Arbeitszeitverkürzung als Faktor der Teilnahmesteigerung

Achtstundentag als „Motor“ der Volkshochschulentwicklung

„Die Verkürzung der Arbeitszeit durch die gesetzliche Einführung des Achtstundentages hat sich als kräftigste Förderung der Volkshochschule erwiesen. Seither ist der Andrang in unseren Volksheimen oft kaum zu bewältigen“, hielt Emil Reich, Mitgründer und jahrzehntelanger Schriftführer des Volksheims, in seiner außerordentlich informativen Schrift zum 25-Jahr-Jubiläum des Volksheims (Volkshochschule Ottakring) fest.1

Frequenzsteigernd wirkte sich der gesellschaftliche Faktor Arbeitszeitverkürzung vor allem im Verein mit einem institutionellen Faktor aus: der erheblichen Dezentralisierung der Bildungstätigkeit in der ersten Hälfte der 1920er-Jahre durch die Gründung von vier, ebenfalls „Volksheime“ genannten Zweigstellen. 2 (Die Tätigkeiten des Volksbildungsvereins und der Wiener Urania werden hier nicht näher beleuchtet.)

Die beträchtliche Frequenzsteigerung des Volksheims und die Wirkung der beiden genannten Faktoren lassen sich gut belegen, zumal die „großen Wiener Volksbildner“ der damaligen Zeit auf Dokumentation und Statistik und ihre Veröffentlichung beträchtlichen Wert gelegt haben. Im Detail gab es auch weitere Wirkungsfaktoren wie die Steigerung der öffentlichen und halböffentlichen Mittel, die Organisationskapazität der Verantwortlichen, die Attraktivität der „Häuser“ und des Programms sowie der gesellschaftliche Aufbruch in Teilen der städtischen Bevölkerung, insbesondere in der Arbeiterklasse.

Objektive sozialpolitische Voraussetzungen der Frequenzsteigerung

Die Arbeitszeitentwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg lässt sich in ihrer Komplexität an dieser Stelle nicht nachzeichnen. 3 Im Wesentlichen gab es vor dem Ersten Weltkrieg den 11 Stunden Maximalarbeitstag, sechs Mal die Woche.

Im Zuge des breiten gesellschaftlichen Reformschubs der Nachkriegszeit, der untrennbar mit dem Namen des damaligen Sozialministers Ferdinand Hanusch verbunden ist, kam es zwischen 1918 und 1920 zu einer Vielzahl von gesetzlichen Maßnahmen, die in ihrer Summe einen bis dahin ungeahnten sozialpolitischen Fortschritt darstellten und zugleich sozial-integrativ wirkten. Im Einzelnen kam es unter anderem zu folgenden Maßnahmen:

1918: Einführung der Arbeitslosenunterstützung (StGBl. Nr. 20)

           Regelung der Sonn- und Feiertagsruhe in gewerblichen Betrieben (StGBl. Nr. 21)

           Gesetz über die Heimarbeit (StGBl. Nr. 140)

           Gesetz über die Kinderarbeit (StGBl. Nr. 141)

1919:  Verbot der Nachtarbeit von Frauen und Jugendlichen in gewerblichen Betrieben

           (StGBl. Nr. 281)

           Gesetz über Mindestruhezeit, den Ladenschluss, die Sonntagsruhe im Handelsgewerbe

           (StGBl. Nr. 289)

           Arbeiterurlaubsgesetz (StGBl. Nr. 395)

           Gesetz über Einigungsämter und kollektive Arbeitsverträge (StGBl. Nr. 16 aus 1920)

1920: Einrichtung von Arbeiterkammern (StGBl. Nr. 100, BGBl. Nr. 469)

           Arbeitslosenversicherungsgesetz (StGBl. Nr. 153)

Die wichtigste gesetzliche Maßnahme war neben dem Betriebsrätegesetz 1919 (StGBl. 283) das Achtstundentaggesetz (StGBl. 581), mit dem die 48-Stunden-Woche normiert wurde. Erst 1959 wurde die gesetzlich vorgesehene Arbeitszeit von 48 auf 45 Stunden reduziert. Nach einem Volksbegehren wurde die Arbeitszeit in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre schrittweise auf 40 Stunden gesenkt, womit auch eine Grundlage für den damals einsetzenden „Mega-Trend“ Bildung geschaffen wurde.

Quantitative Volksheim-Entwicklung

Die dynamische Entwicklung der Frequenz des Volksheims und die Ausweitung seines Angebots an Semesterkursen (das Volksheim hatte jedoch wie die beiden anderen Wiener Stammvolkshochschulen über den Kursbetrieb hinaus ein breites Angebot) zeigt bereits der Vergleich der Vor- mit der ersten Nachkriegszeit.4

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Die weitere Entwicklung verlief bis zur Mitte der 1920er-Jahre ähnlich dynamisch, um sich danach bis zu den beginnenden 1930er-Jahren auf hohem Niveau einzupendeln, nachdem die Errichtung von Zweigstellen nicht fortgesetzt werden konnte.

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Neben dem Haupthaus am Ludo-Hartmann-Platz hatte das Volksheim am Ende seines Dezentralisierungsprozesses Mitte der 1920er-Jahre noch die Zweigstellen Leopoldstadt (errichtet 1920), Simmering (errichtet 1922), Landstraße (errichtet 1924) und Brigittenau (errichtet 1925).

Die „ordentlichen“ Mitglieder verteilten sich – beispielsweise im Arbeitsjahr 1925/26 – auf das Haupthaus und die vier Zweigstellen in folgender Weise:

haupthaus_zweigstellen

In den vier Zweigstellen wurden 6.260 Mitglieder gezählt, die den Dezentralisierungseffekt deutlich machen.

Schlussfolgerung

Für sich genommen sind die Teilnahmezahlen beeindruckend. Sie dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass von den Volkshochschulen in den 1920er-Jahren nur ein kleiner Teil der erwachsenen Gesamtbevölkerung erreicht wurde. Das hat die gesamtgesellschaftliche Wirkung der Erwachsenenbildungstätigkeit begrenzt. Für die TeilnehmerInnen war aber der Volkshochschulbesuch vielfach prägend, in manchen Fällen sogar lebensprägend, wie sich aus biografischen Erinnerungen erschließen lässt.

In einem weiteren Beitrag werden diese Gesamtzahlen des Volksheims nach sozial-räumlichen Kriterien aufgeschlüsselt und näher analysiert. //

1  Vgl. Reich, Emil (1926): 25 Jahre Volksheim. Eine Wiener Volkshochschul-Chronik,  Wien: Verlag des Vereines Volksheim, S. 22.

2  Vgl. Filla, Wilhelm (2015): Wiener Volkshochschulfestungen. Die Österreichische Volkshochschule, 66 ( 256),  35 f.

3  Vgl. grundlegend Talos, Emmerich (1981): Staatliche Sozialpolitik in Österreich. Rekonstruktion und Analyse. Wien: Verlag für Gesellschaftskritik; Weidenholzer, Josef (1985): Der sorgende Staat. Zur Entwicklung der Sozialpolitik. Von Joseph II. bis Ferdinand Hanusch,  Wien –  München –  Zürich: Europaverlag.

4  Alle Zahlen sind den von Emil Reich verantworteten und in unterschiedlicher Weise veröffentlichten jährlichen Tätigkeitsberichten des Volksheims entnommen. Die Zahlen beziehen sich auf die Kurse für alle BesucherI nnen sowie die Kurse der Fachgruppen, bei denen es sich um halbautonome Einrichtungen des Volksheims mit eigener Mitgliedschaft handelte.

Filla, Wilhelm (2016): Arbeitszeitverkürzung als Faktor der Teilnahmesteigerung. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. April 2016, Heft 258/67. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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