500 Jahre Reformation, 500 Jahre lang Auswirkungen der Thesen Martin Luthers. Wie lauten die Vorstellungen und Glaubenssätze von heute, nach denen die weitere Zukunft gestaltet werden soll? Friederike von Bünau, Repräsentantin der Kulturstiftung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und Hauke Hückstädt, Leiter des Literaturhauses in Frankfurt am Main, wollten Antworten auf diese Frage. 95 Persönlichkeiten aus Kirche, Universität, Literatur, Kunst, Kultur, Wirtschaft, aus den Medien oder dem Schuldienst haben in kurzen, prägnanten Beiträgen ihre Vorstellungen geäußert.
So wird gefragt, ob es wohl echte Demokratie geben wird, ob der Nationalstaat überwunden wird, ob die Oper als Muster des Zusammenwirkens von Vielfalt fungieren, ob die Spaltung in Superreiche, Reiche und Arme an ein Ende kommen kann.
Hören wir auf die Resonanzen, die unser Handeln in der Welt auslösen? Oder sind uns das Zuhören und die Achtsamkeit für die Geschehnisse in der Welt schon weitgehend abhandengekommen? Urteilskraft, Mut und schöpferische Passivität werden eingefordert.
Viele der guten Ideen und frommen Wünsche richten sich an die nächsten Generationen. Die jetzt lebenden Erwachsenen werden m. E. zu schnell aus ihrer Verantwortung und ihren Handlungsmöglichkeiten entlassen – vor allem, weil ja die erwachsenen Zeitgenossen die Bedingungen für die Entwicklung der Jugend schaffen. Die Zukunft wird auf die Kinder projiziert und ihnen überantwortet.
Im Rückgriff auf Pippi Langstrumpf kommt ihre Art des Nachdenkens zu Ehren: Sie stellte sich auf den Kopf, um eine andere Perspektive einzunehmen. Aber Kinder unterliegen heute vielfältiger Kontrolle – erleichtert durch moderne Technologie, wie pessimistisch angemerkt wird. Wie können sie sich in der rasch verändernden Welt entfalten? Eben auch, so lautet eine andere fordernde These, durch interkulturelle Kompetenz, die befähigt, Unterschiede anzuerkennen und wertzuschätzen. Das heißt, zu lernen, um zu erfahren, wie man sich in anderen Kulturen bewegt, um in den eigenen Absichten verstanden zu werden und auch, um das Verhalten anderer interpretieren zu können. Perspektivenwechsel durch Reisen wird als weiterbildendes Element empfohlen.
Diesem Gedanken verbindet sich ein anderer: eine soziale Aufgabe für Allgemeinbildung. Sie soll dem durch spezialisierte Individuen beschleunigten Auseinanderdriften der Gesellschaft entgegenwirken, mehr auf vielseitige Bildung setzen. Generalisten, die eigenständig denken, sollen für eine soziale Zukunft in Kohärenz eintreten.
Martin Luther hatte seine in Latein verfassten Thesen für die Diskussion an Universitäten und zwischen Gelehrten formuliert. Ohne sein Zutun gelangten sie an die Öffentlichkeit und wurden rasch politisch bedeutsam: unmittelbar als Angriff gegen das päpstliche Finanzsystem, mittel- und längerfristig im Aufbau eines neuen Machtverhältnisses zwischen Kirche und Staat sowie zwischen europäischen Staaten. Die durch diese Umstrukturierung ausgelösten Konflikte, apostrophiert als Dreißigjähriger Krieg (1618–1648), kosteten etwa einem Drittel der damaligen Bevölkerung in deutschen Landen vorzeitig das Leben. Verlorengegangen scheint inzwischen die Hauptbotschaft Martin Luthers: „Tuet Buße“. Damit verbunden war die Angst und Sorge vor langer und fürchterlicher Strafe im Jenseits.
Unsere säkularisierte Gegenwart lässt uns eher besorgt sein, nicht jedes Schnäppchen zu erhaschen oder ängstlich auf den Kalender blicken, ob wir ausreichend Kurzurlaube im Termindschungel unterbringen. Bildung und Lernen, moderne Mittel, um in Selbstoptimierung zu investieren, fügen sich unterwürfig in den materialistischen Lebensstil.
Das Buch erinnert in seinen vielfältigen Aspekten, welche Schritte auf dem demokratischen Weg unsere Gesellschaften und Vorfahren mit großen Opfern schon gegangen sind. Zugleich macht es aufmerksam – und das qualifiziert es für Diskussionen über Bildung, Lebensführung und soziale Verantwortung –, welche täglichen Anstrengungen zum Erhalt und Ausbau des Erreichten zu leisten sind. //
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