Die Neugier auf Neues und ein Raum lebendiger Demokratieerfahrung.
Gründe der Bildungsbeteiligung an Volkshochschulen: Ein erster Bericht über qualitative Interviews im Rahmen der BeLL-Erhebung.

Das Vorgängerprojekt: Wider Benefits of Lifelong Learning (BeLL)

Die Studie Benefits of Lifelong Learning (BeLL)  untersuchte den Nutzen der Teilnahme an organisierter nicht-formaler, nicht-beruflicher, freiwilliger Erwachsenenbildung (im Folgenden „liberale Erwachsenenbildung“) für BildungsteilnehmerInnen in Europa. Die Studie wurde von der Europäischen Kommission im Rahmen des Programms für lebenslanges Lernen („Studien und vergleichende Forschung, KA1“) finanziert und von einem Konsortium von Partnerorganisationen aus neun Mitgliedstaaten sowie Serbien als zehntem assoziierten Partner durchgeführt. Das Projekt lief vom ­
1. November 2011 bis zum 31. Januar 2014.

Hauptzweck der BeLL-Studie war die Untersuchung des individuellen und sozialen Nutzens, den erwachsene BildungsteilnehmerInnen und Lernende, die an liberalen Erwachsenenbildungskursen teilgenommen haben, formulieren. In zehn europäischen Ländern wurde erforscht, was unter „Nutzen des Lernens“ zu verstehen ist.

Die Studie folgte einem Design mit gemischten Methoden. Quantitative Daten wurden mittels eines Fragebogens erhoben und qualitative halb-strukturierte Interviews mit Teilnehmern an Erwachsenenbildungskursen durchgeführt. Insgesamt wurden von 2011 bis 2014 8.646 Fragebögen und 82 Interviews in den zehn Ländern durchgeführt.

Die Daten zeigten, dass erwachsene Lernende zahlreiche Vorteile aus der liberalen Erwachsenenbildung ziehen. Sie fühlen sich gesünder und scheinen einen gesünderen Lebensstil zu führen; sie bauen neue soziale Netzwerke auf und erleben ein verbessertes Wohlbefinden. Darüber hinaus scheinen sich Erwachsene, die an der liberalen Erwachsenenbildung teilnehmen, stärker motiviert, zu fühlen, sich am lebenslangen Lernen zu beteiligen und sehen eine Chance, ihr Leben zu verbessern. Von diesen Vorteilen berichteten Lernende aus allen Kursbereichen, von Sprachen und Kunst bis hin zu Sport und politischer Bildung.

Der koordinierende Partner war das Deutsche Institut für Erwachsenenbildung – Leibniz-Zentrum für Lebenslanges Lernen (DIE) in einem Konsortium, dem englische und finnische Partner angehören. Die Projektgruppe bestand aus Universitäten (University of Eastern Finland, Dept. of Educational Sciences and Psychology, Finnland; Institute of Education, University of London, England; University of Barcelona, Research Centre, Spanien), privaten und öffentlichen Forschungsinstituten (Slovenian Institute for Adult Education, Slowenien; Association for Education and Development of Women – ATHENA, Tschechische Republik; Schweizerischer Verband für Weiterbildung – SVEB, Schweiz; Rumänisches Institut für Erwachsenenbildung – IREA, Rumänien) sowie Praxiseinrichtungen (Associazione di donne Orlando – AddO, Italien). Serbien war in allen Phasen der Forschung als stiller Partner beteiligt. Die Forschung wurde von der Gesellschaft für Erwachsenenbildung (AES), Belgrad, durchgeführt. Für die Federführung bei der Verbreitung der Projektergebnisse wurde die European Association for the Education of Adults (EAEA), Brüssel, als zehnter Projektpartner gewonnen. Österreich beteiligte sich 2011 bis 2014 nicht an diesem Projekt.

Bell-Österreich 2019. Eine Kooperation der Donauuniversität Krems (DUK) und des Verbands Österreichischer Volkshochschulen (VÖV)

Ab 2019 wurde eine vergleichbare Studie an österreichischen Volkshochschulen in Zusammenarbeit mit und auf Anregung der Donauuniversität Krems durchgeführt (Filiz Keser-Aschenberger, Zentrum für Bildungsmanagement und Hochschulentwicklung und Monika Kil, Department für Weiterbildungsforschung und Bildungstechnologien). Die Arbeitsbereiche wurden zwischen den Partnern aufgeteilt. Filiz Keser Aschberger
­et al. legen in ihrem Beitrag in dieser ÖVH erste Ergebnisse zur quantitativen Befragung der Studie BeLL (durchgeführt 2018–2019, abgeschlossen) und die Grundidee des Studiendesigns der BeLL Erhebung dar.

Für die quantitative Erhebung wurden die Erhebungsbögen aus den vorgegangenen Erhebungen (2011 – 2014) adaptiert und an den österreichischen Volkshochschulen verteilt, eingesammelt, gescannt und der DUK zur Auswertung übergeben. Die Auswertung und Codierung erfolgte durch die DUK. Die Ergebnisse der quantitativen Befragung sind bewusst nicht repräsentativ, zumal die Auswahl der Befragten nicht statistisch geleitet, sondern zufällig erfolgte – vor allem aus Ressourcengründen. Die Ergebnisse sind aber dennoch hoch aussagekräftig bezogen auf die Motive und den Nutzen einer Beteiligung an nicht direkt beruflicher Bildung. Es können Aussagen über die Gruppe der Befragten VHS-TeilnehmerInnen erfolgen, die aus nicht direkt beruflichen Kursbereichen kommen. Die TeilnehmerInnen kommen direkt zu Wort und können ihre Nutzenperspektiven formulieren und hörbar machen.

Weiteres wurden acht qualitative Interviews mit KursteilnehmerInnen zwischen Dezember 2019 und Mai 2020 von Stefan Vater durchgeführt. Die Auswahl der InterviewpartnerInnen erfolgte nach Sichtung der quantitativen Fragebögen expertisegeleitet. Von den acht Interviews, die zwischen 25 Minuten und mehr als zwei Stunden dauerten, kamen sechs TeilnehmerInnen aus dem Fachbereich „Politik, Gesellschaft, Kultur“ und zwei aus den Fachbereichen „Gesundheit“ und „Kreativität und Gestalten“ (Doppelbelegungen). Zwei der Befragten waren Männer, sechs waren Frauen. Der jüngste Befragte war Mitte zwanzig, der älteste 70 Jahre alt. Die InterviewpartnerInnen haben in den letzten zwölf Monaten VHS-Kurse in Wien oder Niederösterreich besucht und wohnen in Wien. Die Interviews liegen als Audioaufnahmen vor und werden bis Herbst 2020 transkribiert  und ausgewertet.1

Das Ziel der qualitativen Interviewanalyse ist es, die Ergebnisse der statistischen Analysen aus der Perspektive der TeilnehmerInnen zu veranschaulichen, zu erweitern, zurechtzurücken und zu ergänzen. Die TeilnehmerInnen sollen möglichst direkt über ihren Nutzen sprechen und dem Vorurteil entgegentreten, sie hätten keine Vorstellung vom Nutzen eines Kursbesuchs.

In der BeLL-Studie werden die qualitativen Interviews ungefähr folgendermaßen begründet:

  • Die TeilnehmerInnen sollen die Möglichkeit bekommen, in ihren eigenen Worten und in ihren eigenen Erzählungen den Nutzen von Erwachsenenbildung zu benennen.
  • Die Interviews mit den TeilnehmerInnen können verengte Konzepte von Nutzen oder abstrakte Nutzenkonzepte mit Erfahrungen der Lebenswelt der BildungsteilnehmerInnen kontrastieren. Die Volkshochschulen sind in erster Linie den TeilnehmerInnen verpflichtet.
  • Die Ergebnisse der statistischen Analysen sollen im Hinblick auf den Nutzen und seine individuelle Dimension (d.h. die Veränderung der Einstellungen, des Selbstkonzepts, der Lernbiographie, des Verhaltens) und die soziale Dimension (d.h. Öffentlichkeit, Politik, Gesellschaftsleben, soziale Netzwerke) veranschaulicht, zurechtgerückt und ergänzt werden.
  • Die Interviews ermöglichen, herauszufinden, wie die Teilnehmenden an liberalen Bildungskursen über ihre Teilnahmeerfahrungen und Lernerfahrungen reflektieren, und wie sie diesen benennen.

Um diese Fragen zu beantworten, wurde gefragt, was die Teilnehmenden über ihre Teilnahme an Kursen der freien Erwachsenenbildung, über ihre Erfahrungen in Kursen der freien Erwachsenenbildung und über die Auswirkungen der Teilnahme auf ihr Leben erzählen und berichten. Und wie sie es in ihren eigenen Worten, nicht strukturiert durch vorgegebene Fragen einer quantitativen Befragung, tun.

Wie beeinflusst und verändert die Teilnahme an der freien Erwachsenenbildung die Einstellungen, Selbstkonzepte, Lernbiographien und das Lernverhalten sowie den Alltag der Teilnehmenden, und wie wird die Teilnahme gleichzeitig von der Lebenswelt der TeilnehmerInnen beeinflusst und definiert.

Es galt herausfinden, wie die Teilnehmenden an Kursen der freien Erwachsenenbildung ihre Bildungsteilnahme und ihre Lernerfahrungen reflektieren und darstellen, und wie sie gleichzeitig Nutzenerwägungen anders und breiter formulieren, als es eingeschränkte berufliche und ökonomische Verwertbarkeitsdiskurse tun. Für Volkshochschulen ist vor allem dieser Nutzen relevant: sie sind den TeilnehmerInnen verpflichtet. Weiters ging es darum, wie Erwachsenenbildung in die Lebenswelt der TeilnehmerInnen und in demokratische Prozesse eingebettet ist.

Die qualitative Befragung gibt den Befragten Raum die Gründe und Motive ihrer Kursbelegung an Volkshochschulen auszuführen und zu beschreiben. Die Interviews folgten einem Leitfaden, der interviewsensitiv angepasst wurde:

Die wesentlichen Fragen lauteten:

  1. Wie viele allgemeine Weiterbildungskurse haben Sie in diesem Zeitraum besucht? Falls Sie mehrere Kurse besucht haben, geben Sie bei Ihren Antworten bitte jeweils an, auf welchen Kurs Sie sich beziehen.
  2. Was war das Thema der Kurse? Worum ging es in den Kursen?
  3. Warum haben Sie damals gerade diese Kurse besucht?
  4. Wie haben Sie die Kurse erlebt?
  5. In welchem Beruf waren Sie in den letzten zwölf Monaten tätig?

Die Ergebnisse der vorherigen BeLL-Befragungen zeigten, dass die befragten TeilnehmerInnen, neben einem Zuwachs an Kompetenzen und Fähigkeiten, auch in verschiedensten Bereichen der persönlichen und sozialen Entwicklung profitieren.

  • Die TeilnehmerInnen können Bildungsbarrieren und Zugangsängste abbauen. Sie erweitern ihre Interessen und verlieren die Angst vor weiteren Bildungsteilnahmen. Ihre Bildungsaspiration steigt. Ebenso lernen sie, mit kulturellen Unterschieden umzugehen – z. B. mit den Unterschieden ihrer ­lebensweltlichen Kultur und der Kultur von Bildungseinrichtungen.
  • Die TeilnehmerInnen erweitern ihre sozialen Netzwerke, sie erhöhen ihr „Sozialkapital“. Sie erhöhen ihr soziales Engagement im Sinne einer aktiven StaatsbürgerInnenschaft.
  • Die TeilnehmerInnen empfinden ein verbessertes Lebensgefühl und Wohlbefinden.
  • Sie beteiligen sich am sozialen Leben in der Bildungseinrichtung und lernen Andere kennen, was zu erhöhter Toleranz führt.
  • Die TeilnehmerInnen erhöhen ihre Selbstwahrnehmung und Achtsamkeit in verschiedensten Bereichen: Gesundheitsverhalten, Elternverhalten, Demokratiekompetenz.
  • Die TeilnehmerInnen erfahren eine erhöhte Handlungsfähigkeit auch im beruflichen Bereich.
  • Die TeilnehmerInnen eigenen sich Fähigkeiten und Kompetenzen an.

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Abb. 1: Nutzenkategorien der qualitativen BeLL-Erhebung 2011–2014. (Vgl. Sgier: o. J.). Die hier abgebildeten Nutzenkategorien sind sozusagen die Kategorien der qualitativen Analyse.

Die Interviews an den Volkshochschulen 2019 bis 2020

Im Grunde ist es noch zu früh, um über die qualitative Analyse der durchgeführten Interviews zu berichten, diese wird bis Herbst 2020 durchgeführt. Die qualitativen Analysen werden (angepasst an die vorliegenden Transkripte) den Standards qualitativer Analyse folgend durchgeführt. (Vgl. Lamnek: 1995). Eindrücke, die obige Ergebnisse bestätigen, aber auch etwas anders schattiert sind, können allerdings bereits heute formuliert werden. Die Volkshochschulen werden als ein lebendiger, niederschwelliger einladender Ort erlebt: Ein Ort, der Neugierde weckt und befriedigt, ein Ort, der neue Horizonte öffnen kann. Und Volkshochschulen sind ein Ort, an dem politische Diskussion und Auseinandersetzung gepflegt wird, ein Raum lebendiger Demokratie. //

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Abb. 2: Voraussichtliche erweiterte Analysekategorien und Nutzendimensionen der Interviews an den Volkshochschulen.

1   Der Text diese Kapitels orientiert sich an der BeLL-Homepage; für mehr Information siehe: http://www.bell-project.eu/cms/

2  Mit Unterstützung von Brigitte Eggenweber.

Literatur

Lamnek, Siegfried (1995): Qualitative Sozialforschung. 2 Bde. Weinheim: Beltz.

Sgier, Irena (o. J.): Qualitative Data Analysis Report. Analysis of the BeLL interviews in 10 countries: overall report. Verfügbar unter: http://www.bell-project.eu/cms/wp-content/uploads/2014/06/BeLL-Qualitative-Data-Analysis-Report.pdf [22.6.2020].

Vater, Stefan (2020): Die Neugier auf Neues und ein Raum lebendiger Demokratieerfahrung. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Sommer 2020, Heft 270/71. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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