Neben dem Selbststudium (wie etwa dem Lesen), dem Vortrag bzw. der Vortragsreihe, neben natur- oder kulturkundlichen Exkursionen und Reisen ist wohl der Kurs die zentrale Vermittlungsform volksbildnerischen Bemühens. Kurse an den Volkshochschulen sind jedoch – verglichen mit dem klassischen populärwissenschaftlichen Vortrag – eine vergleichsweise späte Entwicklung.
Abweichend von der Situation beim Wiener Volksbildungsverein in der Stöbergasse und der Volkshochschule „Volksheim“ Ottakring, wo wissenschaftliche, aber auch Sprachkurse bereits um die Jahrhundertwende angeboten wurden, entwickelten sich an der Urania Wien erst in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg neben sogenannten „kürzeren Kursen“ auch Semesterkurse, welche einen Zyklus von 24, einmal wöchentlich abgehaltenen Vorträgen umfassten: „In den Kursen überhaupt soll gediegene wissenschaftliche Forschung und Kritik von bekannten Wiener Gelehrten in gemeinverständlicher und fesselnder Form dem Interesse weiterer Kreise nahegebracht werden.“1
Volkshochschulkurse im pädagogisch eigentlichen (seminaristischen) Sinne entfalteten sich an der Urania Wien erst nach dem Ersten Weltkrieg – wesentlich beeinflusst von der deutschen Kunsterziehungsbewegung, der Schulreformbewegung sowie der Reformpädagogik der „Neuen Richtung“ in der deutschen Erwachsenenbildung.2 Im Laufe der frühen 1920er-Jahre entwickelte sich ein eigener Kanon von Kursgruppen, der als programmplanerische Manifestation des Bildungsbegriffs und Bildungsideals der Urania Wien anzusehen ist, welche wissenschaftliches Wissen und praktisches Leben zu verbinden trachtete. Dieser „Kanon der Bildung“ bestand aus:
A. Wissenschaftlichen Kursen (Philosophie, Psychologie, Soziologie, Religionskunde, Erziehungslehre, antike Sprachen, Literaturgeschichte, Geschichte und Kulturgeschichte, Kunst- und Musikgeschichte, Geografie und Völkerkunde, Chemie, Physik, Biologie, Astronomie, Mathematik, Technik und Rechtskunde),
B. Elementarkursen (Deutsche Rechtschreibung, „lebenspraktisches Rechnen“, Schönschreiben, aber auch Lebenskunde für Taubstumme),
C. Sprachkursen (Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Tschechisch, Serbokroatisch, Ungarisch und Esperanto – wobei die Beherrschung einer Sprache als Hilfsmittel zum Verständnis anderer Nationen angesehen wurde),
D. Berufskursen (Stenografie, kaufmännische Kurse, Buchhaltung sowie Gartenbaukurse),
E. Kunstkursen (Zeichnen und Malen, Modellieren),
F. Kursen „Fürs Haus und im Hause“ (Sing-, Gitarre-, Mandoline-, Klavier-, Keramik-, Korbflecht- und Buchbinderkurse, „weibliches Handarbeiten“ wie Nähen, Sticken, Stricken und Weben sowie Säuglings- und Kleinkinderpflege für Frauen, aber auch Spiele für Kinder),
G. Kurse in „Körperlicher Erziehung“ (Turnen für Frauen und Männer sowie Selbstverteidigungskurse).3
Dieser, der umfassenden Persönlichkeitsbildung und Persönlichkeitsentfaltung dienende Programmkanon war Ausdruck der bildungstheoretischen Grundlagen der Urania Wien, die Mitte der 1920er-Jahre wie folgt auf den Punkt gebracht wurden:
„Bildung besteht nicht in einem Besitzen, sondern in einem Sein, das sich jeder selbst erringen muß. Bildungsarbeit kann daher nichts anderes tun, als dem einzelnen Menschen helfen, die in ihm ruhenden Kräfte und Fähigkeiten zu entwickeln und zu entfalten. Sie setzt den Willen zur Selbsterziehung voraus, kennt keinen Zwang, kein unbedingtes, einziges Bildungsideal, sondern nur ein Dienen dem suchenden Menschen.
Wir nennen unsere Kurse Volkshochschulkurse, denn es handelt sich bei ihnen nicht um die Vermittlung von Theorien, sondern um eine Verlebendigung des Theoretischen für den Einzelnen und sein Leben. Es soll eine Schule für eine Höherbildung sein, wie sie die eingeschlagene Schulbildung nicht gegeben hat, und zwar sowohl den Stoffen als auch dem Geiste nach“4.
Wenn Bildung also keine Kategorie des Wissens, sondern eine des Lebens – des Seins – sei, dann müsse es gleichgültig sein, worin der Einzelne seinen Lebenszweck und Lebensinhalt findet. Dieser könne in der Beschäftigung mit Problemen der Wissenschaften liegen, im Ringen um eine Weltanschauung oder Religion, in lebenspraktischen Bedürfnissen, der Berufsarbeit entspringen oder im Nachgehen künstlerischer und schöpferischer Neigungen bestehen:
„Für den Volksbildner besteht kein Unterschied zwischen der Arbeit des Gelehrten, des Handwerkers, des Arbeiters und Bauern und all der anderen Berufsstände, des Mannes und der Frau im Hause, wenn diese Arbeit dem Leben Sinn und Bedeutung gibt. Denn jedes Interesse ist wertvoll, wenn es aus dem Wesen und dem Leben des Menschen entspringt und zum Gefühl der Harmonie, der Lebenserfüllung und Lebensfreude führt.“5 //
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