Freier Zugang zu Bildung in allen Lebensphasen – historische Überlegungen zur demokratiepolitischen Bedeutung der Volks-hochschulen

1. Vorbemerkungen

Anders als noch zu Ende des 19. Jahrhunderts herrscht heute im Bereich öffentlich finanzierter Erziehung und Bildung kein Zweifel an der Bedeutung und dem Wert von Chancengerechtigkeit beziehungsweise Chancengleichheit – nach den Bildungsreformen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelten sie seit langem als demokratische Selbstverständlichkeiten. 

Aber obwohl der Zugang zu Wissen, Bildung und Information heute quer durch alle Schul- und Ausbildungsangebote prinzipiell allen gleichermaßen offensteht – die nötigen zeitlichen Ressourcen und die materiellen Mittel einmal vorausgesetzt –, nimmt die seit längerem konstatierte gesellschaftliche Polarisierung in sogenannte „Bildungsverlierer“ und „Bildungsgewinner“ trotz aller positiven ­Wirkungen des lebenslangen Lernens gegenwärtig de facto weiter zu.2

Der Prozess der Demokratisierung von Wissen und Bildung, der zu Beginn der europäischen Moderne eingeleitet wurde, scheint heute in der Ära neoliberaler Ideologien und postdemokratischer Erosionstendenzen paradoxerweise wieder an seinem einstigen Ausgangspunkt angelangt zu sein. Im Unterschied zum 19. Jahrhundert beruhen die heutigen Barrieren im Zugang zu Wissen und Bildung jedoch nicht auf dem intendierten Ausschluss der Bevölkerungsmehrheit von (höherer) Bildung, Information und Mitbestimmung, sondern auf dem Zusammenwirken hemmender sozialer, kultureller oder ökonomischer Ausgangslagen, die biografische Benachteiligungen schaffen hinsichtlich der politischen Partizipation, der individuellen und kollektiven Selbstorganisationsfähigkeiten sowie der allgemeinen „Lesbarkeit der Welt“ (Hans Blumenberg) – Benachteiligungen, die, ebenso wie Vermögensunterschiede, freilich gewiss nicht der Eigenverantwortlichkeit der jeweiligen Individuen zuzurechnen sind. 

Das zentrale Anliegen der frühen Erwachsenenbildung, Zugang zu allen Bereichen des Wissens, der Bildung und der Kunst für die gesamte Bevölkerung zu ermöglichen, hat somit auch in der postulierten digitalen „Wissensgesellschaft“ nur wenig von seiner einstigen emanzipatorischen Bedeutung verloren. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass sich die kognitive Kluft zwischen dem Expert*innenwissen und dem Wissensstand der breiten Bevölkerung eher vergrößert als verkleinert, was sich etwa in der Gesundheitsbildung deutlich zeigt.3

Auch wenn sich seit der Gründung der ersten Volksbildungsvereine vor mittlerweile über 135 Jahren durch eine Reihe von politischen Umbrüchen und gesellschaftlichen, politischen und sozialen Reformen in demokratischer Hinsicht vieles zum Positiven verändert hat, bedarf es angesichts der nach wie vor bestehenden beziehungsweise auch neuen Bildungsbarrieren und Bildungsungleichheiten gemeinnütziger Angebote zum Bildungs- und Wissenserwerb sowie des gezielten Abbaus von Vorurteilen und der Stärkung von individueller und gesellschaftlicher Kritikfähigkeit. 

Zudem hat die jüngste pandemische Krise hinreichend deutlich gemacht, dass es ohne einen ethisch-moralischen Fortschritt, d. h. ohne eine das ganze Volk (pan-demos) betreffende kritische Aufklärung, Bildung und gemeinschaftlich getragene Entscheidungen keinen menschlichen Fortschritt geben kann – weder im Hinblick auf nationale noch auf dringende globale Krisen und Problemlagen.4

2. Ausgangssituation und ideelle Grundlagen der frühen Volksbildung

Über Jahrhunderte hinweg war der Zugang zu Bildung und Wissen vom sozial-gesellschaftlichen Status abhängig und durch Zugangsbarrieren strikt reglementiert. 

Nicht zuletzt aufgrund der weit verbreiteten Kinderarbeit lag die Rate der Lese- und Schreibunkundigen in Wien – trotz der Schulreform von 1869 – bis knapp vor dem Ersten Weltkrieg noch bei rund 25 Prozent.5  Lesen und über das Gelesene reflektieren zu können, sich aus eigener Kraft weiterbilden zu können, war daher ein Politikum ersten Ranges. Der in der kämpferischen Losung „Bildung macht frei“ zum Ausdruck kommende Anspruch auf Selbstbestimmung und Freiheit bezog Frontalopposition zu dem von Adel und Klerus seit der Gegenreformation insgeheim gepflegten Analphabetismus der werktätigen „Untertanen“.

Wie Eduard Leisching, Kunsthistoriker und zentrale Gründerfigur des „Wiener Volksbildungsvereins“, der Keimzelle für alle nachfolgenden Volkshochschulen in Wien, schrieb, hatte man „Angst vor der Gefahr geistiger Befreiung des Volkes, in der richtigen Annahme, dass die politische ihr auf dem Fuß folgen werde.“6

Vor dieser Ausgangssituation vollzog sich Ende des 19. Jahrhunderts ähnlich wie in vielen anderen europäischen Staaten auch in Österreich der Aufstieg von vereinsrechtlich organisierten Formen von Volksbildung und wissenschaftspopularisierenden Aktivitäten, die auf dem Gedanken der Selbsthilfe beruhten.

Auf Grundlage der Forderung nach politischer Mitbestimmung und dem Fortschrittsoptimismus des liberalen Bürgertums und der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung – zu erinnern ist an dieser Stelle an die Schlagwörter „Wissen ist Macht“ und „Bildung macht frei“ –, entstand gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein neuartiges, durch zivilgesellschaftliche Initiativen geschaffenes Modell urbaner Bildungs- und Wissensvermittlung. 

Im Gegensatz zu einer Eliten- oder Standesbildung waren die Bildungsangebote der Wiener Volkshochschulen – im Sinne des oft zitierten Leitspruchs „Wissen für alle“ – an alle Männer und Frauen aller Stände und Klassen, Konfessionen, Parteizugehörigkeiten und Altersgruppen gerichtet und umfassten von Beginn an auch Kinder und Jugendliche. Hierbei wurden insbesondere jene gesellschaftlichen Gruppen und Schichten gezielt angesprochen, die kaum oder keinen Zugang zu valider Information und wissenschaftsbasiertem Wissen hatten – also „bildungsbenachteiligte“ Gruppen, primär die Arbeiterschaft, aber auch niedere Angestelltenschichten und die niedere Beamtenschaft. Grundsätzlich sollten freilich möglichst alle Bevölkerungsgruppen durch die freiwillige Teilnahme an den möglichst flächendeckend-dezentralisiert und egalitär organisierten Bildungsangeboten zu einem aufgeklärten, kritischen und umfassenden Verständnis von sich und der Welt gelangen, mit dem Ziel einer intellektuellen Emanzipation des Individuums. 

Mit dem Angebot an sogenannten „grundlegenden Fächern“ (also Lesen, Schreiben und Rechnen) kompensierte die frühe Volksbildung einerseits das völlig unzureichende, auf Drill und Unterwürfigkeit ausgerichtete öffentliche Schulsystem, andererseits offerierten die wissenschaftsorientierten Kurse und Vorträge aus allen Gebieten moderner Wissenschaft, Technik, Kunst, Literatur, Musik und Gesundheit erstmals einen niederschwellig organisierten Zugang zu höherer Bildung, Wissenschaft und wissenschaftlichem Arbeiten auch für Lai*innen. 

3. Zentrale Charakteristika der frühen Volkshochschulen und ihrer Vorläufereinrichtungen

Nach vereinzelten Initiativen zur Wissenschaftspopularisierung und der Gründung einer Reihe städtischer Volksbildungsvereine in den im Reichsrat vertretenen Königreichen und Ländern, so etwa in Graz (1870), Linz (1872) oder in Krems (1885), schlug sich der in den meisten europäischen Staaten einsetzende Volksbildungsboom Ende der 1880er-Jahre auch in der Reichsmetropole Wien nieder. Innerhalb kurzer Zeit wurden bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts jene an wissenschaftlicher Erkenntnis orientierten Volksbildungseinrichtun-gen gegründet, deren Praxis für die weitere Entwicklung des Volksbildungswesens richtungsweisend wurde. Namentlich waren dies der 1887 gegründete „Wiener Volksbildungsverein“, die 1895 nach dem Vorbild der extramuralen Kurse an den Universitäten Oxford und Cambridge vom akademischen Senat der Universität Wien eingerichteten „volkstümlichen Universitätsvorträge“7, sodann die 1897 mit Unterstützung des Niederösterreichischen Reformclubs ins Leben gerufene Wiener Urania sowie zuletzt die 1901 gegründete erste europäische Volksuniversität, die Volkshochschule »Volksheim« Ottakring.8

Ausgestattet mit modernen Lehrmitteln sowie funktionalen und zugleich schön gestalteten Räumen, welche modern ausgestattete Laboratorien, großzügig angelegte Hörsäle, naturwissenschaftliche Kabinette, lichtdurchflutete Lesesäle, umfangreiche Fachbibliotheken und Turnsäle umfassten und darüber hinaus auch die Möglichkeit zur Observation des Himmels boten, repräsentierten die ersten Volkshochschulen „realutopische“ Orte kollektiven Lernens, friedvoller Verständigung und persönlicher Weiterentwicklung.

Das Bildungsangebot umfasste nahezu den gesamten Fächerkanon jener Zeit, angefangen von allen Bereichen moderner Naturwissenschaften, vielen Fachbereichen der Medizin und Technik, bis hin zu Philosophie, Geschichtswissenschaft, Geografie, Volkswirtschaft und Staatswissenschaften. Außerdem erfolgte eine intensive Beschäftigung mit Kunst und Literatur, die unter engagierter Beteiligung hochrangiger und oft prominenter Literat*innen, Künstler*innen, Architekten, Musiker*innen, Tänzerinnen und Theaterschauspieler*innen als Mitwirkende auf durchwegs beachtlichem Niveau stattfand.

Dieser neuartige Bildungsbetrieb und sein Veranstaltungsangebot erzielten einen nachhaltigen bildungspolitischen Effekt. Dieser sollte, wie Ludo Moritz Hartmann (1865–1924) als zentraler Doyen der Volkshochschulbewegung hervorhob, in nichts Geringerem als im „Denken lernen“ bestehen – und zwar einem Denken, das sich von jeglichem irrationalen Aberglauben emanzipiert und auf Grundlage wissenschaftlich fundierter Erkenntnisse und logischer Argumente das kritische Urteilsvermögen schult und stärkt. 

Eine Besonderheit der wissenschaftsorientierten Volkshochschularbeit bestand seit Anbeginn darin, dass wissenschaftliche Forschungsprozesse für Lai*innen nicht nur nachvollziehbar, sondern durch spezielle Angebotsformate in teils langjährig bestehender Seminarform (sogenannte „Fachgruppen“) auch mitgestaltet werden konnten. Dabei ging es nicht darum, Teilnehmer*innen zu „Gelehrten“ zu machen oder verwertbare Abschlusszertifikate zu verleihen, sondern um die Auseinandersetzung mit einzelwissenschaftlichen Themen und Fragestellungen, die der Schulung der eigenen, selbständig-kritischen Urteilskraft dienen sollten.

Der demokratiepolitische Effekt einer derartigen kritischen Denkschulung bestünde, wie Ludo Moritz Hartmann es formulierte, in der quasi selbstorganisierten Abwehrkraft gegenüber vormodernen Zumutungen intellektuell-geistiger Irreführung und autoritärer Gängelung: „Wer richtig denkt“, so Hartmanns empathische Überzeugung, „wird das seinen Erfahrungen Gemäße wählen und wird nicht nur ein nützliches Mitglied des Staates und der Gesellschaft, sondern auch […] der gegebene Hüter der Demokratie und der sichere Verächter der Demagogie sein.“9

Abgesehen von der fachlichen Qualität der Vortragenden beruhte das bildungspolitische Konzept der frühen Volkshochschulen insbesondere auf der strikten Entkoppelung von Wissensvermittlung und Ideologie. Intendiert waren wissenschaftliche Objektivität und weltanschaulich-politische „Neutralität“ des Bildungsprogramms, das von allen tages- oder parteipolitischen Fragen freigehalten werden sollte. 10

Bis in die Erste Republik bildete die „Schulung durch […] wissenschaftliche[s] Denken“11 sowohl das zentrale Leitmotiv der volksbildnerischen Bemühungen als auch den Hauptangriffspunkt katholisch-konservativer und völkischer Kreise sowie der vaterländischen Gleichschaltungspolitik des Austrofaschismus. Es verwundert kaum, dass dieses Bildungsverständnis, dessen aufklärerische Absicht zutiefst demokratisch war, immer wieder in scharfen Gegensatz zu den konservativ-klerikalen Organen und Behörden der Habsburgermonarchie geraten war. 

Aus Sicht der Obrigkeit stand die Wiener Volksbildung von Beginn an unter dem Verdacht gesellschaftlich-politischer Umtriebe, da jede wissenschaftsorientierte Bildung des Proletariats als gefährliche Vereinnahmung und Irreführung „wahrer“ christlicher Volksbildung schärfstens abgelehnt und zudem einer jüdisch-freimaurerischen „Konspiration“ verdächtigt wurde. 

So wurde etwa der mit den Vereinsstatuten 1901 eingereichte Name „Volkshochschule“ für die neugeschaffene ‚Volksuniversität‘ im Arbeiterbezirk Ottakring von der Vereinspolizei kurzerhand verboten, da die begriffliche Verbindung von gemeinem Volk und Hochschule anstößig schien, ja geradezu einen umstürzlerischen Klang hatte. Die Proponenten dieser ersten Abend-Volksuniversität in Europa, darunter hochrangige Wissenschafter wie Ernst Mach oder Ludwig Boltzmann ebenso wie die Vereinsfunktionäre selbst mussten sich zunächst mit dem weit harmloser und weniger verdächtig klingenden Namen „Volksheim“ bescheiden, ohne jedoch vom ursprünglichen Konzept abzuweichen.

4. Proponenten, Klientel, demokratiepolitische Stoßrichtung und edukatives Konzept der Volkshochschulen

Die Besonderheit und Bedeutung dieser insbesondere vom liberalen Bürgertum und von der aufstrebenden sozialdemokratischen Arbeiterbewegung unterstützten Lernorte war zweifacher Natur. Erstens handelte es sich um eine völlig neuartige Kooperation von moderner Wissenschaft und der (potenziell) gesamten Bevölkerung auf institutioneller Grundlage. Der im Zusammenhang von Bildung und Erziehung bis ins 19. Jahrhundert traditionell eher abwertend gebrauchte Begriff „Volk“ definierte die Klientel hauptsächlich in sozialer Hinsicht: Als Zielgruppe angesprochen waren – im Fall der Bevölkerung Wiens – potenziell alle interessierten Einwohnerinnen und Einwohner, und zwar unabhängig von deren jeweiliger Herkunft, den Besitz- beziehungsweise Einkommensverhältnissen, dem jeweiligen Vorwissen, den religiösen Überzeugungen oder dem Geschlecht. Das Gleich-heitspostulat und der moralphilosophische Universalismus der Aufklärung verknüpften sich hier mit dem sozial- und bildungspolitischen Modell einer demokratischen Öffentlichkeit – die es, ebenso wie das allgemeine Wahlrecht, freilich erst zu etablieren galt. 

Hartmann – zentraler Gründer u. a. der „Volks-Hochschule“ Ottakring – unterstrich diese enge Verbindung zwischen wissenschaftsorientierter Volksbildung und dem Kampf um Demokratie durch seine Aussage, dass es „kein zufälliges Zusammentreffen“ gewesen sei, dass das Gebäude der ersten Volksuniversität „an demselben Tage [5. November 1905, d. Verf.] eröffnet wurde, an welchem die erste große Demonstration im Kampfe für das allgemeine, gleiche Wahlrecht die Straßen Wiens füllte.“12

„Demokratie und Volksbildung sind Begriffe, die sich ergänzen“ schrieb Hartmann an anderer Stelle und sprach sich auf Grundlage des postulierten Gleichheitsbegriffs mit dem Konzept einer wissenschaftsorientierten Volksbildung nicht nur für eine demokratisch-republikanische Ordnung aus, sondern schuf durch die Verknüpfung von Bildung, Wissenschaft und Volk in Form einer methodisch und didaktisch innovativen Bildungspraxis auch eine Schule der Demokratie, lange bevor demokratische Mitbestimmung zu einer politischen Realität wurde.

In seiner Schrift „Volksbildung und Demokratie“, die erst Anfang der 1920er-Jahre publiziert wurde, ging Ludo Hartmann auf die drei, seiner Ansicht nach zentralen Grundprinzipien einer freien und demokratischen Volksbildungsarbeit ein, nämlich Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.13 Diese Grundprinzipien finden sich sowohl in administrativ-organisatorischer, methodisch-didaktischer sowie konzeptionell-bildungstheoretischer Hinsicht sowohl ausgesprochen als auch realisiert. Das gleichrangige Neben- und Miteinander von Expert*innen und Lai*innen, die Gleichstellung der Geschlechter, das gemeinsame Lernen einer sozial stark inhomogenen Hörer*innenschaft, das friedliche Nebeneinander unterschiedlicher Ethnien und Religionszugehörigkeiten sowie egalitär strukturierte Lehr- und Lernsituationen machten die Volkshochschulen zur Zeit von Monarchie und Erster Republik zu hochgradig innovativen Orten einer vorweggenommenen gesellschaftlichen Utopie. 

In sozialreformerischer Hinsicht bedeutete dieses volksbildnerisch angewandte Egalitäts-prinzip vor allem Hilfestellung für die sozial unterprivilegierten Schichten, was die wissen-schaftsorientierte Wiener Volksbildung mit einem sukzessive steigenden Anteil an Arbeitern und Arbeiterinnen unter den Teilnehmenden – in den 1920er-Jahren lag dieser bei durchschnittlich 40 Prozent – erfolgreich umzusetzen vermochte.14 Hervorzuheben ist, dass auch der Anteil an Frauen mit rund 35 Prozent vergleichsweise groß war.15

Das spezifische Volkshochschul-Milieu, das solidarische Miteinander, die gleichrangigen sozialen Umgangsformen „auf Augenhöhe“ sowie die inspirierende Atmosphäre an den „Volksuniversitäten“, die durch einen ausgeprägten Fortschritts- und Bildungsenthusiasmus gekennzeichnet war, schufen die Grundlage für mitunter langjährige Kooperationen unterschiedlicher gesellschaftlicher Personengruppen wie etwa von bürgerlichen Universitätsprofessoren und sozialdemokratisch organisierten Industriearbeiterinnen und -arbeitern, wie dies etwa in den angesprochenen „Fachgruppen“ der Fall war.

Die sonst existierenden sozialen und politischen Scheidewände waren unter den Teilnehmenden der Volksbildungskurse zumindest ein Stück weit aufgehoben. So bekundete auch Bürgermeister Karl Seitz anlässlich der Eröffnung der Zweigstelle Brigittenau der Volkshochschule Ottakring, dass die Stadt Wien die Volkshochschulen „mit allen verfügbaren Mitteln“ unterstützen werde, und fügte mit einem Seitenhieb auf die konservativ-reaktionäre Wiener Universität an, dass es mit der Institution Volkshochschule „wenigstens eine Hochschule gibt, die nicht Parteipolitik betreibt.“16

Insbesondere in der Zeit des „Roten Wien“ entfalteten sich die Volkshochschulen, die ihr Programm weiterhin „fern aller und jeder Politik“ (Ludo Moritz Hartmann) hielten, nicht zuletzt auch auf Basis von finanziellen Zuwendungen durch die Gemeinde Wien zur ersten Hochblüte. Bereits Mitte der 1920er-Jahre versorgte ein Netz von neugegründeten Zweigstellen die Wiener Bevölkerung mit einem breiten Angebot, das sich von Basisbildung, Kreativ- und Freizeitkursen über künstlerische und wissenschaftliche Einzelveranstaltungen und aufbauende Vortragsreihen bis hin zu den seminarartig intensiven Lernformen der halbautonomen Fachgruppen erstreckte. Daneben boten die Stammhäuser sowie einzelne ihrer Filialen Gelegenheit zu kostengünstiger Lektüre von Büchern, Zeitschriften und Tageszeitungen, die, wie etwa in der großen Lesehalle in der Volkshochschule »Volksheim« Ottakring, noch dazu in angenehmer und anregender Atmosphäre gelesen werden konnten.

Wie an keinem anderen öffentlichen Ort zur Zeit der Ersten Republik – von den traditionellen Bildungsinstitutionen ganz zu schweigen – war eine derartige kulturelle und soziale Mischung verschiedener gesellschaftlicher Schichten möglich: ein vom Prinzip her gleichrangiges Neben- und Miteinander, das auch das traditionell streng hierarchische Verhältnis zwischen Lehrpersonen und Schüler*innen veränderte, indem die Lehrenden vom bildungspolitischen und methodischen Anspruch her den Lernenden gleichgestellt waren: beide sollten vom Wissen, den Fähigkeiten, den Erfahrungen und den Kompetenzen der anderen lernen.

Es ist das große historische Verdienst der frühen Volkshochschulen und ihrer Vorläufereinrichtungen, durch eine breite zivilgesellschaftliche Initiative einen modernen, emanzipatorischen Lern- und Begegnungsraum für eine integrativ und partizipativ angelegte „Bildung für alle“ geschaffen zu haben. Durch die institutionalisierte Form einer solidarisch-kooperativen Wissensvermittlung und Bildungsmöglichkeit für die breite Bevölkerung – im Schnitt immerhin rund 600 Interessierte pro Abend – gelang es erstmals, die traditionelle Kluft zwischen gelehrten Experten und wenig vorgebildeten Lai*innen zu überbrücken. 

Durch die programmatische Offenheit gegenüber allen Innovationen moderner Wissenschaft, Kunst und Literatur sowie allen Fragen des täglichen Lebens entwickelten sich die Volkshochschulen im Roten Wien darüber hinaus auch rasch zu einem Forum für progressive pädagogische Methoden und wissenschaftliche Ansätze, die an der Universität und den Hochschulen der Zwischenkriegszeit, wenn überhaupt, nur marginal Platz fanden. Exemplarisch sei hier auf die Entwicklung der Experimentalpsychologie, der Individualpsychologie, der Existenzanalyse, auf Ansätze einer modernen Kunstsoziologie, auf den Logischen Empirismus des Wiener Kreises, auf prototypische Anläufe zu einer profunden Politischen Bildung (etwa durch Hans Kelsen) sowie auf einzelne, bisher völlig unbeachtet gebliebene Modelle einer experimentell-heuristischen Vermittlung moderner Mathematik verwiesen.

Diese Tradition einer wissenschaftszentrierten Volksbildung, die erstmals und nachhaltig eine demokratische Alternative zum öffentlichen Drill-Schulwesen sowie zur elitären Universität institutionalisierte, wurde durch den Austrofaschismus und anschließend durch den Nationalsozialismus zerstört.17

Die anschließende Vertreibung und Vernichtung der Vernunft und Bildung, von der insbesondere eine große Zahl jüdischer Intellektueller, Künstler*innen und Wissenschafter*innen, die in der Zwischenkriegszeit an den Volkshochschulen engagiert mitwirkten, besonders betroffen war, traf die gewachsene Struktur der Volkshochschulen klarerweise ins Mark.18 In Summe hatten jene zur Flucht gezwungenen, in den Suizid getriebenen oder in Konzentrations- oder Vernichtungslagern ermordeten Intellektuellen, Wissenschafter*innen, Künstler*innen, Schriftsteller*innen oder auch Vereinsfunktionär*innen durch ihre oftmals unentgeltliche oder nur sehr gering dotierte Mitwirkung – abgesehen von der inhaltlichen Qualität des Bildungsangebots – maßgeblich zum außergewöhnlichen Flair und zur kulturellen Atmosphäre der Wiener Volkshochschulen der Zwischenkriegszeit beigetragen. 

5. Neue gesellschaftliche und bildungspolitische Herausforderungen nach 1945

Trotz der Vertreibungs- und Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus, die einen schweren Kahlschlag für die wissenschaftsorientierte Wiener Volkshochschulbewegung bedeutete, wurde nach 1945 ideell und konzeptionell versucht, an die Vorkriegstradition anzuschließen. Die früheren Vereins-Volkshochschulen wurden unmittelbar nach Kriegsende wiedergegründet, aber die spezifische Form und der Geist jener frühen Erwachsenenbildungsarbeit konnte allein schon infolge der Vertreibung und Vernichtung der besten Köpfe des Landes, worunter sich auch zahlreiche Vortragende und Teilnehmer*innen befanden – immerhin konnten im Zusammenhang eines laufenden Forschungsprojektes zu den „NS-Opfern im Bereich der Wiener Volkshochschulen“19 bis dato über 2190  in Konzentrationslager deportierte beziehungsweise zu Flucht und Emigration gezwungene Vortragende, Kursleiter*innen und Funktionär*innen recherchiert werden –, nicht überleben. Hinzu kommt, dass die tiefgreifenden sozioökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen der Nachkriegszeit auch neue strukturelle und inhaltliche Anforderungen für die Erwachsenenbildungsarbeit mit sich brachten, was ein direktes Anknüpfen an die frühere Bildungsarbeit zusätzlich erschwerte. 

Dennoch haben die Volkshochschulen in der Zweiten Republik einen enormen Aufschwung genommen und mit ihrem mutigen und großteils keineswegs konfliktscheuen Bildungsprogramm einen wichtigen Beitrag für einen demokratischen und antifaschistischen Wiederaufbau geleistet.20

Nach den verschiedenen Entwicklungsphasen nach 1945 – von der räumlichen Expansion, der Dezentralisierung durch eine Vielzahl an Neugründungen sowie von Zweigstellen, der kontinuierlichen Ausweitung des Veranstaltungsbetriebs, der quantitativen Steigerung des Angebots und der Teilnahmezahlen, über die Neuorientierung inhaltlicher sowie methodisch-didaktischer Herangehensweisen, der Schaffung zentraler administrativer und pädagogischer Strukturen, der zunehmenden Professionalisierung und Dienstleistungs-orientierung der Volkshochschulaktivitäten, bis hin zu einer Vielzahl neuer Projekte und Kooperationen – haben sich die Volkshochschulen innerhalb der österreichischen Erwachsenenbildungslandschaft zur mit Abstand führenden Einrichtung weiterentwickelt. 

In Wien begann mit der 2008 vollzogenen Strukturreform und der Gründung der Wiener Volkshochschulen GmbH eine neue Ära konsolidierter Volkshochschularbeit, in der sich Erbe und traditionelle Werte mit dem Management gegenwärtiger und bevorstehender Herausforderungen in effizienter und dynamischer Form verbinden. 

6. Resümee und Ausblick

Das von den urbanen Volkshochschulpionieren initiierte Experiment einer „geistigen Stadterweiterung“ (Friedrich Jodl) führte zu einer Demokratisierung von Bildung und Wissen in einer bisher nie dagewesenen Qualität und Quantität. Die herausragenden Leistungen und der weit über die Landesgrenzen hinaus beachtete Erfolg bis in die Zwischenkriegszeit sowie die konsequente Weiterentwicklung unter geänderten Vorzeichen nach 1945 haben die weitere Entwicklung der Erwachsenenbildung in ganz Österreich wesentlich vorangetrieben. 

Trotz aller politischen und gesellschaftlichen Umbrüche und Zäsuren des 20. Jahrhunderts haben sich die Volkshochschulen ihr weit zurückreichendes Traditionskontinuum bewahrt. Nach wie vor sind sie der Forderung nach Überparteilichkeit und Überkonfessionalität verpflichtet, die auf Basis demokratischer Grundsätze und Werte allerdings die aktive Positionierung gegen Intoleranz, Diskriminierung und Ausgrenzung miteinschließt. 

Die Volkshochschulen waren und sind auch heute Orte der Begegnung von „leibhaftigen“ Menschen und keine virtuellen Zentren oder digitalen Lernplattformen – auch wenn diese analogen Qualitäten der traditionellen Bildungs- und Weiterbildungspraxis infolge der pandemiebedingten Notwendigkeit eines forcierten Ausbaus von Online-Formaten temporär ins Hintertreffen gerieten.

Historisch bedeutsam und insbesondere für die Wiener Volkshochschulen spezifisch war die Ausbildung eines eigenen Volkshochschulmilieus, einer „Volkshochschul-Community“, die durch die Vernetzung mit verschiedenen Reformbewegungen und zivilgesellschaftlichen Initiativen die Qualität einer vergleichsweise breiten Volkshochschul-„Bewegung“ entfalten konnte. Der Bedarf daran sinkt in Zeiten wachsender Unsicherheit, steigender Ungleichheit und vertiefter sozio-ökonomischer wie politisch-ideologischer Spaltungen der Gesellschaft keineswegs, im Gegenteil: In solchen Zeiten bedarf es der Volkshochschule umso mehr – als offener Ort lebendiger Begegnung der verschiedenen Generationen, der unterschiedlichen Meinungen, Kulturen, Weltanschauungen und Lebensstile. Es bedarf eines Lernortes, an dem sich „viel Volk“ versammelt, es bedarf eines Begegnungsraums, wo ein gemeinsames Ziel geteilt wird, das alle Teilnehmenden in einem kleinsten gemeinsamen Nenner eint: nämlich zu lernen, mehr über sich und die (Um-)Welt zu erfahren, und sich dabei gemeinsam weiterzuentwickeln. 

Im Sinne einer gelebten demokratischen Weiterentwicklung scheint dieses Modell einer kulturell pluralen, kooperativen und auf Kritikfähigkeit und Urteilskraft setzenden emanzipatorischen „Bildung für alle“ gerade unter den Vorzeichen einer globalisierten Gesellschaft – samt globalen Krisenszenarien – demokratiepolitisch aktuell wie selten zuvor. //

1   Koenig, Otto (1922), Romantische Volkshochschulmethodik. In: Arbeiter-Zeitung, 21. März, 7.

2   Vgl. Quenzel, Gudrun & Hurrelmann, Klaus (2009): Bildungsverlierer. Neue Ungleichheiten, Wiesbaden: VS Verlag 2010.

3   Schwarzer, Christine & Buchwald, Petra (2009), Gesundheitsförderung und Beratung. In: Rudolf Tippelt & Bernhard Schmidt (Hrsg.), Handbuch Bildungsforschung, 2. erw. Aufl. (S. 903–905), Wiesbaden: Springer 2009.

4   Gabriel, Markus (2020): „Wir brauchen eine metaphysische Pandemie“, 21. März 2020. Verfügbar unter: https://www.tabularasamagazin.de [6.3.2024].

5   Vgl. Rumpler, Helmut & Seeger, Martin (Bearb.) (2010): Die Gesellschaft der Habsburgermonarchie im Kartenbild. Verwaltungs-, Sozial- und Infrastrukturen. Nach dem Zensus von 1910 (Die Habsburgermonarchie 1848–1918, IX/2), Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2010, 228–229.

6   Leisching, Eduard (1978): Wie ich zur Volksbildung kam. In: Robert A. Kann &Peter Leisching (Hrsg.), Ein Leben für Kunst und Volksbildung. Eduard Leisching 1858–1938. Erinnerungen. Fontes rerum Austriacarum. Scriptores, Abt.1, Bd. 11 (S. 64), Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

7   Dazu im Detail: Taschwer, Klaus (2002): Wissenschaft für viele. Zur Wissenschaftsvermittlung im Rahmen der Wiener Volksbildung um 1900. Phil. Diss., Univ. Wien.

8   Stifter, Christian H. (2005): Geistige Stadterweiterung. Eine kurze Geschichte der Wiener Volkshochschulen, 1887–2005 (Enzyklopädie des Wiener Wissens, Bd. III), Weitra: Verlag der Provinz, 38–45.

9   Hartmann, Ludo Moritz [1920] (1965): Nachdruck: Volksbildung und Demokratie. In: Hans Altenhuber & Aladar Pfniß (Hrsg.), Bildung – Freiheit- – Fortschritt. Gedanken österreichischer Volksbildner (S. 132–134), Wien: Verband Österreichischer Volkshochschulen.

10   Siehe: Ganglbauer, Stephan (1999): „Neutrale“ Volksbildung und die „wertungsfreie Wissenschaft“. Die „Sehnsucht nach Schicksal und Tiefe“ und der Richtungsstreit in der deutschsprachigen Volksbildungsbewegung der 20er-Jahre. In: Spurensuche. Zeitschrift für Geschichte der Erwachsenenbildung und Wissenschaftspopularisierung, 10 (1–4), 60–84.

11   Lampa, Anton (1927): Kritisches zur Volksbildung (Volk und Geist, Schriften zur Volksbildung, Heft 4), Berlin: Verlag Volk und Geist 1927, 13.

 Hartmann, Ludo M. (1921): Ein Kulturjubiläum. Zum zwanzigsten Geburtstag des Ottakringer Volksheims. In: Arbeiter-Zeitung, 24. April, Nr. 111, 2.

12   Hartmann, Ludo M. (1921): Ein Kulturjubiläum. Zum zwanzigsten Geburtstag des Ottakringer Volksheims. In: Arbeiter-Zeitung, 24. April, Nr. 111, 2.

13   Hartmann, Ludo Moritz (1919): Demokratie und Volksbildung. In: Volksbildung. Monatsschrift für die Förderung des Volksbildungswesens in Deutschösterreich, 1 (1), 1–14.

14   Filla, Wilhelm (1994): Arbeiter als Teilnehmer in den Wiener Volkshochschulen der zwanziger Jahre. In: Christian Stifter (Hrsg.), Arbeiterbildung und Volkshochschule. Von den Anfängen bis in die Zwischenkriegszeit. Schweiz – Deutschland – Österreich. Tagungsbericht. Wien: Eigenverlag, II/2 ff.

15   Vgl. Stifter (2005): Geistige Stadterweiterung, a.a.O., 78.

16   Arbeiter-Zeitung, 14. Oktober 1925, Nr. 282, 7.

17   Siehe: Stifter, Christian H.  & Streibel, Robert (2019): Nationalsozialismus und Volkshochschulen in Wien. Einblick in ein laufendes Recherche- und Forschungsprojekt zu den Opfern. In: Spurensuche. Zeitschrift für Geschichte der Erwachsenenbildung und Wissenschaftspopularisierung, 28 (1–4), 52–65.

18   Siehe dazu: Stifter, Christian H.  & Streibel, Robert (2020): »… und mich freudig zum National-Sozialismus bekenne!«. Die Neuordnung der Wiener Volkshochschulen 1938–1945: Gleichschaltung, Programmstruktur, Karrieristen und Täter. In: Spurensuche. Zeitschrift für Geschichte der Erwachsenenbildung und Wissenschaftspopularisierung, 29 (1–4), 139–187

19   Informationen zum Projekt sind online verfügbar unter: https://www.vhs.at/de/ns-opfer#forschungsprojekt-und-ausstellung [3.4.2024].

20   Siehe dazu ausführlich: Ganglbauer, Stephan, Stifter, Christian H. & Streibel, Robert (2010), Kein Ort des Verdrängens. Die Auseinandersetzung mit Austrofaschismus und Nationalsozialismus an Wiener Volkshochschulen. In: Jahrbuch 2010. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes. Schwerpunkt: Vermittlungsarbeit mit Jugendlichen und Erwachsenen (S. 143–185), Wien: DÖW 2010.

Stifter, Christian H. (2024): Freier Zugang zu Bildung in allen Lebensphasen – historische Überlegungen zur demokratiepolitischen Bedeutung der Volks-hochschulen. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Frühjahr/Sommer 2024, Heft 282/75. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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