Das Universum entwickelt sich, lehrt der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, in die Richtung von Unordnung und Chaos. Wie gelingt es Lebewesen jeder Generation, Ordnung und Gleichförmigkeit zu bewahren, sich am Leben zu erhalten?
Die Frage, wie Leben gelingt, beschäftigte den englischen Nobelpreisträger, den Biologen Sir Paul Nurse, schon als Teenager. Seine Forschungswege und die dabei gewonnenen Erkenntnisse legt er in charmant unterhaltsamer Weise vor – Wissenschaft in Augenhöhe als individueller und als gemeinschaftlicher Prozess. Das Gefühl, beim Lesen dem Autor nahe zu sein und ihn vortragen zu hören, stellt sich wohl auch deshalb ein, weil Nurse an seiner wissenschaftlichen Tätigkeit inklusive der emotionalen Dimension und der vieler seiner KollegInnen durch die Art seines kommunikativen Schreibens teilhaben lässt.
Schwierigkeiten und Erfolgserlebnisse, die Mühen der Ebene, überraschende Entdeckungen und neue wissenschaftliche Erkenntnisse – die Komplexität der Natur und des Lebens werden verständlich. Nurse weckt Neugier, indem er Forschungen und Fragen präsentiert, die noch ungelöst und unbeantwortet sind und die auf weitere Erkundung warten.
Der „Sir“ vermittelt die Bedeutung biologischer Erkenntnisse für aktuelle wichtige Entscheidungen – Ernährung, Gesundheit, Fortpflanzung, Schutz vor Pandemie – und die Einsicht, dass zwischen allen Lebewesen auf unserem Planeten Verbindungen bestehen. Unabhängig von wissenschaftlichen Vorkenntnissen der Lesenden will der Autor mit seinem Buch Verständnis und „besseres Gespür“ für das, „was Leben ist“, erreichen. Das Buch kommt diesem Ziel sicherlich optimal nahe.
Über fünf Stufen, basierend auf fünf Grundideen der Biologie, führt Paul Nurse umsichtig zu drei Prinzipien, um „Leben“ zu erklären. Die Stufen und Grundideen betreffen die Zelle, das Gen, die Evolution durch natürliche Selektion, das Leben als Chemie und Leben als Information.
Das Erkennen der Zellen setzte die Erfindung des Mikroskops zu Beginn des 17. Jahrhunderts voraus. Die Zelle, mit ihrer Vielfalt an Formen und Größe, gilt als einfachstes Gebilde, als „Atom der Biologie“, das lebt. Darauf beruht die etwa zweihundert Jahre alte Zelltheorie. Menschen haben etwa 30 Billionen Zellen, jede davon ist von einer Membran geschützt, ausgestattet mit der Fähigkeit sich zu verändern und auf sich verändernde Zustände der Außenwelt zu reagieren. Jeder Mensch, lehrt Nurse, ist kein isoliertes, individuelles Wesen, „sondern eine riesige, sich ständig wandelnde Kolonie aus menschlichen und nichtmenschlichen Zellen“ (S. 21).
Gene sind die Baumeister und Organisatoren jeder Zelle, sie geben Anweisungen der Reproduktion an jede Generation weiter. Die dabei auftretenden Mutationen ermöglichen Anpassungen und Neuerungen. Nurse betont die universelle Gleichheit der menschlichen Genome – der gesamten Erbinformation eines Organismus. Das sollten wir berücksichtigen. Die Fähigkeit des Organismus sich zu bewahren und sich an veränderte Bedingungen anzupassen, führt zur Evolution. Ihrer Selektion, Nurse spricht von einem selektiven Prozess, verdanken wir die Vielfalt der Lebensformen. Ein gewisses Gleichgewicht zwischen Konstanz und Wandel hilft einer Art, erfolgreich zu sein. Leben wird aber auch durch chemische Prozesse bestimmt, erläutert Nurse in einem weiteren Kapitel, und bedarf der Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten.
Mehr über das Leben zu lernen und zu wissen, urteilt der Autor, ermöglicht behutsam auf Lebewesen einzuwirken und sie zu verändern. Dies sollte von humanen Intentionen getragen sein und bezieht sich beispielsweise darauf, Infektionskrankheiten zu bekämpfen. Behandlungen gegen AIDS, Ebola, das Corona Virus oder Immuntherapien gegen Krebs sind aktuelle Beispiele.
Resümierend antwortet Nurse auf die große Frage, „Was ist Leben?“, mit drei Prinzipien:
- die Fähigkeit, sich durch natürliche Evolution zu evolvieren (weiterentwickeln);
- ein von ihrer Umgebung abgegrenztes, aber mit ihr kommunizierendes Gebilde zu sein;
- als chemische, physikalische und informationsverarbeitende Maschine den eigenen Stoffwechsel herzustellen, durch den sie sich am Leben erhält, wächst und reproduziert.
Als – soweit erkennbar – einzige selbstreflektierte Lebensform haben wir spezielle Verantwortung, dieses Leben zu verstehen, es zu umsorgen und zu stützen. Mit höflicher Mahnung entlässt uns der Autor (S. 172): „Das Leben auf der Erde ist Teil eines einzigen, ungeheuer vernetzten Ökosystems, das alle lebenden Organismen einschließt.“
Das Buch erklärt – auf dem letzten Stand der Wissenschaft – verständlich, was unter „Leben“ zu verstehen ist. Es beleuchtet wissenschaftliches Suchen und Finden, schildert aktuelle Formen und Wege internationaler und transdisziplinärer akademischer Kooperation. Es stiftet Vertrauen in sorgsames und Verständnis für engagiertes Forschen nach Erkenntnis. Es empfiehlt Achtung vor jedem Lebewesen und Verantwortung gegenüber dem Universum, dem wir angehören – nicht zuletzt gegenüber dem gemeinsamen, vielfach verästelten Stammbaum, dessen Teil wir sind.
Ein gelungenes populärwissenschaftliches Sachbuch, das Forschungswege und Wissen über „das Leben“ exquisit präsentiert. //
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