Zweiter Bildungsweg im Rahmen eines diversen Bildungssystems
Wenn von „Schule und Erwachsenenbildung“ gesprochen wird, wird oft der Begriff „Zweiter Bildungsweg“ („Second Chance“) assoziiert. Welche Verbindung wird da mitgedacht? Die grundlegende Semantik des deutschen und vor allem auch des englischen Begriffs legt nahe, dass es sich dabei um eine bestimmte Struktur von Bildungsangeboten handelt, die an eine mehr oder weniger erfolgreiche Erstausbildungsphase („Schule“) anschließen, diese fortsetzen bzw. nachholen. Noch in den späten 1970er-Jahren wurde im terminologischen Projekt der Konferenz der Erwachsenenbildung Österreichs (KEBÖ) „Zweiter Bildungsweg“ auch dementsprechend definiert: „Einrichtungen, Bildungsangebote und sonstige Hilfen zur Erlangung der Hochschulreife bzw. Abschlusses einer höheren Schule nach mindestens dreijähriger Unterbrechung des regulären Bildungsgangs.“ (Konferenz der Erwachsenenbildung Österreich, Projektgruppe Terminologie: 1983, S. 13).
Die Verwendung des Begriffs „Zweite Chance“ wird in Bezug auf das Nachholen von Schulabschlüssen und Basisqualifikationen im „EU Weißbuch Bildung“ 1995 zentral. „Die Ausgrenzung muss bekämpft werden“ wird darin als „Allgemeines Ziel Nr. 3“ formuliert (Kommission der Europäischen Gemeinschaften: 1995, S. 54). Neben berufseingliedernden Maßnahmen werden vor allem Schulen „der zweiten Chance“ forciert, Projektschulen, in denen jugendliche Schulaussteiger*innen abseits des Regelschulwesens mit gezielten Unterstützungen Bildungsabschlüsse erlangen können. Als „Wege in die Zukunft“ werden aber auch explizit Maßnahmen und Projekte der Erwachsenenbildung genannt (vgl. ebd., S. 35), auch hier mit den Schwerpunkten „Zweite Chance“ und „Erwerb von Grundkompetenzen und beruflichen Fähigkeiten“.
Dieser sogenannte Zweite Bildungsweg hat sich im neuen Jahrtausend aber unterschiedlich entwickelt. Die Funktion einer Bekämpfung von Ausgrenzung wurde vor allem im Grundbildungsbereich (ISCED 1-2) professionalisiert. In Österreich wurden – unter maßgeblicher Beteiligung der Volkshochschulen – didaktische und legistische Konzepte zur Basisbildung und zu einem erwachsenengerechten Pflichtschulabschluss ausgearbeitet. 2012 wurde darauf aufbauend mit dem Bund-Länder-Fördermodell „Initiative Erwachsenenbildung“ ein europaweites Vorzeige- und Erfolgsmodell ins Leben gerufen. „Ihr Ziel ist es, in Österreich lebenden Jugendlichen und Erwachsenen auch nach Beendigung der schulischen Ausbildungsphase den Erwerb grundlegender Kompetenzen und Bildungsabschlüsse unentgeltlich zu ermöglichen.“ (Initiative Erwachsenenbildung, Webseite). In diesen beiden Bereichen wird das klassische Credo des Zweiten Bildungswegs, Defizite bzw. Versäumtes aus dem „Ersten Bildungsweg“ nachzuholen, fortgeführt. Aber auch hier können Bildungsmotivationen im Sinne von Bewältigungsstrategien aus den Forschungsergebnissen von „early school leavers“ (vgl. Steiner: 2016, S. 15 ff.) nur mit Einschränkungen abgeleitet werden. Abgeleitet aus der jeweiligen Lebens- und Bildungsgeschichte der Teilnehmenden müssen verstärkt Untersuchungen berücksichtigt werden, die nicht nur – system- oder individualfokussierte – Defizitorientierung im Blick haben, sondern auch perspektivische Orientierungen inkludieren (vgl. Nairz-Wirth: 2014, S. 28 ff.).
Im Bereich höherer Bildungsabschlüsse (ISCED 3-5) – wie etwa der Berufsreifeprüfung und der Studienberechtigungsprüfung – greifen defizitorientierte Zu- und Beschreibungen überhaupt nicht mehr. Beide Abschlüsse entsprechen keiner sogenannten Erstausbildung und stellen so etwas wie multi-lebensphasenorientierte Bildungsgänge dar. In der Regel liegen Entscheidungen, einen dieser Bildungsgänge zu absolvieren, umfassende Reflexion und Neuorientierung der eigenen allgemeinen Lebenssituation zugrunde (vgl. Fritsche: 2004).
Die Bildungsangebote, die heute unter Zweiter Bildungsweg zusammengefasst sind, haben also unterschiedliche Funktionen (Defizite kompensieren bzw. neue Lebensphase starten), sind aber konstitutive Teile des österreichischen Bildungssystems. „Das Ziel des österreichischen Schulsystems ist es, Schülerinnen und Schüler den für sie individuell geeigneten Bildungsweg beschreiten zu lassen.“ (BM.BWF: Das österreichische Schulsystem, Webseite). Ohne Möglichkeiten des Nachholens von Grundkompetenzen oder grundlegenden Schulabschlüssen und ohne Bildungsangebote, die einer Gesellschaft, die nicht (mehr) durch lineare, sondern durch multi-lebensphasenorientierte Lebens-, Bildungs- und Arbeitsentwürfe gekennzeichnet ist, wäre diese grundlegende Zielformulierung nicht erreichbar. In diesem Sinne ist Erwachsenenbildung kein Anhängsel oder schmückende Beigabe, sondern unabdingbarer, eigenständiger Bestandteil eines diversen und dadurch potenziell inklusiven Schul- und Bildungssystems.
Erwachsenenbildung in Dependenz zu Schulbildung
Die Angebote des Zweiten Bildungswegs sind durch zwei Faktoren gekennzeichnet. Einerseits sind die Lernenden in diesem Bereich Erwachsene (in einer Bandbreite von jungen Erwachsenen bis Personen im Ruhestand). Bildungsangebote basieren dementsprechend auf formalen und didaktischen Konzepten der Erwachsenenbildung, auf Prinzipien erwachsenengerechten Lehren und Lernens (siehe dazu ausführlich: Brückner et al.: 2017, S. 29 ff.). Andererseits basieren formale Vorgaben (Umfang, Dauer, Kursart, Lehrenden-Qualifikationen, Prüfungsformate etc.) und gesetzliche Grundlagen (v.a. Zugangsvoraussetzungen) auf Regelungen schulischer Rahmenbedingungen. Das Verhältnis dieser beiden Faktoren zueinander ist allerdings in weiten Bereichen ein antagonistisches.
Durch solche Rahmenbedingungen werden oft Durchlässigkeit behindert und innovative Entwicklungen gebremst. Im Bereich der Berufsreifeprüfung und der Studienberechtigung haben beispielsweise die Volkshochschulen – vor allem die Wiener Volkshochschulen, aber auch die Kärntner Volkshochschulen – seit 1999 im Rahmen von esf-Projekten eLearning-Konzepte, Blended-learning-Kurse, Formen selbstorganisierten Lernens und Portfolioansätze entwickelt. Der Erfolgscharakter dieser Entwicklungen hat sich augenscheinlich 2020 in der Corona-Krise gezeigt. So haben die Wiener Volkshochschulen innerhalb von drei Wochen das gesamte Kursangebot der BRP und SBP erfolgreich auf reine Onlinekurse umgestellt. Erfolgskennzeichen war einerseits, dass die Onlinekurse von den Teilnehmenden positiv angenommen wurden, vor allem aber, dass bei den Abschlussprüfungen keine Unterschiede zur Vorbereitung in Präsenzkursen auftraten. Im Unterschied zu den Schulen waren die Kursleiter*innen an den Volkshochschulen offen, motiviert und vor allem durch die langjährigen Projekterfahrungen und internen Weiterbildungen fachlich auf die Umstellung vorbereitet.
Eine Weiterführung von reinen Online-Angeboten ist nun aber nur bei der SBP möglich, da bei der Berufsreifeprüfung formale Vorgaben den Onlineanteil anerkannter BRP-Kurse (Prüfungsberechtigung) auf 30 Prozent des Gesamtumfangs beschränken. Die während der Corona-Krise eingeführte Aussetzung dieser Vorgabe wurde mit dem Herbstsemester 2022/23 wieder aufgehoben. Ebenso wird im Bereich BRP bei der standardisierten Reife- und Diplomprüfung (Zentralmatura) auf Anforderungen der Erwachsenenbildung keine Rücksicht genommen. Dies zeigt sich offensichtlich bei der stetigen Verringerung der Zeitfenster bzw. Aufgabenstellungen bei der Kompensationsprüfung Mathematik bei den sogenannten (schulischen) Nebenterminen im September und Jänner. Weniger Zeitfenster erfordern mehr parallele Prüfungskommissionen, mehr Vorsitzende, mehr Prüfer*innen, mehr Räume (die durch das alltägliche VHS-Kursangebot belegt sind). Dass es für EB-Einrichtungen die Unterscheidung Haupt- und Nebentermin eigentlich gar nicht gibt, da zwei Mal pro Jahr Vorbereitungslehrgänge beginnen, wird dabei ignoriert. Obwohl gerade die Berufsreifeprüfung in der Erwachsenenbildung erkennbarer konstitutiver Bestandteil des Bildungssystems ist.
Nicht ohne Grund wurde ja bereits bei der Gesetzeserstellung 1997 die Beteiligung der Erwachsenenbildung im BRP-Gesetz berücksichtigt (Bundesgesetz über die Berufsreifeprüfung (Berufsreifeprüfungsgesetz – BRPG), § 8, §8a und §8b). Ohne die Einbindung der Erwachsenenbildung mit ihrem umfangreichen Beratungs- und Kursangebot wäre die quantitative Umsetzung und der qualitative Erfolg der Berufsreifeprüfung nicht möglich. Neben anderen EB-Anbietern ist auch die große Zahl an Anbieter-Volkshochschulen Indiz dafür. BRP wird an Volkshochschulen in Wien, in Niederösterreich, im Burgenland, in Kärnten, in Vorarlberg und in Oberösterreich angeboten (siehe: https://berufsreifepruefung.at/standorte/).
Kooperation VHS und Schule
Da die Angebote des Zweiten Bildungswegs konstitutive Teile des österreichischen Bildungssystems sind, können bestimmte Bildungsperspektiven aber auch Kooperationsformen schulischer Einrichtungen mit Einrichtungen der Erwachsenenbildung anstoßen. Unabhängig von Kooperationen aufgrund des Dependenzverhältnisses in formalen und organisatorischen Belangen, entstehen auch innovative bildungsorganisatorische und inhaltliche Kooperationen zwischen Einrichtungen des schulischen und Erwachsenenbildungsbereichs.
2008 bis 2015 lief zwischen den Wiener Volkshochschulen und der Bildungsanstalt für Elementarpädagogik der Stadt Wien eine Kooperation im Rahmen der geförderten Ausbildungsprojekte „Pickup“ und „Change“. Dabei wurden speziell zugeschnittene Lehrgänge zur Studienberechtigungsprüfung für das Kolleg Kindergartenpädagogik/Elementarpädagogik von den Wiener Volkshochschulen umgesetzt. Zielgruppe waren bereits in städtischen Kindergärten arbeitende, zwar ausgebildete, aber nicht diplomierte Betreuer*innen. Eine ähnliche Kooperation gibt es seit 2013 mit den drei privaten Kollegs für Sozialpädagogik in Wien. In diesem Fall wird ein eigener SBP-Lehrgang am Sonntag für Kandidat*innen, die bereits als a.o.-Hörer*innen das Kolleg besuchen, umgesetzt. Fast alle Teilnehmer*innen dieses Bildungsgangs streben einen Richtungswechsel ihrer bisher erfolgreichen Lebens- und Berufsbiographie an. In beiden Fällen wurden neben organisatorischen Kooperationen inhaltliche Schwerpunktsetzungen bei den vorgeschriebenen Prüfungsfächern ausgearbeitet. Dadurch wird der Bildungsgang nicht in unabhängige Teile zerstückelt, sondern von der Information weg über die Erlangung der Voraussetzung (SBP) bis zum Besuch und Abschluss des Kollegs als kontinuierlicher Weg empfunden. Beide Beispiele zeigen auch den Charakter des Zweiten Bildungswegs als neuer Lebens- und Bildungsperspektive, die an gelungene Bildungs- und Berufsphasen anschließt.
Dass der Zweite Bildungsweg konstitutiver Teil des Bildungssystems ist, zeigt sich auch darin, dass beispielsweise Fachhochschulen im Rahmen des dualen Studienzugangs meist keine eigenen Kurse für Ergänzungsprüfungen anbieten, sondern potenzielle Student*innen an die SBP-Kurse der Wiener Volkshochschulen verweisen. Auch die Tatsache, dass Vertreter*innen der Wiener Volkshochschulen zu Berufs- und Bildungsinformationstagen an vielen berufsbildenden mittleren Schulen eingeladen werden, um die Berufsreifeprüfung als weiterführenden Bildungsgang – eigentlich im Sinne eines Ersten Bildungswegs – zu präsentieren, zeigt die Verschränkung mit dem Schulsystem.
Resümee
Der Zweite Bildungsweg wird in diesem Beitrag als faktischer Bestandteil des österreichischen Schul- und Bildungssystems dargestellt. Die rechtliche Lage der Erwachsenenbildung und deren finanzielle Ausstattung durch den Bund entspricht allerdings nicht dieser Realität. Daher fordert der Verband Österreichischer Volkshochschulen auch die langfristige Absicherung der Initiative Erwachsenenbildung und die Aufnahme der Berufsreife- und Studienberechtigungsprüfung in die Initiative Erwachsenenbildung (siehe https://www.vhs.or.at/bildungspolitik/vhs-bildungspolitik, Bereich Basisbildung und Schulabschlüsse).
Im Beitrag wird das antagonistische Verhältnis von Schule und Erwachsenenbildung angesprochen. In diesem Sinne müssen Bildungswege, die grundsätzlich auf Erwachsene fokussieren, wie die Berufsreifeprüfung oder (schulische) Studienberechtigung, von formal-schulischen Rahmenbedingungen entkoppelt werden und in eigenständigen Strukturen erwachsenengerechter Bedingungen verankert werden. //
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