Französischen Revolution, sozialreformerische Utopien beziehungsweise reformpädagogische Ideen, säkulare Fortschrittshoffnungen sowie avantgardistische Konzepte einer Annäherung von Hoch- und Populärkultur. Vor allem waren es die Wiener Volkshochschulen und ihre Vorgängereinrichtungen, die sich, in bewusster Distanz zu weltanschaulich-tagespolitischen Kontroversen, zu völlig neuartigen Lernorten entwickelten, die durch eine moderne Offenheit gegenüber den Wissenschaften, den Künsten sowie den Fragen des täglichen Lebens gekennzeichnet waren.
Der bildungspolitische Anspruch bestand darin, „Wissen für alle“ anzubieten. Diese demokratische Zielrichtung geht bereits aus dem Wort „Volkshochschule“ hervor. Im Unterschied zum paternalistischen Konzept der Nationalerziehung des 18./19. Jahrhunderts, worin Erziehung und Bildung primär als Herrschaftsinstrument zur „Herstellung gefügiger Untertanen“ fungierten, zielte der Begriff „Volk“ erstmals auf alle Staatsbürger und Staatsbürgerinnen, und zwar unabhängig von deren jeweiliger sozialer Herkunft, den Besitz- bzw. Einkommensverhältnissen, den religiösen Überzeugungen oder dem Geschlecht. Der Universalismus des Zeitalters der Aufklärung verknüpfte sich hier mit dem politischen Prinzip einer bürgerlich-demokratischen Öffentlichkeit – die es freilich erst zu etablierenden galt. Die moderne Volksbildung richtete sich somit von Beginn an die Gesamtheit der Bevölkerung, das heißt an gleichgestellt angesehene mündige Bürgerinnen und Bürger. Unter sozialreformerischer Perspektive bedeutete dieses edukativ gewichtete Egalitätsprinzip freilich vor allem Hilfestellung für die sozial deklassierten Schichten.
An der Vermittelbarkeit von Wissenschaft an „alle“ hatten die Proponenten keinen Zweifel, oder höchstens insofern, als dieses Projekt an den unzureichenden didaktischen und rhetorischen Fähigkeiten so mancher verstaubter Gelehrter scheitern könnte.
Auf Grundlage des postulierten Gleichheitsbegriffs sprach sich die wissenschaftsorientierte Volksbildung nicht nur für eine demokratisch-republikanische Ordnung aus, sondern schuf durch die Verknüpfung von Bildung, Wissenschaft und Volk in Form konkreter Bildungspraxis auch eine Schule der Demokratie, lange bevor demokratische Mitbestimmung zu einer politischen Realität wurde.
In seiner Schrift „Volksbildung und Demokratie“, die erst Anfang der 1920er-Jahre publiziert wurde, ging Ludo Moritz Hartmann auf die drei, seiner Ansicht nach zentralen Grundprinzipien einer freien und demokratischen Volksbildungsarbeit ein, nämlich Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Neben dem offenen Zugang, dem egalitären Verhältnis zwischen Schüler/innen und Lehrer/innen sah Hartmann vor allem in der Befreiung von geistiger Bevormundung eine wesentliche Voraussetzung und zugleich auch Garantie für stabile demokratische Verhältnisse.2
Das gleichrangige Neben- und Miteinander von ExpertInnen und Laien, die prinzipielle Gleichstellung der Geschlechter, das gemeinsame Lernen einer sozial stark inhomogenen Hörerschaft, das friedliche Nebeneinander unterschiedlicher Ethnien und Religionszugehörigkeit sowie eine egalitär strukturierte Lehr- und Lernsituation machten die Volkshochschulen der Monarchie zumindest in bildungspolitischer Hinsicht zu Orten einer realisierten gesellschaftlichen Utopie.
Das spezifische Milieu, die Verkehrs- und Umgangsformen „auf Augenhöhe“ sowie die besondere Atmosphäre an den „Volksuniversitäten“, die insbesondere durch einen ausgeprägten Fortschritts- und Bildungsenthusiasmus gekennzeichnet war, schufen die Grundlage für die mitunter langjährige Zusammenarbeit unterschiedlicher gesellschaftlicher Personengruppen wie etwa von bürgerlichen Universitätsprofessoren und sozialdemokratisch organisierten Industriearbeitern.
Die demokratische Orientierung der Volkshochschulen kam auch in der Organisationsstruktur zum Ausdruck, indem satzungsgemäß sogenannten „Hörervertrauensleuten“ – eine gewählte Vertretung aus dem Kreis der Teilnehmenden –Mitbestimmungsmöglichkeiten im Vereinsvorstand eingeräumt wurden. Auf organisatorisch-administrativer Ebene wurde versucht, die demokratische Konzeption der Bildungsarbeit durch Dezentralisierung zu erreichen, was mit der Gründung von mehreren Zweigstellen Mitte der 1920er-Jahre – wenn auch nicht wie beabsichtigt flächendeckend – gelang.
Klarerweise lag diesem Konzept nicht nur eine bildungspolitische Absage an den „Klassenkampf“ zugrunde: Mit dem „Volk“ als Adressat der Bildungsarbeit basierte das Volkshochschulkonzept auf einer sozial-integrativen Versöhnungstheorie der Klassen, die sich von der Vergesellschaftung von Wissenschaft und Bildung letztlich eine friedvolle Lösung der Sozialen Frage erhoffte. Die beabsichtigte Verbindung der „Kultur des Buches“ mit der „Kultur der Arbeit“ sollte den sozialen Ausgleich der Klassen nach sich ziehen oder, wie der liberale Reichtsratsabgeordnete Armand Freiherr von Dumreicher (1845–1908) anlässlich der Gründung der University Extension an der Universität Wien meinte, die „naturwidrige Trennung von Kopf und Arm“, die „Ausschließung des Arbeiterstandes vom geistigen Inhalte seines eigenen Tuns“ aufheben.
Auch der Physiker Ernst Mach (1838–1916), der ab 1901 auch Mitglied des Herrenhauses war, sprach im Hinblick auf die Aufgaben der Volkshochschule explizit von einem „Abtragen der sozialen Schuld“ gegenüber der Arbeiterschaft, auf deren Schultern die Bourgeoisie ihren Aufstieg vollzogen habe. Der in der gesamten Volksbildungsliteratur immer wiederkehrende Verweis auf den „collectiven Nutzen“ einer solchen Wissensvermittlung stand für Mach völlig außer Zweifel: „Die ganze Gesellschaft wird die Früchte genießen.“3
Abgesehen vom wiederholten Verweis auf den volkswirtschaftlichen „Gewinn“ kam auch der sozialintegrative Nutzen der Volksbildung zur Sprache. Wie Friedrich Jodl, Universitätsprofessor für Psychologie und Obmann des Wiener Volksbildungsvereins (heute: VHS polycollege Margareten) in diesem Zusammenhang meinte, wäre „jeder Klassendünkel ein Zeichen von Unbildung“, da er in der mangelnden Fähigkeit begründet liege, „über sich hinaus ins Allgemeine zu blicken, die eigene Person und den eigenen Lebenskreis ins Licht des großen Kulturzusammenhangs zu rücken“4.
Wie sich anhand dieser Beispiele zeigt, war das an den Idealen der Aufklärung orientierte Popularisierungskonzept freilich keineswegs frei von pragmatischen und bisweilen pazifizierenden Überlegungen, die aber aufgrund ihrer offensichtlichen Legitimationsfunktion gegenüber der klerikal-konservativen Obrigkeit freilich nicht überbewertet werden sollten.
Die vorhandenen Quellen, unter anderem erste HörerInnenbefragungen knapp nach der Jahrhundertwende sowie eine sozialpsychologische Untersuchung Anfang der 1930er-Jahre aus dem Umkreis der Bühler-Schule belegen den Anreizcharakter des spezifischen Milieus bzw. der sozialen Atmosphäre der Volkshochschulkurse. Der soziale Erlebnischarakter dieses Bildungsraums „ohne soziale Scheidewände“ (Emil Reich), das Mischen der Klassen, wurde vor allem von der Arbeiterschaft als eigenständiger Wert betrachtet. Die programmatische Forderung nach der „Pflege veredelter Geselligkeit“, die beabsichtigte „geistige und gesellschaftliche Annäherung zwischen den verschiedenen Bevölkerungsclassen“, bildete nicht nur die Verlängerung der skizzierten Versöhnungstheorie in den Bereich der didaktisch-methodischen Praxis, sondern auch ein Spezifikum der „Wiener Richtung“ der wissenschaftsorientierten Volksbildungsarbeit.
Im egalitären Verhältnis zwischen Lehrenden und Teilnehmenden sollten Erstere jedoch weder ihre „wissenschaftliche Überlegenheit“ überschätzen, noch vergessen, dass ihnen gleichberechtigte Erwachsene mit (berufspraktischen) Vorkenntnissen gegenübertreten.
Die eigenständige und selbstmotivierte, von Expertenseite lediglich angeleitete Aneignung von Wissen seitens der Teilnehmenden bildete das angestrebte Ziel. Das Ideal wäre, wie Hartmann es formulierte, ein Bildungsbetrieb, „der dem Seminar- und Laboratoriumsbetrieb an den Hochschulen entspräche, in dem der Schüler weniger belehrt als zum Erarbeiten des Wissens und der Bildung angeleitet wird. Und wo dies möglich ist, sollen Methoden angewendet werden, welche den Kathederton ausschließen.“5
Die Umsetzung dieser bildungspolitischen Versöhnungstheorie innerhalb der Volkshochschulen erfolgte also sowohl nach unterrichtsdidaktischen Kriterien als auch nach sozialpädagogischen Gesichtspunkten mit klaren demokratiepolitisch-emanzipatorischen Vorgaben: Lernen sollten bei diesem Lernexperiment im Grunde alle daran Beteiligten.
In diesem Zusammenhang schrieb Josef Luitpold Stern in einer der ersten systematischen Darstellungen des Wiener Volksbildungswesens aus dem Jahr 1910: „Noch bedeutender ist der erzieherische Erfolg in gesellschaftlicher und sozialer Richtung. Dadurch, daß bei uns alle Stände mit einander gemischt sind, daß Arm und Reich, Gebildet und Bildungsfreudig in stetem Verkehre stehen, lernt man die sozialen Verhältnisse anderer Kreise kennen, und die durch das politische Leben gebildeten Vorurteile werden berichtigt.“6
„Wer richtig denkt“, so Ludo Moritz Hartmann, „wird das seinen Erfahrungen Gemäße wählen und wird nicht nur ein nützliches Mitglied des Staates und der Gesellschaft, sondern auch […] der gegebene Hüter der Demokratie und der sichere Verächter der Demagogie sein.“7 Zu erreichen wäre dieses richtige Denken nach Hartmann durch das methodische Beispiel der „voraussetzungslose[n] Wissenschaft […] also durch Wissenschaft, die nicht von Dogmen ausgeht“. In besonderem Maße wurden in diesem Zusammenhang die unbestechlich prüfenden Methoden der modernen Naturwissenschaften und ihre Erkenntnisse als „Werkzeuge“ angeführt, durch deren Anwendung sowohl die Gesellschaft als auch die Individuen profitieren würden. Durch den wissenschaftlichen Fortschritt, so die Annahme, ließen sich soziale Missstände ebenso aus der Welt schaffen wie sich umgekehrt gesellschaftlicher Wohlstand, Friede und wirtschaftliches Wachstum durch die Vergesellschaftung der Wissenschaft dauerhaft sichern lassen sollten. Hoffnungen, die sich freilich aus vielerlei Gründen nicht erfüllt haben.
Dem Prinzip einer weltanschaulich-neutralen, rationalen Denkschulung, das alle Wissensgebiete beziehungsweise alle akademischen Disziplinen als „prinzipiell gleich wertvoll“ erachtete, lag gleichwohl kein naiver Begriff von Wissenschaft oder Wissenschaftlichkeit zugrunde, sondern vielmehr der angestrebte Idealtypus einer ernsthaften, werturteilsfreien Argumentation.
Auch wenn sich die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen seit der von Otto König sen. in den 1920er-Jahren geforderten „Sanierung der Hirne“ erheblich verändert haben, scheint auch aus heutiger Sicht sowohl die Demokratisierung des Zugangs zu Wissen und Bildung als auch das Modell einer kollektiven und kritisch-emanzipatorischen Denkschulung (Stichwort: Empowerment) nicht bloß anschlussfähig, sondern aktuell wie selten zuvor. //
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