Toni Morrison: Die Herkunft der anderen. Über Rasse, Rassismus und Literatur.

Toni Morrison: Die Herkunft der anderen. Über Rasse, Rassismus und Literatur.
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 2017, 110 Seiten

2016 hielt Toni Morrison, Literaturwissenschafterin für afroamerikanische Literatur, Autorin, Trägerin des Nobelpreises für Literatur von 1993, die Charles-Eliot-Norton-Poetik-Vorlesungen an der Harvard University. Das dabei präsentierte Konzept des „Anderssein“, exemplarisch beleuchtet mit literarischen und autobiografischen Bezügen, legt sie in den knapp über hundert Seiten umfassenden Buch vor.

Ein zutiefst politisches Buch, denn es thematisiert das Gewaltpotenzial und die ausgeübte Gewalt des weißen Rassismus in den USA, der Morrisons Meinung nach unüberwindlich ist. Die, die unmenschlich handelten, z. B. als Sklavenhalter und -händler, aber auch sich noch in der Gegenwart unmenschlich verhalten, z. B. als prügelnde Polizisten, werten mittels des Begriffs „Rasse“ andere ab, als fremde Art, um sich trotz ihres verwerflichen Tuns der eigenen Normalität zu versichern.

Es liegt nahe, daran zu denken, wie wir Flüchtlinge bezeichnen und beschreiben: ungebildet, kriminell, nicht integrationsbereit, widerständig die Sprache zu lernen, rückständig, die Frauen missachtend, von aggressiver Religiosität. Entspricht das nicht in ähnlicher Weise der Absicht, ein „Anderssein“ zu deklarieren, um ablehnende Haltung und Abschottung gegenüber Migranten/innen zu rechtfertigen und die eigene „besondere Menschlichkeit“ hervorzuheben? Diese braucht dann auch nicht mehr in Frage gestellt zu werden, steht sie doch von Zäunen und Mauern umgeben auf einem geschützten Sockel!

Am Beispiel der Sklaverei, die Morrison ein gewinnträchtiges aber sicherlich als inhuman empfundenes Geschäft nennt, zeigt sie, welche Strategien mit diesem Widerspruch leben ließen: Es waren brutale Gewalt oder Romantisierung. Die erste belegt sie an einem nüchternen, emotionslos von einem Sklavenhalter verfassten Tagebuch, die zweite anhand „Onkel Toms Hütte“ von Harriett Beecher Stowe. Letztere schrieb für eine weiße Leserschaft – sie wollte den Eindruck von dienenden, den Weißen im Grunde freundlich gesonnenen Sklaven vermitteln. Diesen könnten die Weißen angstfrei begegnen und deshalb auf Brutalität und Verachtung verzichten.

Morrison lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die „Frage der Farbe“. Sie zeigt unter anderem, was es heißt, ein „echter“ Amerikaner zu sein am Beispiel weißer Einwanderer. Zwischen 1890 und 1920 waren es etwa 23 Millionen aus Ost- und Südeuropa mit jüdischem, katholischem und orthodoxem Glauben, denen schnell klar wurde, das es notwendig ist, die Bande zu den Herkunftsländer zu lockern und sich auf ihre weiße Haut zu berufen, um „amerikanisch“ zu werden.

Warum, fragt Toni Morrison (S. 47), „(…) sollten wir Fremde kennenlernen wollen, wenn es einfacher ist, uns ihnen zu entfremden?“
Warum Distanz überwinden, wenn wir die Tür auch schließen können? Selbstreflektierend erklärt sie: Fremde gibt es nicht, nur verschiedene Versionen unserer Selbst, die wir aber nicht realisieren und deshalb von uns fernhalten wollen.

Fremde, so Morrison, kommen aus dem Reich des Zufalls, sind uns nicht unbekannt, sondern nur unbewusst. Wir reagieren beunruhigt, ablehnend. „Auch deshalb wollen wir den anderen besitzen, beherrschen, steuern oder, wenn wir es denn schaffen, zu unserem Spiegelbild verklären“ (S. 48). In jedem Fall akzeptieren wir diese Personen nicht in ihrer Individualität, urteilt Morrison, verweigern ihnen „(…) die Fülle der Persönlichkeit, auf der wir für uns selbst bestehen.“ (Ebd.).

Morrisons Buch hat viel mit der Geschichte, der Literatur, der Sklaverei, der „Farbe“ und den unterschiedlichen Lebensbedingungen in den USA zu tun. Der angesprochene Rassismus und nicht zuletzt die Sprachkunst der Autorin lösen Betroffenheit aus. Nicht nur weil die USA europäische Wurzeln und traditionsreiche Verbindungen mit Europa haben, sondern weil die „Herkunft der anderen“ aktuelle Probleme unserer gesellschaftspolitischen Diskussionen und Dissonanzen anspricht.

Empfehlenswert für Kurse der politischen, internationalen und literarischen Bildung, aber auch für die Reflexion unserer persönlichen, individuellen Weltbetrachtung. //

Lenz, Werner (2018): Toni Morrison: Die Herkunft der anderen. Über Rasse, Rassismus und Literatur. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Herbst 2018, Heft 265/69. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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