Ein Gesellschaftsvertrag umfasst Normen und Regeln, die das Verhältnis zwischen Einzelnen und Gesellschaft ordnen. Letztere repräsentiert sich in Institutionen, in rechtlichen, wirtschaftlichen und politischen Systemen. Aufgrund sozialer Dynamik wird es immer erneut notwendig, die „Verträge“ und Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft neu auszuhandeln. Zurzeit ist viel Unbehagen, Enttäuschung und Unzufriedenheit mit den Lebensbedingungen zu bemerken. Die bestehenden Gesellschaftsverträge brauchen Erneuerung.
Minouche Shafik, Direktorin der London School of Economics and Political Science sowie ehemalige Vizepräsidentin der Weltbank, analysiert aus der Perspektive des Gesellschaftsvertrags die Ursachen und Wurzeln aktueller Enttäuschungen. Sie folgt den Fragestellungen: Wie viel schuldet die Gesellschaft den Einzelnen und wieviel die Einzelnen der Gesellschaft? Welche Anpassungen sind in dieser Zeit der Umbrüche vorzunehmen?
Im einleitenden Kapitel, „Was ist der Gesellschaftsvertrag?“, skizziert die Autorin Erwartungen und gegenseitige Verpflichtungen, die sich wie konzentrische Kreise gestalten: Familie, Freunde, lokale Gemeinschaften, Nationalstaaten, Staatenunion (z. B. die Europäische Union) und letztlich die ganze Welt. Deshalb kommen diverse Formulierungen, wie „anderen etwas schulden“, „etwas zum Gemeinwohl beitragen“ oder „internationale Solidarität“ mehr in Gebrauch.
Gewachsen ist in den letzten Jahrzehnten die Bedeutung von Chancengleichheit. Unabhängig von der gesellschaftlichen Stellung bei Geburt sollen Menschen ihre Fähigkeiten und ihre Erfolgsmotivation gleich entfalten und realisieren können. Nicht festgeschriebene Hierarchien, sondern mögliche soziale Mobilität, bemerkt Shafik, wurden in den meisten Ländern Teile eines modernisierten Gesellschaftsvertrags.
Die Autorin plädiert für das Ziel, zu einem Gesellschaftsvertrag sollte ein breites Spektrum an Faktoren wie Einkommen, subjektives Wohlbefinden aber auch Fähigkeiten, Chancen und Freiheiten gehören. Zu den Kräften, die bisherige Gesellschaftsverträge in Frage stellen, zählen technologischer Wandel, Globalisierung, mehr Frauen am Arbeitsmarkt, steigende Lebenserwartung, demographischer Wandel und Umweltproteste. Die Menschen fühlen sich immer mehr „auf sich allein gestellt“.
Die Analyse und Vorschläge der Autorin, Gesellschaftsverträge, die von Land zu Land variieren, zu erneuern, basieren vorwiegend auf ökonomischen Studien des anglo-amerikanischen Sprachraums. Sie orientieren sich an drei Prinzipien:
- ein Minimum für alle, das Gesundheitsversorgung, Ausbildung, fairen Lohn und Rente zu garantiert;
- ein eigener Beitrag zum Gemeinwohl, der umgekehrt lebenslange Weiterbildung, Beihilfe zur Kindererziehung und Frauen zu arbeiten ermöglicht;
- Schutz vor Risiken, wie Krankheit, Arbeitslosigkeit, Altersarmut.
Das Kapitel „Kinder“ betrachtet diese vornehmlich unter dem Blick ihrer Betreuung und wie unterschiedliche Gesellschaftsverträge das Wohlergehen von Kindern und die ökonomische Situation von Frauen beeinflussen. Die US-Wirtschaft, referiert Shafik, habe in den letzten Jahrzehnten profitiert, weil sie durch den höheren Beschäftigungsgrad von Frauen aus einem breiteren Angebot an Fähigkeiten und Qualifikationen auswählen konnte.
„Bildung“ sieht die Autorin im darauffolgenden Kapitel, immer mehr auf ihre lebensbegleitende Funktion ausgedehnt. Zu fürchten ist allerdings wachsende soziale Ungleichheit, da sich Arbeitsplätze im Bereich Technologie, mit besserer Bildung, höherer Nachfrage und mehr Entlohnung verbinden.
Da etwa die Hälfte der Weltbevölkerung mit Smartphone und Zugang zu Suchmaschinen ausgestattet sind, wird es wichtig, Kinder, anstelle sie angelerntes Wissen reproduzieren zu lassen, mit der Fähigkeit Informationen kritisch zu sichten und zu beurteilen, vertraut zu machen.
Mit der steigenden Lebenserwartung stellt sich auch die lebensbegleitende Verteilung von Bildungszeiten neu. Die Autorin fordert ein flexibles Bildungssystem, das befähigt, sich ständig durch „geistige Anstrengungen“ neuen Herausforderungen zu stellen, auf die Instabilität von Arbeitsplätzen zu reagieren und die Nachfrage nach kognitiven Leistungen zu erfüllen.
Weitere Problemkreise, die Minouche Shafik erörtert, lauten: Gesundheit, Arbeit, Alter und Generationen. Auf Letztere bezogen fordert die Autorin Überlegungen und Reformen, wie die junge Generation mehr politisches Stimmrecht bekommen kann. Als Elemente eines neuen, den modernen Gegebenheiten angepassten Gesellschaftsvertrags, betont die Autorin: Mindesteinkommen, Bildungsanspruch, medizinische Grundversorgung und Schutz vor Armut im Alter.
Deutlich wird, besonders durch die globale Betrachtungsweise, dass bei der Änderung von Gesellschaftsverträgen – je nach den sozio-ökonomischen Bedingungen in den einzelnen Ländern – spezifische Vorgangsweisen und Zielsetzungen anzustreben sind. Keinen Zweifel lässt die Autorin an ihrer Überzeugung, wie wichtig es ist, die Bevölkerung in Gespräche und Entscheidungen einzubeziehen.
Angesichts der in Europa seit kurzem sogenannten „Zeitenwende“ – die größere Beachtung einer wehrhaften Politik – fällt auf, dass das Thema „innere und äußere Sicherheit“ keinen Platz findet. Ein Beispiel für raschen gesellschaftlichen Wandel und für weitere aktuelle Erwartungen an Gesellschaftsverträge.
Mit seiner globalen Sichtweise ist das Buch sicherlich für Fachbereiche von Interesse, die gesellschaftspolitische Dimensionen nicht ausklammern. In Bezug auf politische Bildung hebt es die Diskussion um unsere „Schuld“ hervor, sich aktiv und demokratisch an der Erneuerung bestehender Gesellschaftsverträge zu beteiligen. //
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