Transformatives Lernen als neue Theorie-Perspektive in der „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ (BNE)
Die Kernidee transformativen Lernens und seine Bedeutung für informelles Lernen

„Education is not widely regarded as a problem, although the lack of it is. The conventional wisdom holds that all education is good, and the more of it one has, the better […]. The truth is that without significant precautions, education can equip people merely to be more effective vandals of the earth.“
(Orr: 2004, 5)

Transformative Bildung als Bildung für Transformation?

Der Begriff „Transformative Bildung“ ist seit dem Gutachten des WBGU zur „Großen Transformation“ (2011) in der deutschsprachigen Nachhaltigkeitsszene beliebt geworden. Der entwicklungspolitische Dachverband VENRO hat es im Rahmen einer eigenen Veranstaltung im Vorfeld der nationalen Abschlusskonferenz zur UN-Dekade BNE aufgegriffen und ein Diskussionspapier „Globales Lernen als transformative Bildung für eine zukunftsfähige Entwicklung“ veröffentlicht. Der Leiter der Abteilung Politik beim evangelischen Entwicklungsdienst „Brot für die Welt“, Klaus Seitz, hat in einem Vortrag in Loccum Ende Juni 2015 sieben Thesen über eine Transformative Bildung aufgestellt. (Vgl. Seitz: 2015). Besonders in der Szene des globalen Lernens avanciert das Konzept zu einem beliebten Schlagwort, um eine Bildung für eine nachhaltige Transformation zu beschreiben.

Die Popularität des Konzeptes der transformativen Bildung geht einher mit einer zunehmenden Kritik an einer BNE (Huckle & Wals: 2015), die vor allem aus Sicht einiger zivilgesellschaftlicher Akteure nicht radikal genug ist und vor allem die Dimension globaler Verteilungsgerechtigkeit und die damit verbundene Wachstumskritik zu langsam aufgreift (Selby & Kagawa: 2011). Zu wenig wird gefragt, inwiefern auch das herkömmliche Bildungssystem zu einer nicht-nachhaltigen Werteentwicklung beiträgt. (Seitz: 2015,13 f.; VENRO: 2014,10 f.) und die mentalen Infrastrukturen (Welzer: 2011) entscheidend in einem nicht-nachhaltigen Sinne mitprägt. Doch was steckt hinter diesem neuen Hype? Was ist mit einer transformativen Bildung gemeint?

Der wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung für globale Umweltveränderungen (WBGU) hat den Begriff in seinem Hauptgutachten von 2011 erstmals prominent in die Debatte gebracht. Er beschreibt die Rolle der Bildung in der gesellschaftlichen Transformation in Richtung Nachhaltigkeit in zweifacher Hinsicht. Einerseits skizziert er eine Transformationsbildung, die auf der Grundlage der Erkenntnisse aus der Transformationsforschung eine Bildung zur Teilhabe ermöglicht. (WBGU: 2011, 374). Sie reflektiert „kritisch die notwendigen Grundlagen, wie ein fundiertes Verständnis des Handlungsdruckes und globales Verantwortungsbewusstsein […]. Gleichzeitig generiert sie Ziele, Werte und Visionen, um dem Handeln Einzelner die notwendige Richtung zu geben.“ (Ebd., Hervorhebung durch die Autorin).

Andererseits beschreibt der WBGU eine transformative Bildung, „die ein Verständnis für Handlungsoptionen und Lösungsansätze ermöglicht. Dazu gehören zum Beispiel Wissen zu klimaverträglichem Mobilitätsverhalten, Wissen zu nachhaltiger Ernährung oder Wissen zu generationenübergreifender Verantwortung. Entsprechende Bildungsinhalte betreffen z. B. Innovationen, von denen eine transformative Wirkung zu erwarten oder bereits eingetreten ist“ (ebd., Hervorhebung durch die Autorin). Mit diesem zweifachen Bildungsverständnis hat der WBGU zwar inhaltlich an die Debatten angeknüpft, die auch im Rahmen einer BNE oder des globalen Lernens geführt werden, allerdings ohne die Konzeptionen der Transformationsbildung und transformativen Bildung konzeptionell und theoretisch zu unterfüttern oder an die erziehungswissenschaftliche Diskussion zurückzubinden.

Das würde (außer einige spitzfindige WissenschafterInnen) nur wenige AkteurInnen besonders stören. Was an dem WBGU-Verständnis von transformativer Bildung jedoch auch aus einer praktischen Perspektive zu kritisieren ist, dass es eine Art der Bildung skizziert, die häufig als instrumentelle Bildung für Nachhaltigkeit gefasst wird. (Vgl. u.a. Vare & Scott: 2007;  Sterling: 2010). Sie informiert Individuen über die Notwendigkeit eines globalen Wandels und unterstützt sie dabei, ihr Handeln auf der Grundlage rationaler Entscheidungen in Richtung eines geringeren ökologischen und sozialen Fußabdruckes auszurichten. (Vare & Scott: 2007, 193). Auch viele der internationalen BNE-Dokumente greifen auf solch ein Bildungsverständnis zurück, das Bildungsprozesse direkt in den Dienst gesellschaftlicher Transformationsprozesse im Kontext von Nachhaltigkeit stellt. Dies dient der besseren Durchsetzung einer BNE, weil solch ein Bildungsverständnis im Konzept relativ klar ist und das Potenzial hat, kurzfristig und schnell ökologische und soziale Wirkungen zu erzielen. (Vgl.  ebd.).

Transformative Bildung als Bildung zur Emanzipation

Kritisch angemerkt wird bei solch einer Bildung für Nachhaltigkeit, dass sie Lernprozesse instrumentalisiere und die Lernenden zu wenig dazu ermuntere in einem demokratischen und oft auch kontroversen Diskurs über Nachhaltigkeit zu partizipieren. Wichtige Fragen werden bei einem stärker instrumentellen Bildungsansatz ausgeklammert: Wo kommt das relevante Nachhaltigkeits- bzw. Transformationswissen her? Wer hat die Themen und Wissensgebiete für das Lehr-/Lernsetting ausgesucht und nach welchen Maßstäben wird bewertet?  

Letztlich bindet sich eine so verstandene transformative Bildung/BNE einen Bären auf, denn schnell wird die Frage aufgeworfen, inwiefern es legitim ist, Lernende mit der Transformationsaufgabe Nachhaltigkeit mit der Absicht der persönlichen Verhaltensänderung zu konfrontieren. Laut dem Beutelsbacher Konsens darf vor allem die politische Bildung nicht  auf eine Verhaltensänderung bei den Lernenden abzielen, da sie sonst die Pluralität diverser Möglichkeiten in einer demokratischen Gesellschaft negiere (vgl. Wehling: 1977) und die Lernenden in den eigenen politischen Meinungen „überwältige“.

Daher wird in den emanzipatorischen Ansätzen BNE im Sinne einer Bildung als nachhaltige Entwicklung (Vare & Scott: 2007; Sterling: 2010; Wals u. a.: 2008) beschrieben und damit auf das Ziel verwiesen, Individuen zu befähigen, in gesellschaftlichen Transformationsprozessen aktiv zu partizipieren. Die emanzipatorische Form der BNE umfasst die kritische Reflexion und kontroverse Diskussion von individuellen und gesellschaftlichen Leitbildern, Normen und Werten. Was bedeutet Nachhaltigkeit im spezifisch kulturellen Kontext? Wie sieht eine globale und gerechte Gesellschaft in den planetaren Grenzen aus? Welches Ziel verfolgen darin Bildungsakteure und was ist die Qualität der spezifischen Lernerfahrung?

Mit der emanzipatorischen Form der BNE wird die Selbstreflexionsfähigkeit von Individuen gestärkt und ihre Fähigkeit gefördert, als Folge einer diskursiven Praxis autonom Entscheidungen treffen können. (Vgl. Sterling: 2010, 514). Hier sollen nicht Nachhaltigkeitswerte von Lehrenden an Lernende vermittelt werden, sondern kritisches Denken bei Lernenden kultiviert werden – auch wenn das in manchen Fällen bedeutet, dass Individuen kurzfristig nicht unbedingt nachhaltigere Verhaltensweisen entwickeln. Der WBGU beschreibt zwar als Ziel einer Transformationsbildung eine „Bildung zur Teilhabe“ (WBGU: 2011, 374); diese würde sich mit seinem Bildungsverständnis daher auf den ersten Blick in die emanzipatorischen Ansätze einreihen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass auch der WBGU den Lernenden „die notwendige Richtung“ (ebd.)  vorgeben will, von denen eine „transformative Wirkung zu erwarten“ (ebd.) ist. Letztlich bleibt im Gutachten offen, wie diese transformative Bildung konkret aussehen kann und welche didaktischen Methoden zu ihrer Umsetzung vorgeschlagen werden.

Transformative Lerntheorien und ihr Potenzial für BNE/Globales Lernen

Ein Blick in die Theorien der Erwachsenenbildung kann hier weiter Aufschluss geben, denn das transformative Lernen ist als Perspektive bereits seit einigen Jahrzehnten diskutiert und entwickelt worden. Herkömmliche Lerntheorien gehen meist von einem additiven Verständnis von Lernen aus. In erfolgreichen Lernprozessen soll bei den Lernenden neues Wissen zu bisherigen Wissensbeständen hinzugefügt werden und so zu veränderten Handlungsdispositionen beitragen. Lernende sollen sich besser erinnern und konkret abgesteckte Aufgaben und Probleme lösen können. Was viele Lerntheorien nur unzureichend beachtet haben, ist die Reflexion als Ausgangspunkt und Bedingung (1) für überlegtes Handeln, (2) für eine veränderte Interpretation von Kontexten und Situationen sowie (3) für die Verankerung des Gelernten im dauerhaften Interpretations- und Handlungsrepertoire. (Vgl. Mezirow: 1997, 82).

Hier setzen die Ansätze des transformativen Lernens an. Sie sehen erfolgreiche Lernprozesse dann, wenn sich die grundlegenden Muster, die dem menschlichen Wahrnehmen und Interpretieren zugrunde liegen, verändern. „Transformatives Lernen beinhaltet einen tiefen strukturellen Wandel der Grundannahmen des Denkens, Fühlens und Handelns. […] Es beinhaltet unser Selbstverständnis und unsere Selbstverortung: unsere Beziehung zu anderen menschlichen Wesen und zur natürlichen Welt, unser Verständnis von Machtbeziehungen in verschränkten Strukturen der Klasse, der Rasse, des Geschlechtes, unser Verständnis des eigenen Körpers, unsere Visionen alternativer Lebensentwürfe und unseren Sinn für Möglichkeiten für das Erreichen sozialer Gerechtigkeit und persönlicher Erfüllung.“ (O’Sullivan, Morrell & O’Connor: 2002, xvii; Übersetzung durch die Autorin). Das transformative Lernen lenkt also den Blick nicht auf einen Zuwachs an Wissen und Kompetenzen, sondern auf eine Veränderung der Grundvoraussetzungen des menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns.

Ein wichtiger Vordenker des transformativen Lernens ist Jack Mezirow gewesen. Er beschrieb diese Grundvoraussetzung des menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns als Bedeutungsperspektiven (vgl. Mezirow: 1997, 4) im Sinne orientierungsgebender Schablonen für die Wahrnehmung und Interpretation neuer Erfahrungen. (Vgl. ebd., 10). In gewisser Weise funktionieren diese Bedeutungsperspektiven wie Brillen, die vor unseren Augen sitzen und uns eine objektive Wahrnehmung verwehren. (Vgl. Arnold: 2009, 29).

Gerade weil sie im Alltag ein hohes Maß an Sicherheit bieten, sind sie besonders schwer zu verändern – sie sind identitätsgebend und emotional verankert. (Vgl. auch Zeuner: 2012 bzw. Illeris: 2013).

Die Problemstellungen der Nachhaltigkeit sind jedoch besonders oft mit Fragen der Identität verknüpft. Welche Bedeutung wird einer gesunden und intakten Umwelt sowie einer globalen Gerechtigkeit zugeschrieben? Inwiefern sieht sich das lernende Individuum selbst als wirksam an, wenn es sich in Nachhaltigkeitsfragen engagiert? Wie stehen wichtige Bezugspersonen der Lernenden persönlichen Veränderungen in Richtung eines auf ökologische und soziale Gerechtigkeit ausgerichteten Handelns gegenüber, also wie sind individuelle Handlungsveränderungen sozial anschlussfähig? Das sind Fragen, die im Rahmen von transformativen Lernprozessen Identitäten verändern können – nicht als große Identitäts-Neuentwürfe, aber als nuancierte Veränderungen von Perspektiven, die für Lernende identitätsprägend sind. Diese Form der persönlichen Veränderungen geht weit über einen reinen Wissenszuwachs über Transformationsprozesse hinaus.

Da die Bedeutungsperspektiven von den Lernenden selbst relativ schwer zu verändern sind, werden transformative Lernprozesse meist durch Irritationen in den persönlichen Weltbildern und kleinen Krisen in den Perspektiven auf die Welt und das Selbst ausgelöst. (Mezirow: 1997;  auch Koller: 2012, 71). Diese Irritationen können beispielsweise dann auftreten, wenn die Lernenden einschneidende und berührende Erfahrungen machen: Filme über Massentierhaltung, Erfolge in größeren politischen Projekten, die Mitwirkung in einer Transition-Town-Initiative und die sich damit wandelnde Bedeutung von Nachbarschaftshilfe.

Auf der Grundlage solcher Erfahrungen werden bisherige Bedeutungsperspektiven reflektiert und einer Veränderung zugänglich gemacht. Ein entscheidender Faktor dabei ist ein herrschaftsfreier Diskurs mit Mitlernenden und die Möglichkeit, über diese Veränderungen kollektiv reflektieren zu können (vgl. Mezirow: 1991); denn tatsächlich werden viele der transformativen Lernprozesse in einem informellem Raum erlebt. Im geschützten Raum einer Gruppe kann die Reflexion und daraus folgend eine Emanzipation von bisher verborgenen Bedeutungsperspektiven oder Welt- und Selbstbildern ausprobiert und gefestigt werden.

Auf dieser Grundlage können Lernende neue Bedeutungsperspektiven aufbauen und erproben. Letztlich führt dies zu mehr Reflexivität und zu einer veränderten Beziehung (Sterling: 2010) mit der menschlichen und nicht-menschlichen Mitwelt. Es ist genau dieser tiefe strukturelle Wandel in den Grundannahmen des Denkens, Fühlens und Handelns, der in der Konsequenz auch dazu führt, dass globale Ungerechtigkeit und Ausbeutung von Mensch und Natur von Lernenden besser wahrgenommen und bearbeitet werden können.

Besonders die südamerikanischen Ansätze der Befreiungspädagogik (Freire: 1970) haben diesen emanzipativen Aspekt von Lernprozessen herausgearbeitet und das transformative Lernen damit maßgeblich um eine kollektiv-soziale Perspektive erweitert. Hier steht eine Bewusst-Werdung als Instrument der Befreiung des Menschen von subtilen Unterdrückungsmechanismen oder latenten Alltagsideologien (Brookfield: 2000) im Mittelpunkt. Ermöglicht durch einen herrschaftsfreien Raum und den ehrlichen Dialog auf Augenhöhe erproben Lernende im Rahmen problemorientierter Lernsettings ein Wechselspiel von Aktion und Reflexion das letztlich zu einer gemeinsamen Bewusst- Werdung über gesellschaftliche Missstände führt und diese auch verändern kann.

Transformative Lernprozesse konkret – eine Fallstudie im informellen Raum

Transformative Lernprozesse wurden auch im Rahmen einer Fallstudie der „Hochschulbildung für nachhaltige Entwicklung“ untersucht. (Vgl. Singer-Brodowski: 2016). Dafür wurden die Lernprozesse Studierender in einem selbstorganisierten Nachhaltigkeitsseminar an der Universität Erfurt im Bereich des „Studium Fundamentale“2 analysiert. In diesem Seminar haben Studierende verschiedener Disziplinen die Möglichkeit eigene Projekte zu entwickeln und umzusetzen. Im Rahmen einer Vorlesungsreihe werden zu Beginn des Semesters zunächst zentrale Themen der Nachhaltigkeit vorgestellt.

Anschließend findet ein Treffen mit PraxispartnerInnen (aus der Stadtverwaltung, aus Bildungseinrichtungen, Schulen und Nichtregierungsorganisationen der Stadt Erfurt) statt, auf dem die PraxispartnerInnen sich selbst, ihre Organisationen und konkrete Projektideen für eine Zusammenarbeit mit den Studierenden vorstellen. Über einen Zeitraum von ungefähr acht Wochen arbeiten die Studierenden danach mit den Praxisakteuren zusammen, bereiten die Projekte vor und setzen sie um. Beispiele für Projekte sind die didaktische Konzeption und Realisierung eines Waldtages für Kinder einer lokalen Grundschule oder die Organisation eines konsumkritischen Stadtrundgangs.

Zusätzlich haben die Studierenden die Option, eigene Projektideen zu entwickeln und gemeinsam mit ihren KommilitonInnen durchzuführen. Das didaktische Prinzip der Selbstorganisation erfordert von den Studierenden, dass sie alle notwendigen Schritte zur Vorbereitung, Umsetzung und Nachbereitung der Projekte selbst gestalten. Die Projektergebnisse werden am Ende des Semesters einem hochschulöffentlichen Publikum vorgestellt und im Rahmen einer Projektmesse diskutiert. Zur wissenschaftlichen Bewertung der Leistung wird von den Studierenden ein wissenschaftlicher Reflexionsbericht angefertigt, der die Projekterfahrungen in die theoretische Debatte um Nachhaltigkeit/BNE einordnet.

Der selbstorganisierte Charakter des Seminars wird dadurch unterstrichen, dass ein studentisches Organisationsteam für die Koordination des gesamten Seminars zuständig ist. Es stellt die Rücksprachen mit den wissenschaftlichen MentorInnen sicher, macht Vorschläge für die ReferentInnen der einführenden Vorlesungen und ist erster Ansprechpartner für die anderen Projektgruppen sowie für die PraxispartnerInnen. Die wissenschaftlichen MentorInnen wiederum motivieren und unterstützen das Organisationsteam bei der Realisierung der Seminargestaltung.

Die Fallstudie stellte die Frage in den Mittelpunkt, wie Studierende in diesem selbstorganisierten und problemorientierten Nachhaltigkeitsseminar lernen und wie sie sich den Lerngegenstand Nachhaltigkeit in diesem Seminar erschließen. Insgesamt wurden 18 Interviews geführt, zwei Gruppendiskussionen mit zwei unterschiedlichen Organisationsteams realisiert und die Planungsseminare des Organisationsteams per Video aufgezeichnet. Die Ergebnisse der Fallstudie finden sich ausführlich in Singer-Brodowski (im Erscheinen).

Im Kontext des Ansatzes transformativen Lernens kann festgehalten werden, dass die Studierenden sich den Lerngegenstand Nachhaltigkeit, das Nachhaltigkeitskonzept erschlossen, indem sie bei den für sie subjektiv relevanten Aspekten begannen, eigene Muster zu reflektieren (eigene Ernährungsgewohnheiten, eigene Vorstellungen von wirksamen lokalen Nachhaltigkeitsengagement, eigene Wertvorstellungen bezüglich der Organisation im Team). Diese Aspekte waren im Sinne von Bedeutungsperspektiven eng mit den Identitäten der Studierenden verknüpft und damit ihrer Wahrnehmung und Interpretation der Welt zugrundegelegt. Ein Beispiel kann das gut verdeutlichen. Eine Studentin beschrieb zu Beginn des Seminars, dass ihr eigenes Nachhaltigkeitsengagement aus „kleinen Projekten“ bestehe (Verzicht auf Fleisch in der eigenen Ernährung, Schonung von Ressourcen im alltäglichen Leben). Durch die Teilnahme an dem Seminar begann sie auch „größere Projekte“ zu erkennen und diese in ihrer Wirksamkeit zu verstehen. Damit meinte sie lokale Nachhaltigkeitsnetzwerke, politische Initiativen und Nachhaltigkeitsorganisationen in der Stadt, die sie vorher nicht wahrgenommen hatte. Durch die Seminarteilnahme erfuhr sie, wie Nachhaltigkeit nicht nur im individuellen Leben umgesetzt werden kann, sondern auch als struktureller und politischer Prozess vor Ort Wirkung zeigen kann – ein Wandel ihrer Bedeutungsperspektive bezogen auf die Wirksamkeit in kleinen und großen Projekten.

Insgesamt nutzten die Studierenden vor allem den informellen Raum der selbstorganisierten Gruppenarbeit dazu, über ihre subjektiv relevanten Bedeutungsperspektiven zu reflektieren. Sie gelangten darüber zu einer gesteigerten Reflexivität und zu verantwortungsvolleren Handlungen. Nicht zuletzt konnten sie in den Projektgruppen Wertvorstellungen, biographische Erfahrungen im Kontext Nachhaltigkeit und Emotionen diskutieren. Vor allem das informelle Format der selbstorganisierten Projektgruppen ermöglichte ihnen, dass sie in einem hierarchiefreien Diskursraum individuelle Handlungsalternativen besprachen oder darüber verhandelten, wie ihre eigenen Projekte Nachhaltigkeitskriterien genügen konnten.

Transformative Lernprozesse ermöglichen

Aus der Theorie transformativen Lernens und den Ergebnissen der Fallstudie können für die Praxis der BNE/des globalen Lernens einige Empfehlungen abgeleitet werden. Zwar kann zu Recht angezweifelt werden, ob sich transformative Lernprozesse initiieren und steuern lassen, doch einige didaktische Elemente können dazu genutzt werden, sie zu ermöglichen.

Eine wesentliche Voraussetzung für die Stimulierung transformativer Lernprozesse sind problembasierte und selbstorganisierte Lehr-Lern-Settings, in denen Lernende konkrete Erfahrungen mit Nachhaltigkeit machen und Reflexionsräume über diese Aktivitäten nutzen können. (Vgl. auch Taylor: 2007, 182). Es ist das Wechselspiel von Aktion und Reflexion, das auch in verschiedenen anderen didaktischen Methoden ermöglicht werden kann (Zukunftswerkstätten, Planspiele, Podiumsdiskussionen etc.). Was in allen didaktischen Methoden dabei zentral bleibt, ist die Intensität der Erfahrung und die Qualität der Reflexion darüber.

Der informelle Charakter kleiner Projektgruppen zur Umsetzung eines Nachhaltigkeitsprojektes bietet dabei diskursive Räume zur kontroversen Auseinandersetzung zwischen Lernenden über Nachhaltigkeitsthemen. Dabei repräsentieren die Lernenden meist eine Wertepluralität im Kleinen, die auch gesamtgesellschaftlich existiert. Es kann daher sehr fruchtbar sein, Lernende mit einem hohen Grad an Nachhaltigkeitserfahrung mit „Nachhaltigkeits-Newcomern“ zu mischen. Dann werden Ziel- und Wertekonflikte, die charakteristisch für Nachhaltigkeitsthemen sind, zwischen den Lernenden verhandelt, ohne dass es zu einer Beeinflussung oder Überwältigung der Lehrenden kommen kann. Dafür ist es entscheidend, dass die informellen Projektgruppen hierarchiefreie Diskursräume kultivieren und beispielsweise am Anfang der Projektarbeit Kommunikationsregeln erstellt werden.

Nicht zuletzt lenkt die Perspektive des transformativen Lernens den Blick auf krisenhafte Erfahrungen und emotionale Berührtheit im Kontext eines Nachhaltigkeitslernens. Besonders die normativen Problemstellungen der Nachhaltigkeit lösen häufig auch negative Gefühle der Überforderung, Hilflosigkeit oder auch des Widerstandes bei Lernenden aus. Diese Gefühle sollten von Lehrenden sensibel aufgenommen und begleitet werden, zum Beispiel in einer kollektiven Thematisierung oder individuellen Reflexion. Dann können auch die positiven Emotionen die mit Nachhaltigkeit verknüpft sind, stärker zur Geltung kommen, wie zum Beispiel die Selbstwirksamkeitserfahrung in der Realisierung konkreter Projekte. //

1  Mit freundlicher Genehmigung des Forums Umweltbildung und der Autorin entnommen aus: Jahrbuch Bildung für nachhaltige Entwicklung – Im Wandel. https://www.umweltbildung.at/shop/im-wandel/

2   Siehe: https://www.uni-erfurt.de/nachhaltigkeit/studium-fundamentale-sustainability/ [12.2.2022]. 

Literatur

Arnold, Rolf (2009): Seit wann haben Sie das? Grundlinien eines emotionalen Konstruktivismus. Heidelberg: Carl Auer.

Brookfield, Stephen D. (2000): Transformative learning as ideology critique. In: Jack Mezirow (Ed.), Learning as transformation. Critical perspectives on a theory in progress (pp. 125–148). San Francisco: Jossey-Bass.

Freire, Paolo (1970): Pedagogy of the oppressed. Continuum Publishing Company, New York

Huckle, John & Wals, Arjen E. J. (2015): The UN Decade of Education for Sustainable Development: business as usual in the end. In: Environmental Education Research, 21 (3), 491–505.

Illeris, Knud (2013): Transformative learning and identity. London – New York: Routledge.

Mezirow, Jack (1991): Transformative dimensions in adult learning. San Francisco: Jossey-Bass.

Mezirow, Jack (1997): Transformative Erwachsenenbildung. Hohengehren/Baltmannsweiler: Schneider Verlag.

O’Sullivan, Edmund, Morrell, Amish & O’Connor, Mary Ann (Eds.) (2002): Expanding the boundaries of transformative learning. Essays on theory and practice. New York: Palgrave.

Orr, David W. (2004): Earth in mind. On Education, Environment, and the Human Prospect. Washington D.C.: Island Press.

Selby, David; Kagawa, Fumijo (2010): Runaway Climate Change as Challenge to the ‘Closing Circle’ of Education for Sustainable Development. In: Journal of Education for Sustainable Development, 4 (1), 37–50.

Seitz, Klaus (2015): Transformation als Bildungsaufgabe. In: Forum Loccum, 34 (3), 9–15.

Siebert, Horst (2003b): Vernetztes Lernen: Systemisch-konstruktivistische Methoden in der Bildungsarbeit. München: Luchterhand.

Singer-Brodowski, Mandy (2016): Studierende als GestalterInnen einer Hochschulbildung für nachhaltige Entwicklung. Selbstorganisierte und problembasierte Nachhaltigkeitskurse und ihr Beitrag zur überfachlichen Kompetenzentwicklung Studierender. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag.

Sterling, Stephen (2010): Learning for resilience, or the resilient learner? Towards a necessary reconciliation in a paradigm of sustainable education. In: Environmental Education Research, 16 (5–6), 511–528.

Taylor, Edward W. (2007): An update of transformative learning theory: a critical review of the empirical research (1999–2005). In: International Journal of Lifelong Education, 26 (2), 173–191.

Vare, Paul & Scott, William (2007): Learning for a Change: Exploring the Relationship Between Education and Sustainable Development. In: Journal of Education for Sustainable Development, 1 (2), 191–198.

VENRO (Hrsg.) (2014): Globales Lernen als transformative Bildung für eine zukunftsfähige Entwicklung. Diskussionspapier zum Abschluss der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE)“. Verfügbar unter: https://venro.org/fileadmin/user_upload/Dateien/Daten/Publikationen/Diskussionspapiere/2014-Diskussionspapier_Globales_Lernen.pdf. [12.2.2022].

Wals, Arjen E. J., Geerling-Eijff, Floor, Hubeek, Francisca, van der Kroon, Sandra & Vader, Janneke (2008): All Mixed-Up? Instrumental and Emancipatory Learning Toward a More Sustainable World: Considerations for EE Policy Makers. In: Applied Environmental Education and Communication, 7 (3), 55–65.

WBGU (2011): Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine große Transformation, Download unter: www.wbgu.de/fileadmin/templates/dateien/veroeffentlichungen/hauptgutachten/jg2011/wbgu_jg2011.pdf

Wehling, Hans-Georg (1977): Konsens à la Beutelsbach? In: Siegfried Schiele & Herbert Schneider (Hrsg.), Das Konsensproblem in der politischen Bildung (S. 173–184). Stuttgart: Ernst-Klett Verlag.

Welzer, Harald (2011): Mentale Infrastrukturen. Wie das Wachstum in die Welt und in die Seelen kam. Verfügbar unter: https://www.boell.de/sites/default/files/Endf_Mentale_Infrastrukturen.pdf. [12.2.2022].

Zeuner, Christine (2012): „Transformative Learning“. Ein lerntheoretisches Konzept in der Diskussion. In: Heide von Felden, Christiane Hof & Sabine Schmidt-Lauff (Hrsg.), Erwachsenenbildung und Lernen. Dokumentation der Jahrestagung der Sektion Erwachsenenbildung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft vom 22.–24. September 2011 (S. 93–104). Hohengehren/Baltmannsweiler: Schneider Verlag.

Singer-Brodowski, Mandy (2021): Transformatives Lernen als neue Theorie-Perspektive in der „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ (BNE). In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Winter 2021, Heft 275/72. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.