Die europäischen Gesellschaften werden seit den Fluchtbewegungen im Jahr 2015 vor neue Herausforderungen gestellt. Positive Erfahrungen im Umgang mit Flüchtlingen und Fluchtbewegungen kommen in den öffentlichen Diskursen kaum vor, die Ursachen der Fluchtbewegungen werden ausgeblendet und auf andere Gründe für die markanten Veränderungen der Gesellschaft wird wenig Bezug genommen. Gegenwärtig wird vor allem betont, dass Geflüchtete die österreichische Identität bedrohen. Der Diskurs über Flucht und Fluchtbewegungen verdeckt andere Problemfelder, über die diskutiert werden sollte, wie Ungleichheit, Wiederkehr eines neuen populistischen Autoritarismus oder den immer weitergehenden Abbau des Sozialstaates.
Was eine Gesellschaft zusammenhält!
Doch was sind Grundvoraussetzungen für funktionierende Gesellschaften und welche Werte, Konventionen und Einstellungen halten Gesellschaften tatsächlich zusammen? Wer bestimmt, welche Kriterien dabei in den Fokus geraten und welche kaum Beachtung finden? Sind es wirklich die Geflüchteten, die das Miteinander bedrohen? Oder liegen die Herausforderungen ganz woanders, und wovon lenkt die Debatte ab? Im Rahmen der Tagung an der Volkshochschule Linz diskutierten mehr als 70 ErwachsenenbildnerInnen, PolitikerInnen und Interessierte darüber, was unsere Gesellschaft verbindet und welchen Beitrag die Erwachsenenbildung zum konstruktiven Miteinander leisten kann.
Harte Verhandlungen. Ist Wertepluralität eine Bedrohung für die Demokratie?
Den Einleitungsvortrag hielt Mark Terkessidis . Terkessidis ist freier Autor und arbeitet zu den Themen: (Populär-)Kultur, Migration, Rassismus und gesellschaftlicher Wandel. In seinem Beitrag thematisierte er Wertepluralität. Diese wird fast immer mit Einwanderung in Verbindung gebracht, obwohl es schon zuvor einen massiven Wertewandel gab und die schwerwiegenden Konflikte über Werte zumeist nichts mit Migration zu tun haben (Abtreibung, Familie etc.). Tatsächlich finden sich bei der Bevölkerung mit Migrationshintergrund die gleichen Milieus wie in der Gesamtbevölkerung. Dabei leiten sich Werte keineswegs nur von ethnischer Herkunft ab, sondern entstehen in einer komplizierten Gemengelage zwischen Ungleichheit und Diskriminierung. Wertepluralität ist für eine Demokratie normal und es stellt sich die Frage, warum sie eine Bedrohung darstellen sollte. Die Debatte über wertbasierte Leitkultur, die vor der Geltung des Gesetzes eingehalten werden muss, geht von einer Bedrohung aus, die so nicht vorliegt. Zur Stärkung der Demokratie muss in einer Gesellschaft der Vielheit der gesellschaftliche Zusammenhalt durch verstärkte Kollaboration, also Zusammenarbeit aktiv hergestellt werden.
Nach einer intensiven Diskussion des Beitrages wurde in Workshops und Kleingruppen weiter diskutiert. Elisabeth Feigl und Lena Seewan leiteten einen Workshop zum Thema: „Werte zwischen Vielfalt und Konsens?“ Im Rahmen des Workshops wurde eine aktuelle interdisziplinäre Wertestudie der Universität Wien vorgestellt. In der Folge diskutierten die TeilnehmerInnen, was unter Werten verstanden werden kann; wie die Wertevielfalt das Zusammenleben in Europa prägt, und wie der ethischen Anspruch eines sozial ausgewogenen Miteinanders durch intendierte Wertebildung unterstützt werden kann.
Thomas Fritz stellte in seinem Workshop „Ablenkung und Renationalisierung“ die Frage, ob es denn wirklich so ist, dass „wir“ ZuwanderInnen die österreichischen bzw. europäischen Werte vermitteln müssen? Und was sind diese überhaupt? Oder soll die so genannte „Wertedebatte“ von anderen sozialen Problemen in unserer Gesellschaft ablenken?
Was kann Erwachsenenbildung zur gesellschaftlichen Kohäsion beitragen?
In einem abschließenden Beitrag thematisierte Annette Sprung „Ansätze und Spannungsfelder“ und die möglichen Antworten der Erwachsenenbildung auf gesellschaftliche Desintegrationsprozesse. Diese Antworten fallen – je nach zugrundeliegender Problemdiagnose – sehr unterschiedlich aus. Sie reichen von zielgruppenspezifischen Inklusionsprogrammen für benachteiligte Gruppen bis hin zu diversen Formaten der politischen Bildung, die u. a. mit Schlagworten wie „active (global, inclusive) citizenship“ einhergehen. Mit dem Vortrag wurden internationale Diskurse und Ansätze der Erwachsenenbildung zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts kritisch diskutiert. Neben organisierten Bildungssettings wurde dabei auch das Potenzial zivilgesellschaftlichen Engagements für einschlägige informelle Lernprozesse in den Blick genommen. Annette Sprung ist Bildungswissenschafterin an der Universität Graz mit Arbeitsschwerpunkten in der Erwachsenenbildung, insbes. zu Migration, Transnationalisierung, Rassismus und Diversität. //
Weitere Informationen und die Vorträge zum Nachhören unter http://minderheiten.at/index.php/component/content/article/6/631-2018-09-26-14-14-31
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