Bildungsurlaub als Initialzündung und Impulsgeber – Wirkungszusammenhänge zwischen Mehrfachteilnahme und biographischen Entwicklungen

Eine Analyse von Forschungsergebnissen zur Bildungsfreistellung (z. B. Robak u. a.: 2015; Pohlmann: 2018; Pfeiffer: 2019) weist auf eine, in unseren Augen für die gesellschaftliche Akzeptanz des Bildungsurlaubs wesentliche Forschungslücke hin: Bisher gibt es keine systematischen Untersuchungen und nur wenige empirisch belegte Erkenntnisse über mögliche langfristige biographische Wirkungen, die mit der Teilnahme am Bildungsurlaub verbunden sein können.

Wir werden im Folgenden ausgewählte Ergebnisse unseres Forschungsprojekts „Bildungsfreistellung: Hintergründe, Entwicklungen und Perspektiven. Strukturelle und biographische Aspekte zum Lernen im Lebenslauf“ vorstellen.1 Dazu skizzieren wir zunächst den bildungspolitischen Kontext als Hintergrund für die Etablierung der frühen Gesetze. Im zweiten Abschnitt werden wir einen inhaltlichen Überblick über das Projekt geben, im dritten Teil wird unser methodisches Vorgehen vorgestellt. Erste Ergebnisse der Interviewauswertungen zur Mehrfachteilnehmenden stehen im Mittelpunkt des vierten Abschnitts. Wir beschließen den Beitrag mit einem kurzen Resümee.

1 Für- und Wider: Bildungsfreistellung und bildungspolitischer Kontext

Die Verabschiedung von Bildungsfreistellungsgesetzen in Deutschland ist auf unterschiedliche nationale wie internationale Entwicklungen in den 1960er-Jahren zurückzuführen:

Zum einen stellte der Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft neue Qualifikationsansprüche an die Arbeitskräfte. Langfristige Veränderungen erforderten eine Höherqualifizierung der Gesamtbevölkerung und den Ausgleich von Bildungsdefiziten.

Zum anderen begannen in den 1960er-Jahren in der Bundesrepublik, unter anderem ausgelöst durch die Studentenbewegung, intensive Debatten um die gesellschaftliche Demokratisierung und die Partizipation der Bevölkerung. Auch hierfür wurden Bildungsprozesse als notwendig erachtet, im Rahmen von Forderungen einer generellen „Erziehung zur Mündigkeit“ (Adorno 1971) wurde intensiv über Wege der Weiterentwicklung der Urteils- und Kritikfähigkeit der Menschen debattiert.

Thematisiert wurde auch die Synthese beruflicher und politischer Bildung, damit die Menschen den veränderten gesellschaftlichen Anforderungen besser gerecht würden. Der Soziologe Willy Strzelewicz plädierte vor dem Hintergrund der Ergebnisse seiner Studie „Bildung und gesellschaftliches Bewußtsein“ (Strzelewicz u.a.: 1966) für die Etablierung von Bildungsurlaubsgesetzen aus. Nach seiner Einschätzung könnten sie zu weitergehenden Bildungsprozessen auch von Bildungsbenachteiligten führen. Sie legen den Grund für einen „einen Anreiz, eine Initialzündung“. (Ebd., 8). Auch folgende bildungspolitische Zielsetzungen der Gesetze wurden von den Akteuren diskutiert: Chancengleichheit, Erreichung von bildungsfernen Zielgruppen, Ausbau der Weiterbildung als quartärer Bereich, Eröffnung von Lernchancen.

Die Inanspruchnahme der gesetzlich garantierten Bildungsfreistellung ist nach wie vor gering und bewegt sich zwischen einem und höchstens fünf Prozent. (Vgl. Pfeiffer: 2019, 49). Dieser Befund veranlasst vor allem skeptische Arbeitgebervertreter, an der Sinnhaftigkeit des Bildungsurlaubs zu zweifeln, einige plädieren für seine völlige Abschaffung. Ein häufig vorgetragenes Argument ist der angenommen überschaubaren Nutzen – aufgrund der niedrigen Teilnahmequoten auf der einen und der geringen Transfermöglichkeiten des Gelernten am Arbeitsplatz auf der anderen Seite. (Vgl. Pfeiffer: 2019, 101).

2 Mehrfachteilnahme und biographische Wirkungen: Begründung und Zielsetzung des Projekts

Die wiederholte Kritik am Bildungsurlaub und die bis heute widersprüchlichen Einschätzungen über seine Zielsetzungen, seinen Sinn und Zweck auf der einen Seite und positiven Hinweise auf Mehrfachteilnehmende und ihre ausgeprägten Lern- und Bildungsinteressen auf der anderen Seite (vgl. Frühwacht u. a.: 2007, 65) waren Ausgangspunkt unseres Projekts.

Unser Anliegen ist es, aus der bisher eher unterbelichteten subjektiven Perspektive von Teilnehmenden langfristige biographische Wirkungen der Mehrfachteilnahme an Bildungsurlaubsveranstaltungen zu rekonstruieren. Uns interessieren ihre Begründungen für die Mehrfachteilnahme und die von ihnen thematisierten „biographischen und bildungsbiographischen Bedeutungen“. Wir unterstellen weder unmittelbare und direkt erkennbare Ursache-Wirkungsketten, noch ist es unser Anliegen, Gelerntes oder kumuliertes Wissen oder gar Erfahrungen unserer InterviewpartnerInnen auf irgendeine Art und Weise zu messen.

Zudem betrachten wir die individuellen Wirkungen, die vom Bildungsurlaub ausgehen können auch im Kontext struktureller Zusammenhänge, in die Bildungsurlaubsveranstaltungen eingebunden sind. Wir differenzieren in unserer Studie, unter Rückgriff auf ein Modell, das im gesellschaftlichen Kontext unterschiedliche Interaktions- und Handlungsebenen der Erwachsenenbildung unterscheidet, zwischen Makro-, Meso- und Mikroebene als Bedingungsrahmen des Bildungsurlaubs. (Zeuner: 2009, 4). Auf den Ebenen interagieren unterschiedliche Akteure und wirken begrenzend oder erweiternd auf das strukturelle Bedingungsgefüge des Bildungsurlaubs. Die nachfolgende Abbildung zeigt die Akteure des Bedingungsgefüges in ihren jeweiligen Wechselverhältnissen. Hierin eingebettet sind vielfältige Wirkungsdimensionen.

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Abb. 1: Wirkungsgefüge und Wirkungszusammenhänge der Bildungsfreistellung

Unsere Untersuchung berücksichtigt in unterschiedlicher Intensität und mit vielfältigen methodischen Herangehensweisen die im inneren Rechteck dargestellten Dimensionen – mit Ausnahme der Lehrenden. Unsere zentrale Forschungsfrage konzentriert sich auf die (bildungs-)biographischen Bedeutungen der Bildungsfreistellung der Mehrfachteilnehmenden:

„Welche langfristigen, subjektiven, (bildungs-)biographischen Wirkungen und Effekte hat die Mehrfachteilnahme an Veranstaltungen der politischen und/oder beruflichen Bildung im Rahmen von Bildungsfreistellungsgesetzen?“

Wir vermuten solche Wirkungen, wobei wir berücksichtigen, dass neben gezielt ausgesuchten und besuchten Bildungsangeboten vielfältige – auch en passant – genutzte Informationsmöglichkeiten, Ereignisse, Begegnungen und Aktivitäten zur Bildung des Subjekts, zur Subjektwerdung und Personalisation beitragen.

3 Methodische Vorgehensweise

Wir verfolgen einen qualitativen Forschungsansatz und orientieren uns aus subjektorientierter Perspektive an Ansätzen der Wirkungsforschung, die in den letzten Jahren v.a. in der politische Jugend- und Erwachsenenbildung erprobt wurden. (Vgl. Ahlheim & Heger: 2006; zur Kritik an der Wirkungsforschung vgl. Hufer: 2018). Eine Übersicht über die erkenntnisleitenden Interessen, Fragestellungen und Erhebungsmethoden bezogen auf die drei Ebenen zeigt die nachfolgende Tabelle.

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Tabelle 1 Analyseebenen, Erkenntnisleitende Interessen und Erhebungsmethoden

Ausgangspunkt der Untersuchung sind die gesetzlichen, organisatorischen und institutionellen Rahmenbedingungen im Sinne notwendiger Erfolgsfaktoren, die die Teilnahme an Bildungsfreistellung begünstigen (Makro- und Mesoebene). Neben Dokumenten- und Sekundärdatenanalysen wurden auf diesen Ebenen auch 25 Experteninterviews geführt (sieben Interviews auf der Makroebene und 18 Interviews auf der Mesoebene).

Im Mittelpunkt stehen die 27 explorativ-narrativen, leitfadengestützten Interviews mit einem Fokus auf biographische Lern- und Bildungsprozesse (Mikroebene). Unsere InterviewpartnerInnen2 haben entweder mehrfach Angebote der politisch-gesellschaftlichen Bildung (elf Personen) oder der berufsbezogenen Bildung (fünf Personen) im Rahmen der Bildungsfreistellung besucht, einige von ihnen auch beide Formen (elf Personen). Eine weitere Gruppe hat vorzugsweise, einige davon ausschließlich, an Bildungsurlaubsreisen teilgenommen. Es erfolgt eine an zentralen Kategorien orientierte Auswertung, nach den Prinzipien der Grounded Theory. (Straus &Corbin: 1990).

4 Wirkungen des Bildungsurlaubs aus subjektiver Perspektive (Mikroebene)

Uns interessieren an dieser Stelle primär die Wirkungen, die unsere InterviewpartnerInnen der Mehrfachteilnahme am Bildungsurlaub zuschreiben und die wir auf Grundlage der qualitativen Daten analysieren und interpretieren können. Sie reflektieren Veränderungen in Bezug auf

  1. kognitive Dimensionen, indem die Aneignung von neuem Wissen zu erweitertem Urteilsvermögen, zu Kritik- und Reflexionsfähigkeit führte,
  2. Folgen im Rahmen der Entfaltung von Lerninteressen, subjektiven Lernerfahrungen (individuell wie kollektiv) sowie Lernergebnissen,
  3. erweiterte/veränderte Handlungsmöglichkeiten und -perspektiven bezogen auf ihr Privatleben, gesellschaftliches oder politische Engagement oder den Beruf,
  4. biographische Wandlungsprozesse.

Diese Dimensionen stellen nur eine kleine, aber gut belegbare Auswahl unserer bisher in den Auswertungen erkennbaren Kategorien dar. (Vgl. Pabst: 2017; Pabst & Zeuner: 2018).

Erweitertes Urteilsvermögen, Kritik- und Reflexionsfähigkeit

In allen Interviews wird über verschiedene Formen der Wissensaneignung berichtet und die Bedeutung, die den häufig neuen Inhalten und Perspektiven beigemessen wird. Die unterschiedlichen Möglichkeiten der Wissensaneignung – bei Reisen, im Rahmen der politischen und beruflichen Bildung – bieten Anlässe und Gelegenheiten zum Austausch, zur Reflexion von Erfahrung und zum Verstehen und Begreifen und damit auch zur Erweiterung von Handlungspraktiken. Interviewte berichten über Denkanstöße, die zu Veränderungen führten und zu vertieften politischen Einsichten, die zur Erweiterung der eigenen Urteilskraft beitragen. Lernerfahrungen, durch Reisen im Rahmen des Bildungsurlaubs, werden als bereichernd erlebt und resultieren nach subjektiver Einschätzung der Befragten in größerer Urteils- und Kritikfähigkeit und zur Relationierung bisherigen Wissens und Auffassungen: „Also ich bin sehr bereichert. Habe mich eben sehr intensiv mit einem Thema und mit einer Gesellschaft auseinandergesetzt. Kann eben hier im Nachhinein viele gesellschaftliche Dinge wieder neu und anders sehen und beurteilen. Kann die Nachrichten, oder was man in den Medien mitbekommt, auch einfach besser verorten. […] Also ich habe einfach ein Stück tiefere Erkenntnis über die Welt.“ (Mikro RLP 03_234–236; 239–240).

Vereinzelt finden wir in den Interviews auch Aussagen zur Verbindung beider Bereiche, das heißt der Lern- und Bildungsnutzen wird im privaten wie im beruflichen Kontext gesehen, wie der folgende Interviewausschnitt veranschaulicht: „Also es nutzt mir fürs eigene politische Verständnis ohne Ende. Das ist klar. Und es nutzt letztlich auch bei der Einschätzung der Dinge, die ich dienstlich mache.“ (Mikro RLP 02_522–524).

Lerninteressen, Lernerfahrungen, Lernergebnisse

Die Interviews über die Mehrfachteilnahme an Bildungsurlaub fragten eingangs nach dem individuellen Anlass der Teilnahme. Sie wird teilweise inhalts- und themenbezogen begründet, aber mit spezifischen biographischen Lebenssituationen. Inhaltliche Interessen beziehen sich auf: historisches Wissen, Kennenlernen der arabischen Welt/arabische Gesellschaften in Geschichte und Gegenwart sowie in ihren Wechselbeziehungen zur europäischen Welt/zu europäischen Gesellschaften; Demokratisierungsprozesse und gesellschaftliche Strukturen in unterschiedlichen europäischen Gesellschaften; kulturelle und gesellschaftliche Bedeutung von Religion.

Die Teilnahme an berufsbezogener Weiterbildung wird häufiger begründet mit Diskrepanzerfahrungen bezogen auf das konkrete berufliche Handeln und die dort verlangten Fähigkeiten und Fertigkeiten. Probleme im sozialen Umgang ihres Betriebs führen zum Besuch von Seminaren zu Konfliktmanagement und Beratung.

Als biographische Ereignisse, die zur Teilnahme am Bildungsurlaub führen werden u.a. genannt: die intensiven Erfahrungen als junge Mutter, berufliche oder gesundheitliche Probleme. Auslöser für die erste Teilnahme einer Interviewpartnerin an einem Bildungsurlaub, auch, weil er finanziell erschwinglich war: „Also um aus dem Alltag rauszukommen und mich weiterzubilden, waren nur Themen für Persönlichkeitsentwicklung oder für/ also solche Themen interessant.“ (Mikro_RLP 09_130–132). Bereits diese erste Veranstaltung wird als „Geschenk“ verstanden, der Abstand vom Alltag wird empfunden als „eine Woche, in der es nur um mich geht und um das, was ich lernen möchte, ein Geschenk. Also das war wie fünf Wochen Urlaub in anderen Situationen“ .(Ebd., 145–146). Dem ersten Seminar folgten während der Berufstätigkeit viele weitere, und die thematischen Interessen erweiterten sich: „Ja, dieses erste Seminar hat mich auf unterschiedlichen Ebenen nochmal so motiviert, mich weiterzubilden und auch nochmal so zu gucken, was gibt es alles an Dingen, was ich lernen kann?“ (Ebd., 154–156).

Emotionale Erfahrungen, bezogen auf einen bestimmten Lerngegenstand, eine Lerngruppe und die lernende Person selbst werden als besondere subjektive Lern- und Bildungserfahrungen herausgearbeitet. Als hilfreich werden Lernformen empfunden, die den Erfahrungsaustausch fördern, die eine gemeinsame, eigenständige Wissensaneignung ermöglichen und kreative Aneignungsformen berücksichtigen. Lernen wird vor allem mit Spaß assoziiert: „Für mich ist es quasi kein stures Lernen“. (Mikro RLP 01_33). „Also eher was Entspannteres, ohne dass der Aspekt Bildung hinten runterfällt. Sondern es ist – also es hat genau den gleichen Hintergrund. Es bleibt aber besser im Kopf, weil ich sitze nicht stur da und lerne auswendig“. (Ebd._49–52). „Genau, das ist ein ganz lebendiges Lernen, ja.“ (Ebd._56).

Veränderung von Handlungsmöglichkeiten und -perspektiven

Bildungsurlaub kann zu veränderten und erweiterten Handlungsmöglichkeiten und -perspektiven führen – beruflich, privat, bezogen auf zivilgesellschaftliches oder nachbarschaftliches Engagement. Er wird von einigen Befragten als eine Möglichkeit des „Probehandelns“ erlebt, in dem man sich ausprobieren kann – nicht nur in Bezug auf konkretes Handeln im Kontext der eigenen die Lebenswelt, sondern auch im Rahmen des individuellen Lernhandelns.

Eine Interviewpartnerin berichtet über ihre Zweifel in Bezug auf die eigene Lernfähigkeit nach der Erziehungszeit und ihre Angst vor Prüfungen. Ihre Erkenntnis, „Ah, das ist bei Bildungsfreistellung nicht. Da gehen alle davon aus, dass es in Ordnung ist, wenn ich teilnehme, und in der Hoffnung, dass ich genug/ dass ich mich weiterbilde“ (Mikro_RLP 09_174–176) eröffnet ihr Räume, in denen sie ihr eigenes Lernhandeln, entlastet von äußeren Erwartungen, gestalten und weiter entwickeln kann. Dem ersten Seminar folgten während der Berufstätigkeit viele weitere. Als positiver Aspekt, der das Lernhandeln erleichtert, wird auf die Zwanglosigkeit der Lernsituation abgehoben und einschließlich des methodisch-didaktischen Prinzips des forschenden Lernens, der Möglichkeiten eröffnet, sich selbst auszuprobieren, Problemlösungen zu finden, eigene Ideen umzusetzen. Sogar in einem Power-Point-Seminar: „[…] ich konnte ein eigenes Thema […] ausprobieren, eine PowerPoint-Präsentation erstellen zu dem Thema, das mir wichtig war.“ (Ebd., 210–212). Sie fährt fort: „Also nicht Frontalunterricht, sondern schon so weit wie möglich in diesem Bereich methodische Vielfalt auch erlebt. Und das hat mir tatsächlich viel gebracht, auch für den Beruf.“ (Ebd., 154–156). Auch andere Interviewte bestätigen die Bedeutung teilnehmerorientierter Vermittlungsformen bezogen auf das Lernhandeln.

Biographische Einflüsse und Wandlungen

Die Mehrfachteilnahme an Bildungsurlaubsveranstaltungen wird von vielen unserer InterviewpartnerInnen im Nachhinein als prägend für die eigene Biographie gewertet, sie konnte auch zu Veränderungen des Lebenslaufs führen. Es wird berichtet über vielfältige Denkanstöße und Begegnungen, die Wünsche nach Veränderungen auslösten.

Einige der Interviewten schildern grundlegende, langfristige biographische Umorientierungen, bei denen die mehrfache Teilnahme an verschiedenen Bildungsurlaubsseminaren eine wesentliche Rolle spielte, aber selten allein ausschlaggebend war. Die Anregungen, die sie dort erfuhren, mündeten in einigen Fällen in weitergehende Bildungsaspirationen. Sie führten zu beruflichen Neuorientierungen, der Aufnahme eines Studiums, zum Weg in die Bildungsarbeit.

Beispielhaft steht hierfür das folgende Zitat eines jungen Mannes, der zunächst über die Jugend- und Ausbildungsvertretung seines Betriebs und später durch eigenes Engagement in der JAV vielfach an Bildungsurlaub teilgenommen hat. Er kann sich vorstellen, später eine Führungsposition zu übernehmen, wofür er sich auch weiterbilden muss: „[…] also ich habe noch keine Führungsposition, das wird auch noch dauern, bis ich so was habe, ich muss mich halt auch erstmal weiterbilden, ich muss studieren und so was in die Richtung.“ (Mikro RLP 01_1119–1121). Im weiteren Verlauf des Interviews zeigt sich, dass er erst studieren darf, wenn er zwei Jahre Berufserfahrung nach Abschluss seiner Lehre nachweisen kann, aber trotzdem hält er an seinen Bildungsaspirationen fest: „Also ich habe/also mein Ziel ist es schon, auf jeden Fall mal zu studieren in naher Zukunft. Und dann auch eine Führungsposition zu übernehmen. Also auf jeden Fall irgendwie Teamleiter oder so was zu werden.“ (Mikro RLP 01_1159–1161).

5 Vorläufiges Resümee:

„[…] ich bin mir nicht so sicher, ob ich heute da wäre wo ich bin, wenn ich nicht diesen Anstoß durch WB, also durch Freistellung gekriegt hätte.“ (Mikro RLP 09_780–783).

Die ersten Auswertungen unserer Interviews mit Mehrfachteilnehmenden zeigen, dass sich unser methodischer Zugang über explorativ-narrative Interviews als sehr fruchtbar erweist, individuelle Wirkungen des Bildungsurlaubs zu rekonstruieren. Die InterviewpartnerInnen berichten ausführlich und mit großem Engagement über ihre Erlebnisse, Einschätzungen und biographischen Veränderungen, die sie mit dem Bildungsurlaub verbinden.

Es wird auch sichtbar, dass Wirkungen mit Zielsetzungen und Erwartungen in Verbindung stehen, die sich erfüllen können oder auch nicht; die intentional verfolgt und zielgerichtet realisiert werden oder sich auch eher zufällig ergeben. Möglich ist es aber auch, dass die Teilnahme keine nachhaltigen Wirkungen zeitigt.

Dies scheint allerdings eher selten der Fall zu sein, denn unsere bisherige Analyse zeigt in Bezug auf die vier für den Beitrag ausgewählten Schwerpunkte vielfältige Wirkungszusammenhänge und Wirkungen.

So wird das neu erworbene Wissen auf unterschiedlichste Art und Weise eingeschätzt und zugeordnet: Wissen wird genutzt als Orientierungswissen; sichtbar werden Relationierungsprozesse, in denen bisheriges Wissens aufgrund von Anregungen durch Kursleitung und Mitlernende re-interpretiert wird; Wissen wird vertieft durch die Entfaltung neuer Interessensgebiete, durch Reisen. Viele Befragte bestätigen die Erweiterung ihrer Kritik- Und Urteilsfähigkeit. Es werden individuelle wie kollektive Lernprozesse angestoßen, das Gelernte wird an andere weitervermittelt, KollegInnen, Freunde, Bekannte werden zur Teilnahme ermuntert. Die Mehrfachteilnehmenden können also auch die Rolle von MultiplikatorInnen übernehmen. Bildungsurlaub als Handlungsraum und -möglichkeit wird in vielfacher Hinsicht positiv beurteilt. So entlastet er, erlaubt Probehandeln und -denken und wird als gestaltbarer Lernraum empfunden, frei von Zwang.

Langfristige (bildungs-)biographische Wirkungen sind ebenfalls zu erkennen, wobei wir unterscheiden können zwischen Teilnahmen an Bildungsfreistellungen als Folge der ohnehin bereits vorhandenen hohen Bildungsaffinität unserer GesprächspartnerInnen und Teilnahmen, die Ursache sind für sich verändernde Bildungsaspirationen. Viele berichten über Bildungsinteressen, die lebensbegleitend Einfluss auf berufliche und teilweise auch private Entwicklungen hatten. Einige integrieren die Teilnahme an Bildungsfreistellungsveranstaltungen in ihren Lebenslauf als festen Bestandteil ihrer lebensentfaltenden Bildungsprozesse, für andere führte er zu transformativen Lernprozessen und grundlegenden biographischen Veränderungen.

Abschließen möchten wir mit der Einschätzung einer Interviewpartnerin über die Relevanz von Bildungsurlaub:

„Ich würde mir natürlich wünschen, dass Arbeitgeber dem doch auch offener gegenüberstehen. Einfach doch sehen, dass ihre Mitarbeitenden, wenn auch nicht ganz direkt und eins zu eins sage ich mal, für die Arbeit dann irgendwie davon profitieren. Aber doch Menschen, die interessiert sind an der Welt, an Dingen, an anderen Dingen und die zufrieden sind, erfüllt sind, auch vielleicht bessere Mitarbeiter sind oder sowas. Und dass es guttut, wenn Leute auch eben so ein bisschen ein eigenständiges und kritisches Bewusstsein vielleicht dadurch erlangen. Was natürlich für Arbeitgeber – kritische Arbeitnehmer – vielleicht auch nicht so das ist, was er will. Aber ich finde es halt gut.“ (Mikro RLP 03_901–911). //

1   Das Projekt wird gefördert über das Hamburger Institut für Berufsbildung (HIBB) und dem Ministerium Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz. Laufzeit: 1. Juni 2017 bis 31. Mai 2019 (mit Verlängerung bis zum 31. Dezember 2019).

2   Es handelte sich um 14 Frauen und 13 Männer, im Alter von 21 bis 63 Jahren. Eine der Interviewpersonen war bereits verrentet. 16 der Interviewten kamen aus Hamburg und Umgebung, 11 aus Rheinland-Pfalz. Die Interviews hatten eine Dauer von 26 Minuten bis zwei Stunden und 14 Minuten.

Literatur

Adorno, Theodor W. (1971): Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969. Hrsg. von Gerd Kadelbach. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Alheim, Klaus & Heger, Bardo (2006): Wirklichkeit und Wirkung politischer Erwachsenenbildung. Eine empirische Untersuchung in Nordrhein-Westfalen. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.

Pabst, Antje (2017): Bildungsurlaub – Eigenzeit für Bildung mit biographisch nachhaltiger Wirkung? Eine qualitative Studie. In: Journal für Politische Bildung, 7 (2), 41–47.

Pabst, Antje & Christine Zeuner (2018): Mehrfachteilnahme am Bildungsurlaub. Bildungsbiographische Wirkungen. In: Journal für politische Bildung, 8 (3), 34-39.

Pfeiffer, Iris (2019): Evaluation des Bildungszeitgesetzes Baden-Württemberg BzG BW. Endbericht. Im Auftrag des Ministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau Baden-Württemberg. Nürnberg: f-bb. Online verfügbar unter: https://www.baden-wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/m-wm/intern/Publikationen/Arbeit/190218_Endbericht_Evaluation_BzG_BW.pdf [17.5.2019].

Pohlmann, Claudia (2018): Bildungsurlaub – Vom gesellschaftspolitische Anliegen zum Instrument beruflicher Qualifizierung? Eine Analyse der Bildungsurlaubsdiskurse in der Weiterbildung. Berlin: Peter Lang. (Studien zur Pädagogik, Andragogik und Gerontagogik, Bd. 73).

Robak, Steffi, Rippien, Horst, Heidemann Lena & Pohlmann, Claudia (Hrsg.) (2015): Bildungsurlaub – Planung, Programm und Partizipation. Eine Studie in Perspektivverschränkung. Frankfurt am Main: Peter Lang.

Strauss, Anselm & Corbin Juliet (1990/1996): Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Weinheim: Beltz Psychologie Verlags Union.

Strzelewicz, Willy (1970): Die Bedeutung des Bildungsurlaubs für die gesellschaftspolitische Debatte. In: Karl Heinz Neumann (Hrsg.)‚ Bildung für alle?‘ Ergebnisse einer Arbeitstagung mit Experten an der Evangelische Akademie Bad Boll (S. 7–11). 2. Aufl. Bad Boll: Evangelische Akademie.

Strzelewizc, Willy, Raapke Hans-Dietrich & Schulenberg, Wolfgang (1966): Bildung und gesellschaftliches Bewußtsein. Stuttgart: Klett.

Zeuner, Christine (2009): Erwachsenenbildung: Dimensionen der Praxis. In: Christine Zeuner (Hrsg.), Enzyklopädie Erziehungswissenschaft Online. Fachgebiet: Erwachsenenbildung. DOI 10.3262/ EEO16090019. Weinheim: Beltz Juventa

Zeuner, Christine (2017): Bildungsurlaub: Begründungen, Entwicklungen und Perspektiven. In: Journal für politische Bildung, 6 (2), 26–33.

Zeuner, Christine/Pabst, Antje (2019): Bildungsurlaub als Initialzündung und Impulsgeber – Wirkungszusammenhänge zwischen Mehrfachteilnahme und biographischen Entwicklungen. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Frühjahr/Sommer 2019, Heft 267/70. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.