Rede zum 22. Radiopreis der Erwachsenenbildung

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Bastian Kresser
Foto: Michaela Obermair

Ich habe mir im Laufe meiner schriftstellerischen Tätigkeit angewöhnt, in Loops zu arbeiten und das Thema, die Idee, mit der ich mich gerade beschäftige, immer wieder aus verschiedenen Blickwinkeln und vor allem auch aus unterschiedlichen Distanzen zu betrachten. Ich gehe ganz nah heran, versuche, mir über meinen ganz eigenen, individuellen und persönlichen Zugang klar zu werden, trete dann zuerst einen, dann mehrere Schritte zurück, bis ich das Gefühl habe, das große Ganze erkennen zu können, um dann wieder näher heranzutreten. Diese Loops machen es für mich einfacher, die verschiedenen Aspekte, die Vielschichtigkeiten einer Sache zu erkennen und die Dinge klarer zu sehen.

Der Mensch tendiert dazu, erst dann einen ganz konkreten Bezug aufzubauen, wenn man die Nähe zu einem Thema spürt, wenn es einen selbst betrifft und man sich klar wird, was der ureigene Bezug zu einer Sache ist.

Mir helfen diese Loops und ich habe ganz automatisch dieselbe Arbeitsweise angewendet, als man mich gebeten hat, diese Rede zu halten.

Und so möchte ich auch dieses Mal ganz nah herantreten. Ich sehe die zwei Begriffe vor mir – Radio und Erwachsenenbildung – und suche mir den ersten aus:

Radio.

Es entsteht ein Bild; der Rahmen, eine Erzählung meiner bereits verstorbenen Großmutter. Ich sehe sie, am Ende des Zweiten Weltkriegs, eine junge Frau, ihr Ehemann, mein Großvater, irgendwo in Russland an der Front. Ich sehe sie in ihrem Haus im Dunkeln sitzen, die Vorhänge zugezogen, das Ohr am Radio, verbotener Weise den Nachrichten der BBC lauschend. Sie will, nein, sie braucht mehr Information, als sie auf legalem Weg in Erfahrung bringen kann und so geht sie dieses Risiko ein.

Ich bleibe ganz nah und es entsteht ein weiteres Bild. Dieses Mal ist es meine Mutter: Ich sehe sie als Dreizehnjährige, ihr Ohr an der Wand ihres Kinderzimmers. Sie lauscht der Popmusik aus dem Radio der Nachbarn, da diese im eigenen Haus verboten ist. Und ich sehe mich selbst, wie ich, wie jeden Donnerstagabend nach dem Englischunterricht, in mein Auto steige und auf Ö1 die Stimme von Renata Schmidtkunz höre. Wie eine alte Bekannte kommt sie mir nach all diesen Jahren vor. Und wie jeden Donnerstagabend befindet sie sich gerade im Gespräch mit einer faszinierenden Persönlichkeit. Und ich darf daran teilhaben.

Ich sehe mich selbst im Auto sitzend, vor meinem Haus, längst angekommen, aber sitzenbleibend, derart von diesem Gespräch verzaubert, dass ich es unter allen Umständen zu Ende hören will.

Und ich darf es. Kein Staat, kein einschränkendes System verbietet es mir. Ich darf Radio hören. Ich darf mich bilden.

Sapere aude! – Wage es, weise zu sein! Oder wie Immanuel Kant diese Worte interpretiert hat: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“

Bildung ist etwas Wunderbares. Bisweilen zeigt sie uns die Welt in ihrer vollen Größe.
Ich erinnere mich an eine Radiodokumentation über Blauwale, über die ich schon vor vielen Jahren gestolpert bin, die mir die unfassbare Größe dieses Lebewesens veranschaulichte. Ein Gewicht von bis zu 150 Tonnen, eine Zunge, so schwer wie ein Elefant, eine Aorta, durch die ein Kind schwimmen könnte. Der Blauwal, das größte Tier, das jemals existiert hat, noch größer als jeder ­Dinosaurier.

Gerne zaubere ich Fakten wie diesen bei Gesprächen mit neuen Bekanntschaften aus dem Ärmel, besonders, wenn ich mich etwas unsicher fühle. Und jedes Mal bin ich dankbar, über die scheinbare Sicherheit, die mir diese Zahlen schenken.

Doch treten wir einige Schritte zurück. Dort wird Radio zum Massenmedium.

Radio hat sich seit seiner Entstehung enorm verändert, das wissen Sie weit besser als ich. Doch allen Veränderungen zum Trotz – was geblieben ist, ist das verbindende Element, das Radio stets hatte und immer noch hat.

Ein großer Faktor spielt hier mit Sicherheit die Musik, die schon immer die Besonderheit hatte, Menschen zu bewegen und dadurch auch zu verbinden. Musik, die ganz besonders durch das Radio unseren Alltag beständig im Hintergrund untermalt, Musik, die uns kalt lässt oder ergreift, die uns glücklich, traurig, melancholisch oder manchmal auch unglücklich werden lässt.

Der Schriftsteller Nick Hornby schrieb einst in seinem Roman „High Fidelity“: „Was war zuerst da, die Musik oder das Unglücklichsein? Hörte ich Musik, weil ich unglücklich war? Oder war ich unglücklich, weil ich Musik hörte?“ Eine Antwort ­erhalten wir nicht. Dies ist auch nicht nötig. Was offensichtlich ist:

Musik – und folglich auch Radio – schaffen es, uns zu berühren und uns somit auch zu verbinden.

Doch Radio kann noch viel mehr als Musik. Radio kann Bildung sein, Radio kann Wissen vermitteln, Radio ist der Inbegriff informellen Lernens.

Sie – sehr geehrte Radio-Schaffende – beweisen, dass Radio fundiertes Wissen schafft. Und genau dies ist in Zeiten von schnelllebigen, unseriösen Medien, in Zeiten von Fake News und alternativen Fakten so wichtig wie noch nie zuvor.

Radio kann Wissen vermitteln und Wissen gibt Halt. Und somit trägt Radio immer auch zu einer bestimmten Haltung bei; nicht nur zu einer persönlichen, nein, auch zu einer gesellschaftlichen.

Das Gefährliche ist jedoch, dass jeglicher Bildungsanspruch, auch derjenige, der auf Halbwissen beruht, Halt gibt und somit eine bestimmte Haltung schafft. Umso wichtiger ist Ihre Arbeit! Radio in Österreich hat und nutzt die Möglichkeit, fundiertes Wissen zu vermitteln, was wiederum dazu führt, die Haltung einer Gesellschaft so zu festigen, dass jeder und jede davon profitieren kann, dass Ungerechtigkeiten in allen Ausprägungen erkannt, nicht akzeptiert und wenn es sein muss auch bekämpft werden.

Radio bildet und Bildung verändert.

Vor einigen Jahren wurde die sogenannte BELL-Studie – „Benefits of Life Long Learning“ – durchgeführt, die den individuellen Nutzen der Erwachsenenbildung auf die eigene Person und auf das Verhältnis zu ihrer Umgebung untersuchte. Die Ergebnisse waren – was das breite Feld der Erwachsenenbildung betrifft – äußerst erfreulich. Erwachsenenbildung trägt nicht nur zur geistigen Fitness und zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt bei, sie fördert auch Toleranz und soziales Engagement. Und ganz nebenbei macht sie auch insgesamt gesünder, selbstbewusster und glücklicher.

Die BELL-Studie hat aufgezeigt, dass auch Radio, durch seine Vielfalt, seinen Reichtum und seine Fülle und auch durch ­seinen erwachsenenbildnerischen Auftrag die Möglichkeit hat, Menschen glücklicher zu machen. Und genau das brauchen wir. Heute mehr denn je. Glückliche Menschen.

Ich persönlich kann und will nämlich nicht glauben, dass jemand glücklich ist, der sich vor den Computer setzt und unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit Hasspostings verfasst. Der eine siebzehnjährige Klimaaktivistin als Bedrohung ansieht und diese attackiert, terrorisiert, beschimpft und denunziert.

Ich kann und will nicht glauben, dass jemand glücklich ist, der eine junge, qualifizierte Justizministerin, weil sie eine andere Herkunft hat, online angreift, sie zu verletzten versucht, sie aufs Schlimmste beleidigt und sogar so weit geht, Morddrohungen zu verfassen.

Ein glücklicher Mensch tut so etwas nicht!

Radio ist Bildung und Bildung macht glücklich. Sie, liebe Radioschaffende, haben die bemerkenswerte Möglichkeit, Menschen glücklicher zu machen.

Ich will den Loop vervollständigen, noch einmal näher herantreten, so nah, dass ich die Auswirkung von Radio am eigenen Leibe spüren kann.

Vor sechs Jahren lernte ich eines Abends eine Frau kennen. Ich war etwas unsicher und wieder einmal begann ich, von Blauwalen zu erzählen: dass sie ein Gewicht von bis zu 150 Tonnen hätten, eine Zunge, so schwer wie ein Elefant und dass der Blauwal das größte Tier sei, das jemals existiert habe, noch größer als jeder Dinosaurier.

Sie glaubte mir nicht und wir waren uns einig, uns ein weiteres Mal treffen zu müssen, um diese Sache zu klären.

Das war vor sechs Jahren.

Vor einem halben Jahr habe ich diese Frau geheiratet.

Ich danke den Machern dieser Radiodokumentation für das kostbare Wissen über Blauwale.

Ich danke Ihnen, sehr geehrte Radioschaffende, für ihren tagtäglichen Einsatz. Ich danke Ihnen dafür, dass sie unserer Gesellschaft Halt und Haltung geben und vor allem danke ich Ihnen, dass Sie uns die Möglichkeit bieten, glücklicher zu werden. //

Kresser, Bastian (2020): Rede zum 22. Radiopreis der Erwachsenenbildung. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Winter 2019/20, Heft 269/70. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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