Bildungsbenachteiligung zeigt sich dann, wenn Kinder, Jugendliche oder Erwachsene weniger Möglichkeiten haben ein Bildungsziel zu erreichen als andere Menschen. Im Regelfall schließen Kinder aus AkademikerInnen-Familien häufiger eine höhere Ausbildung ab als jene aus Familien mit Pflichtschulabschluss. Ähnliches zeigt sich, wenn Erwachsene lernen. Diese Unterschiede bestehen noch immer – trotz formaler Chancengleichheit, einem gut ausgebauten und durchlässigen Erstausbildungssystem und vielen gezielten Förderprogrammen, die kompensatorisch wirken (sollen). Die rasch voranschreitende technologische Entwicklung, gesellschaftliche Veränderungen, die zunehmenden sozialen Klüfte und andere Entwicklungen bringen es mit sich, dass immer mehr Menschen „zurückgelassen“ werden. Die Erwachsenenbildung hat sich diesen Herausforderungen zu stellen. Daher greift sie korrigierend ein, indem zum Beispiel Bildungsabschlüsse zu einem späteren Zeitpunkt erlangt werden können. Gleichzeitig hat Erwachsenenbildung die Aufgabe bzw. die Funktion, Menschen an Veränderungen anzupassen, darüber hinaus aber auch eine Antizipation von Zukunft zu ermöglichen (vgl. Nolda: 2012, 27–34). Diese Bemühungen ergeben sich aus dem Bildungsverständnis der Erwachsenenbildung, die sich über die gesamte Lebensspanne erstreckt und somit den längsten Bildungsabschnitt eines Lebens darstellt. Darüber hinaus geht sie in die Tiefe, denn sie fördert auch Veränderungen von bereits eingeschlagenen Lebenswegen und trägt so zur individuellen und auch gesellschaftlichen Entwicklung bei. Schließlich ist Erwachsenenbildung an den jeweiligen Lebenswelten orientiert, sie agiert also möglichst lebensnah.
Allerdings zeigt sich, dass die Erwartungen der Erwachsenenbildung trotz der vielen Bemühungen oft nicht erreicht werden und viele Menschen von Bildungsmöglichkeiten ausgeschlossen bleiben bzw. keinen Zugang finden. Wir müssen uns daher selbstkritisch fragen, welche Bildung angeboten werden müsste, um nicht zu einer weiteren Festigung von Ungleichheiten beitragen.
Faktoren von Bildungsbenachteiligung
Benachteiligung im Kontext von Erwachsenenbildung ist für uns sehr weitreichend, denn immer dann, wenn Menschen nicht in der Lage sind bzw. keine Möglichkeit sehen, bildungsbezogene Wünsche und Interessen zu entfalten und in die Realität umzusetzen, handelt es sich im Grunde genommen um vergebene Möglichkeiten, Bildung zu erweitern bzw. zu vertiefen.
Im wissenschaftlichen Diskurs gibt es mehrere Vorschläge, die Faktoren der Bildungsbenachteiligung zu konkretisieren. Eine gute Zusammenstellung dafür liefert Monika Kastner mit ihrem Beitrag über „soziale Ungleichheit und Bildungsbenachteiligung“1 auf erwachsenenbildung.at. Im Folgenden greifen wir diese Darstellung auf und ergänzen sie mit einigen weiteren Aspekten, wie sie gerade in der Erwachsenenbildung wirksam werden.2
Zu den bekanntesten Faktoren, die Bildungsbenachteiligung bewirken, gehören genderspezifische Aspekte, Migration, Flucht und Verfolgung, Grenzen im „Mobilitätsradius“, kritische Lebensereignisse, fehlende pädagogische Unterstützung und verschiedene Arten von Beeinträchtigungen. Wodurch Benachteiligungen konkret zustande kommen, sei hier anhand einiger Beispiele dargestellt. Geschlechtstypische Benachteiligungen ergeben sich zum Beispiel durch eine geringere Bildungsaspiration von Eltern für ihre Töchter, häufigere familiäre Belastungen wie Kindererziehung, Haushalt und Pflege von Angehörigen oder Brüche in der Bildungslaufbahn bei frühen Schwangerschaften. Junge Männer dagegen werden öfters durch schulische Verdrossenheit und Devianz zur Bildungs-Risikogruppe, vor allem dann, wenn in ihrem Milieu einer höheren Bildung kein hoher Wert beigemessen wird. Auch die Entfernungen des Wohn- oder Arbeitsortes zu Bildungsstätten wirken sich oft hemmend auf den Besuch von Weiterbildungsmaßnahmen aus, da sich die meisten Menschen vorwiegend in einem bestimmten „Mobilitätsradius“ aufhalten. Vor allem niedrig qualifizierte Personen nehmen seltener längere Strecken zum Bildungsort in Kauf (Mörth et al.: 2005). Darüber hinaus wissen „Personen mit geringerer Qualifikation über Fördermöglichkeiten und Zuschüsse für Weiterbildungsprogramme […] signifikant weniger Bescheid […]. Mit steigender Schulbildung hingegen nimmt auch das Wissen über die vorhandenen Möglichkeiten zu“ (ebd.). Besonders belastend wirken sich kritische Lebensereignisse, wie Trennungen, Todesfälle, Verlust des Arbeitsplatzes, häusliche Gewalt, Missbrauch (seelisch oder körperlich), psychische Erkrankungen, Mobbing etc. auf die Bildungsentwicklung aus, die ohne geeignete Ressourcen zur Bewältigung die individuelle Krise zu einer sozialen Benachteiligung macht.
Eine andere Art von Bildungsbarriere tut sich auf, wenn Menschen ihre Heimat verlassen (müssen) und ihren Bildungsweg in Österreich fortsetzen sollen bzw. möchten. Hier sind vor allem die verschiedenen Sprachen, nicht-kompatible Bildungssysteme oder die Nichtanerkennung von mitgebrachten Zertifikaten ein Hindernis beim Weiterlernen, ganz abgesehen von Diskriminierungserfahrungen, die zusätzlich demotivierend wirken. In vielen Fällen führen MigrantInnen auch Tätigkeiten durch, die unter ihrem Ausbildungsniveau liegen. Besonders markant zeigt sich das bei GastarbeiterInnen der ersten Generation, die lange eine Rückkehr in ihr Herkunftsland planten, was dem Weiterlernen nicht förderlich war und die somit einen „biografisch-institutionell erworbenen Bildungsrückstand“ aufweisen. Ganz besonders entmutigend stellen sich die Barrieren für Menschen auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung oder Diskriminierung (ethnische, religiöse oder politische Minderheiten) dar, wenn zusätzlich zu den genannten Hindernissen und allfälligen traumatischen Erfahrungen noch ein prekärer Aufenthaltsstatus den Zugang zu Bildungsangeboten verschließt.
Auch das Bildungssystem selbst ist nicht immer förderlich für den Lernprozess von Menschen. Vor allem die Schulerfahrungen zeichnen sich oft durch geringe pädagogische Unterstützung oder gar persönliche Demütigungen oder Herabwürdigung aus. Eine Studie weist sogar für die Erwachsenenbildung einige negative Klassifizierungen durch Kursleitende aus. So deuteten Beispiel Lehrende die geringere Lern- und Bildungserwartung von TeilnehmerInnen als „Desinteresse“ und „Passivität“, diskreditierten einen nach Nutzen fragenden Bildungszugang als „Verwertungsorientierung“ und sahen in der Bitte nach mehr Strukturierung eine „Konsumhaltung“ und ein „Verschulungsbedürfnis“. Der Wunsch nach mehr Gemeinschaftserlebnissen und Spaß wurde als nebensächlicher „Mitnahmeeffekt“ abgetan. Auch methodische Probleme wurden den TeilnehmerInnen angelastet: „Diese Industriearbeiter sind einfach nicht zum Lesen zu motivieren“ (Bremer & Bittlingmayer: 2008, 43). Bei der Bewertung von Lernleistungen werden Lehrende oft auch durch die Sprache der Lernenden und die damit in Verbindung gebrachte soziale Herkunft beeinflusst. Die Zuschreibungen des sprachlichen Ausdrucks mit der sozialen Herkunft werden in der Erziehungswissenschaft schon seit den 1950er-Jahren beobachtet. Vor allem Basil Bernstein, der die Begriffe „restringierter“ und „elaborierter“ Sprachcode prägte und Ulrich Oevermann (1973), der auf die Verbindung von Sprache und sozialer Herkunft verwies, sind hier federführend zu nennen. In einigen Studien wird ein deutlicher Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Bildungsbenachteiligung feststellt: „Unter sozialer Ungleichheit versteht man die asymmetrische Verteilung knapper und begehrter Güter auf gesellschaftliche Positionen und so entstehende vorteilhafte bzw. nachteilige Lebensbedingungen von Menschen. Soziale Ungleichheit meint demnach nicht bloße Verschiedenartigkeit, sondern Verschiedenwertigkeit von Lebensbedingungen“ (Hradil: 2000, 590).
Eine weitreichende Ursache von Bildungsbenachteiligung stellen Beeinträchtigungen bzw. Behinderungen dar. Analog zum Nationalen Aktionsplan ist Behinderung als „die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen zu verstehen, die geeignet ist, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, insbesondere am allgemeinen Erwerbsleben, zu erschweren“ (BMASGK: 2012, 16). Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht bei Behinderung von drei Begriffen aus: Impairment, Disability und Handicap. Impairment steht für Mängel der anatomischen, psychischen oder physiologischen Funktionen und Strukturen des Körpers; Disability für eine Funktionsbeeinträchtigung oder Funktionsmängel durch Schädigungen, die im Alltag behindern und Handicap (Behinderung) meint Nachteile für eine Person aus einer Schädigung oder Beeinträchtigung (vgl. Barbotte et al.: 2001).
Für Menschen mit körperlichen, seelischen und psychischen Beeinträchtigungen stellen Bildungseinrichtungen oft ein Hindernis für eine längere und regelmäßige Teilnahme dar. Das betrifft z. B. Menschen mit mobilen Einschränkungen (Einschränkungen an Armen/Händen oder Beinen, RollstuhlfahrerInnen, kleinwüchsige Menschen etc.); Personen mit Sinneseinschränkungen, also Hörbeeinträchtigte, Gehörlose, Sehbeeinträchtigte, blinde Menschen und Menschen mit beeinträchtigter haptischer Wahrnehmung. Vor allem seit der COVID-Krise wurde man auch auf die gravierenden Folgen von Menschen mit beeinträchtigter Geschmackswahrnehmung und Geruchswahrnehmung aufmerksam, die zu den wesentlichsten Auswirkungen bei den am Virus Erkrankten darstellen. Aber auch bei älteren Menschen hat diese Beeinträchtigung eine nicht zu unterschätzende Wirkung. In den letzten Jahren wird verstärkt auf seelische oder psychische Erkrankungen aufmerksam gemacht, die nicht nur im Alltagsleben, sondern vor allem auch im beruflichen Kontext schlagend werden, etwa wenn man an die Folgen von Burnout, Angststörungen, Persönlichkeitsstörungen, aber auch Konzentrationsstörungen denkt. Eine in Zukunft steigende Bedeutung werden hier auch Demenzerkrankung erlangen. Für die Erwachsenenbildung besonders relevant sind Beeinträchtigungen durch Lernschwierigkeiten, für die es bereits eine große Bandbreite an Beratungen und Schulungen gibt.
Barrieren im Zugang zur Erwachsenenbildung
Zusätzlich zu den verschiedenen Arten von Benachteiligungen, die sich hemmend auf die Bildungsverläufe von Menschen auswirken, stehen oft zusätzliche Barrieren einer gelungenen Weiterbildung im Weg. Barriere bezeichnet eine Schranke, ein Hindernis, schränkt also ein oder behindert. Eine Barriere kann, wie im „Nationalen Aktionsplan Behinderung“ beschrieben, eine physische sein wie zum Beispiel Stufen in einem Gebäude. Es kann sich aber auch um eine ablehnende Haltung gegenüber Menschen mit Beeinträchtigungen handeln (BMASGK: 2012).
Im wissenschaftlichen Diskurs werden situative, dispositive, akademische, institutionelle und pädagogische Barrieren beim Zugang zu Bildungseinrichtungen und beim Verbleib in Bildungsaktivitäten genannt (MacKeracher et al.: 2006). Situative Barrieren beziehen sich dabei auf die lebensbezogenen Rahmenbedingungen wie beschränkte Ressourcen hinsichtlich Zeit, Energie, Finanzen, familiäre Versorgungspflichten etc. Dazu kommen Barrieren, die sich Lernende durch ihre (negativen) Lernerfahrungen, wenig Selbstvertrauen, Unsicherheit gegenüber Lehrenden und/oder der Bildungseinrichtung etc. selbst aufbauen. Demgegenüber bezeichnet die akademische Barriere die Spanne, die sich zwischen den einst erworbenen und den noch vorhandenen Bildungsleistungen in folgenden Dimensionen auftut: Fähigkeiten und Fertigkeiten in Lesen, Schreiben, Hören, Sprechen, Rechnen, bei Computerkenntnissen, beim Umgang mit Informationen, bei Aufmerksamkeit und Gedächtnisleistung, beim kritischen und reflektierenden Denken etc. Zugangsbarrieren erfahren Lerninteressierte oft auch durch die Institutionen der Erwachsenenbildung selbst, etwa durch unklare und unzureichende Vor-Informationen über die Lernangebote, durch mangelnde Beratung, geringe Unterstützung in technischer Hinsicht, etwa beim Computer, oder ganz einfach durch fehlende Parkmöglichkeiten oder ungünstige Kurszeiten. Pädagogische Barrieren (Cumming: 1992, in: ebd.) zeigen sich zum Beispiel dann, wenn Lehrende keine geeigneten Strategien zur Unterstützung des Erwachsenenlernens haben, weil sie entweder keine Kenntnisse darüber haben und/oder ihnen die Erfahrung fehlt, weil sie Lernerfolge nicht anerkennen oder weil sie keine Unterstützung beim Distance Learning bieten.
Ein besonderes Phänomen der Folgen von Bildungsbarrieren ist das „dropout“, wenn TeilnehmerInnen die Bildungsmaßnahmen wieder abbrechen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Genannt werden zum Beispiel das Fehlen erkennbarer Vorteile (Geld, Karrieremöglichkeit, Problemlösung), die Schwierigkeiten beim Weiterlernen durch die zunehmende Komplexität des Stoffes, die unzureichende Schriftkompetenz für schriftliche Aufzeichnungen etc. Eine weitere Ursache ist die Langeweile, die eintritt, wenn der Zugang zum Inhalt fehlt oder wenn es nichts Interessantes mehr herauszufinden gibt. Auch die deutsche Bildungswissenschafterin Grotlüschen bezieht sich auf diese Reaktion, wenn sie formuliert: „In jedem Kurs sitzt jemand mit höchstem Interesse und jemand mit äußerster Langeweile. Hier sind sehr unterschiedliche Personen, Vorkenntnisse, Einbettungen und Lebenslagen zu erwarten, die ihrerseits für die Interessensintensität Relevanz haben“ (Grotlüschen: 2010, 172). Als pädagogische Antwort auf diese Barrieren wurden in den letzten Jahren mehrere Modelle zur Interesse-Entwicklung entwickelt (Grotlüschen: 2010; Renninger & Hidi: 2016).
In Kontext mit Lernschwierigkeiten spielen vor allem die sogenannten Teilleistungsstörungen eine große Rolle: 15 Prozent der Teilnehmenden an Alphabetisierungskursen in Deutschland haben mit Legasthenie bzw. Lese-Schreib-Schwächen zu kämpfen, während es in der Gesamtbevölkerung nur zirka vier Prozent Betroffene gibt. (Fiskler-Stang: 2011, zit. n. Kastner: 2015). Vermutet wird, dass viele Betroffene „Dyslektiker sind, deren phonologische Defizite aufgrund von sozialen Problemlagen in der Schulzeit nicht bemerkt und behandelt wurden“ (Grosche: 2012, zit. n. Kastner: 2015). Da die im Begriff „Dyslexie“ enthaltenen Schwächen vielfältig sind, wie die folgende Graphik zeigt, bedürfte es einer geeigneten Diagnostik, um ihnen entsprechend entgegenwirken zu können. In den meisten Fällen geschieht eine genaue Feststellung der Ursachen für Lese- und Schreibschwächen jedoch nicht, daher bleiben viele Schwächen unerkannt. Umso wichtiger wäre es, dass die Erwachsenenbildung diese Aufgabe im Rahmen ihrer Bildungs- und Lernberatung übernimmt. Auch das fallweise Abgehen von einer komplexen Kommunikation zugunsten einer „leichten“ und „leicht verständlichen Sprache“ könnte helfen, Barrieren abzubauen, die durch Sprachschwächen entstehen.4
Quelle: https://dyslexiagold.co.uk/Dyslexia/About
Schwerpunkt: grundlegende Kompetenzen und Kulturtechniken
Mit dem „Programme for the International Assessment of Adult Competencies“ (PIAAC) wurden die Lesekompetenz, alltagsmathematische Kompetenzen und grundlegende IT-Kompetenzen (Problemlösen im Kontext neuer Technologien) von Erwachsenen zwischen 16 und 65 Jahren erhoben. Das herausragende und gleichzeitig ernüchternde Ergebnis ist, dass 17,1 Prozent der 16- bis 65-Jährigen in Österreich nur über eine niedrige Lesekompetenz verfügen. Das entspricht hochgerechnet rund 970.000 Personen.5
Die Folgen dieser Defizite wirken sich nachteilig auf die Gesellschaft aus, denn Personen mit niedrigen Kompetenzen sind öfter der Meinung, dass sie keinen Einfluss auf die Politik nehmen können (vgl. Kastner & Schlögl: 2014, 270–272). Ähnliche Befunde erbrachten die Level-One-Studien in Deutschland, mit denen die Lese- und Schreibkompetenzen der Deutsch sprechenden Bevölkerung zwischen 18 und 64 Jahren untersucht wurden. Gering Literalisierte beteiligen sich weniger an Wahlen als die Gesamtbevölkerung, sie verfügen über eine niedrigere Gesundheitskompetenz und über niedrige digitale Grundkompetenzen, wiewohl sie soziale Netzwerke häufig nutzen (Grotlüschen et al.: 2019).
Angesichts dieser Ergebnisse stellt sich die Frage, welche pädagogischen Maßnahmen für einen Abbau von Bildungsbenachteiligung geeignet sein könnten. Für die Volkshochschulen ist die Sicherstellung von Grundbildung ein gesellschaftlich notwendiger Auftrag, der eine bessere Bewältigung des Alltagslebens und einen mündigen Umgang mit den gesellschaftlichen Anforderungen möglich macht. Dieses Ziel lag bereits dem ersten Alphabetisierungsmodell der Wiener Volkshochschulen Anfang der 1990er-Jahre zu Grunde, das eine starke gesellschaftlich orientierte Ausrichtung hatte, die weit über die damals verbreitete „Lese- und Schreibförderung“ hinausging. Vor allem das VHS-Stadtteilprojekt „Leben in Ottakring“ (Brugger: 1984) bot dazu relevante Erkenntnisse. Das Ziel dieses Projektes entwickelte sich aus den Erkenntnissen eines Stadtteilprojektes einer Berliner Volkshochschule, dessen Protagonist, Lutz von Werder, eine „Entschulung“ der Volkshochschulen forderte und für eine Einbindung von bildungsbenachteiligten Menschen eintrat, denn „[…] die Bewohnerbefragung (scheiterte) an der für die Bewohner meist unverständlichen Sprache des Fragebogens“ (von Werder: 1980, 148). Im Dialog mit verschiedenen Bevölkerungsgruppen gelang es „die Distanz unterprivilegierter Gruppen gegenüber der institutionellen Volkshochschularbeit ‚abzubauen‘“ (ebd., 151) und: „Die Autorität der Volkshochschule als Mittelklasseninstitution wird so überwunden“ (S. 142). Im Projekt „Leben in Ottakring“ wurde in Kooperation mit der Universität Wien ein guter Zugang zu verschiedenen Bevölkerungsgruppen geschaffen. Dabei zeigte sich, dass vor allem ältere BewohnerInnen große Mühe hatten, ihre Gedanken zu verschriftlichen oder auch Formulare auszufüllen. Es zeigte sich auch, dass Frauen mit türkischer Herkunft oft eine „Ausrede“ für ihre Familien benötigten, zum Beispiel einen Nähkurs zu besuchen, um begleitend dazu am Deutschkurs teilnehmen zu können. Im Zuge von Recherchen bei Bildungsprogrammen in den USA wurde der Vorteil von umfassenderen Basisbildungsprogrammen sichtbar, da zum Beispiel mathematische Kompetenzen viel zum Selbstbewusstsein benachteiligter Menschen beitrugen und der Einsatz von Computern die Ängste und Hemmnisse von Menschen mit Rechtschreibproblemen oder taktilen Mühen reduzieren half. Diese Erkenntnisse führten zu einer Alphabetisierungsmaßnahme für Menschen mit deutscher Muttersprache, der Monika Kastner einen „österreichischen Spirit“ konstatiert, da es kein schulisches Curriculum vorsah, sondern aus einer bedarfsgerechten Vermittlung von Alltagswissen und lebenspraktischen Kompetenzen bestand, die mit Hilfe von Lesen, Schreiben, Mathematik und Computerkenntnissen erworben werden konnten. Dieses „Basisbildungsmodell“ wurde prägend für die österreichische Entwicklung der Basisbildung (Cennamo et al.: 2018; Brugger et al.: 1997).
Aktuell tritt das Thema digitale Bildung immer mehr in den Vordergrund. Dabei geht es um die kompetente und reflektierte Nutzung von digitalen Medien, um den bewussten und verantwortungsvollen Umgang mit Daten und um die kritische Bewertung von Informationsquellen, wie der Website des BMDW entnommen werden kann.6 Selbst digitale Basiskompetenzen gehen über ein rein funktionales Verständnis von digitaler Bildung hinaus. Im Übrigen zeigt sich bereits im Diskussionsprozess um den Syllabus für den DigComp 2.2 AT, der auf dem europäischen Rahmen für digitale Kompetenz beruht, wie wichtig Medienkompetenz ist, und zwar durchaus im Sinne von politischer Bildung. Die österreichische Vorgehensweise bestätigt sich zudem in den oben erwähnten Befunden aus den Erhebungen und Testungen (PIAAC und Level-One-Studien).
Wie kann die Erwachsenenbildung zum Abbau von Benachteiligungen und Barrieren beitragen und ihre Beiträge zur Gestaltung von Chancengleichheit verbessern?
Die Auseinandersetzung mit dem Thema Bildungsbenachteiligung zeigt bei allem bestehenden Problembewusstsein und trotz zahlreicher Studien auch ein großes Ausmaß an Unbestimmtheit und Unklarheit. Das betrifft einerseits das Thema an sich und andererseits die zu erwartenden Zukunftsszenarien.
In Bezug auf das Thema Alphabetisierung gibt es allein schon bei den Begriffen viel Unklarheit und Widersprüchliches. Dabei sind die Formulierungen „primärer“ und „sekundärer“ Analphabetismus noch recht eindeutig: Der erste Begriff bezieht sich auf Menschen, die nie (ausreichend) Schreiben und Lesen gelernt haben, der zweite auf Menschen, die ihre diesbezüglichen Kenntnisse und Fertigkeiten wieder verlernt haben. Ganz anders verhält es sich beim Begriff des „funktionalen Analphabetismus“, der im Laufe der Jahre viele Änderungen und unterschiedliche Zuschreibungen erfahren hat. Die UNESCO-Definition aus dem Jahre 1984 beschreibt den funktionalen Analphabetismus als „Zustand einer Person, die nicht in der Lage ist, Schriftsprache zu verstehen, zu bewerten, zu gebrauchen und zu nutzen, um eine aktive Rolle in der Gesellschaft auszuüben, um ihre Ziele zu erreichen und ihr Wissen und Potential zu entwickeln“. 1994 dagegen verlagert sich die Wertigkeit auf die subjektive Gestaltung durch das Individuum, das funktional alphabetisiert ist, wenn es „[…] sich an all den zielgerichteten Aktivitäten ihrer Gruppe und Gemeinschaft, bei denen Lesen, Schreiben und Rechnen erforderlich sind, und ebenso an der weiteren Nutzung dieser Kulturtechniken für ihre eigene Entwicklung und die ihrer Gemeinschaft beteiligen kann“ (OECD/CERI: 1994, zit. n. Kastner: 2015).
Eine andere Richtung schlägt Nicola Accordino (2018) in einem Beitrag über die Auswirkung der sozialen Medien auf den funktionalen Analphabetismus ein. Hier wird die Zunahme an sozialen Medien verantwortlich für die Verbreitung des funktionalen Analphabetismus gemacht, da Menschen ihre zuvor erlangten Kompetenzen wie Lesen, Information, Kreativität und kritisches Denken nicht mehr aktivieren und dadurch verlieren. Vor allem die Verbreitung von Fake-News ist dabei zu bedenken. Der Journalist Enrico Mentana bezeichnete einmal Menschen, die Texte in sozialen Medien nicht genau lesen und dadurch nicht verstehen, als „Webeti“ – eine Kombination von Web und ebeti (italienisch für „Schwachköpfe“). Umberto Eco macht seinem Ärger noch deutlicher Luft: „Social Media gibt ganzen Legionen von Idioten das Recht zu sprechen, die früher höchstens an der Bar nach einem Glas Wein sprachen, ohne damit der Gesellschaft zu schaden. Sie wurden sofort zum Schweigen gebracht, während sie jetzt das volle Recht genießen, wie jemand, der einen Nobelpreis gewonnen hat“ (ebd.).
Konrad Paul Liessmann weist auf ein Paradox hin: „Einerseits soll Bildung helfen, sich in der Welt zu orientieren. Andererseits verändert sich die Welt so schnell, dass niemand mehr sagen kann, was man wissen oder können muss, um sich in der Welt zu orientieren“ (Mahler: 2018, 36).
Auch die Diskussion um den Begriff „Literacy“ und seine Bedeutung im Unterschied zu „Alphabetisierung“ wirft viele Fragen auf. So wird der Begriff „Literacy“ nicht nur als kognitive Kompetenz gesehen, sondern in Verbindung mit dem sozialen Kontext, seinen Werten, Einstellungen und Wissensbeständen gebracht. Demzufolge wird auch die Grundbildung in Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext und den Interessen der AkteurInnen, etwa Bildungsinstitutionen, Unterrichtenden und staatlichen Institutionen gebracht. In diesem Zusammenhang bietet auch die Entwicklung von Grundlagen zur „Health-Literacy“ oder „Digital-Literacy“ wertvolle Anregungen zur Erweiterung der Basisbildung. Im Konzept für eine „Cultural Literacy“ für die US-amerikanische Gesellschaft geht es zum Beispiel um Basiswissen, das Menschen befähigen soll, sich aktiv in der zeitgenössischen Gesellschaft zu betätigen. Enthalten sind dabei zahlreiche Themen zu folgenden Bereichen: Amerikanische Geschichte, Weltgeschichte, Bürgerkunde, Geographie, Kunst und Architektur, Musik, Mythen und Religionen, Phrasen, Aphorismen, Amerikanische Literatur, Weltliteratur, Naturwissenschaften, Physik, Technologie, Mathematik/Ökonomie.7
Institutionelle Barrieren spielen nach wie vor eine nicht zu unterschätzende Rolle im Zugang zum Erwachsenenlernen. Die Volkshochschulen haben durch offene und Outreach-Formate viele Erfahrungen sammeln können. Beispielsweise gelingt es, mit „Deutsch im Park“ Personen anzusprechen, die meist noch nie eine VHS besucht haben, und sie sehr niederschwellig mit der Volkshochschule vertraut zu machen und in weiterer Folge ihre Lernräume kennen zu lernen (Lenz: 2010; Zimmermann: 2010). Mit den „Minikursen“, die von der VHS initiiert und seit 2009 in der Hauptbücherei Wien und später in mehreren Bundesländern umgesetzt wurden, werden ebenfalls Erwachsene angesprochen, die nicht zu den klassischen VHS-TeilnehmerInnen gehören.
Überhaupt wäre eine kritische und vorurteilsfreie Sichtung didaktischer Konzepte hilfreich, die andere als die herkömmlichen Lernformen und Methoden neue Herangehensweisen ermöglichen könnten. Für die Leseförderung bietet sich zum Beispiel eine stärkere Orientierung an den Modellen der Interesseentwicklung an, da Texte, die die LeserInnen interessieren, besonders gut und effektiv das Lesenlernen fördern, auch wenn sie herausfordernd sind (vgl. Shirey & Reynolds: 1988, n. Renninger & Hidi: 2016). Erklärt wird das unter anderem dadurch, dass es eine signifikant geringere Anzahl an Geistesabwesenheit („mind-wandering“) gibt und dass durch eine andere Art der Codierung und Verarbeitung weniger kognitive Ressourcen benötigt werden (vgl. McDaniel et al.: 2000, n. ebd.). Personen befassen sich langanhaltend mit dem Thema, sie arbeiten freiwillig und unabhängig daran und sie entwickeln mehr Verständnis und/oder vertieftes Wissen über das Thema. Dabei gelingt eine sprachliche Förderung durch Interesseentwicklung über jegliche Art von schriftlichen Inhalten/Themen, auch über Unterhaltungslektüre, Features, Multimedia, Hören von Podcast, digitale Aktivitäten etc. (Larson: 2014a, 2014b, n. ebd.).
Ein (kritischer) Blick auf die internationalen Erfolge von Alphabetisierung könnte Anregungen für die österreichische Weiterentwicklung bieten. Vor allem die weit verbreitete Methode „Yo si puedo“ ist hier zu nennen, die mit einer Kombination aus Buchstaben und Zahlen und viel Selbstlernmaterial arbeitet.
Zwischen 2002 und 2016 wurden über zehn Millionen Menschen in 130 Ländern mit dieser Methode alphabetisiert. Die Methode wird nicht nur in die unterschiedlichen Sprachen übersetzt, sondern berücksichtigt auch die jeweiligen Gegebenheiten des Landes. Sie gibt es auch im Braille-System für blinde Menschen sowie für gehörlose Menschen (Boughton & Durnan: 2014).
Weitere Überlegungen wurden im Zuge der Erarbeitung der Digitalisierungsstrategie der österreichischen Volkshochschulen angestellt. Lernende erhalten über die Lernplattform bereits vor Kursbeginn Unterlagen zur Verfügung gestellt, begleitend zum Kurs werden diese bereitgestellt, und Aufgaben sind auch nach dem Kurs zugänglich. Darüber hinaus bleibt die Lernplattform für die Teilnehmenden noch eine Zeitlang zugänglich. Mit dieser Vorgehensweise kann Dropout entgegengewirkt werden und Teilnehmende mit Beeinträchtigungen wird die Kursteilnahme erleichtert (vgl. Bisovsky et al.: 2006). Die im Zuge der Covid-19-Pandemie erprobten hybriden Formate, die aus einem Präsenzkurs bestehen und gestreamt werden, sind ebenfalls ausbaufähige Formate zum Abbau von Barrieren und zur Reduktion von Dropout.
Auch mit anderen spezifischen Formaten, die sich an den Bedürfnissen der Lernenden ausrichten, wurden bereits vielfältige Erfahrungen gemacht, etwa mit dem Tandem-Lernen oder auch mit einem begleitenden Coaching. In der sprachlichen Bildung von Personen mit Migrations- oder Fluchthintergrund bieten sich Tandems an oder das Schaffen von Begegnungen mit den Menschen, die in der Umgebung leben oder arbeiten.
Anknüpfend an die Erfahrungen, die von Volkshochschulen mit Stadtteilarbeit und Bildungsarbeit in Quartieren bereits gemacht wurden, bietet es sich an, diesen Zugang zu erweitern. Die Volkshochschulen sind bekannt dafür, dass sie mit vielen lokalen und regionalen Einrichtungen, Vereinen etc. kooperieren. Wenn die Menschen nicht als statistisch erfassbare Größe („Zielgruppe“) wahrgenommen werden, sondern als Subjekte mit ihren Eigenarten, ihrer Individualität, ihren Bedürfnissen und Interessen, wäre eine stärkere Orientierung daran eine wertvolle Ergänzung zur Kompensation von formellen Bildungsabschlüssen. Eine Allgemeinbildung mit Elementen von grundlegenden beruflichen Kenntnissen im Sinne der Europäischen Schlüsselkompetenzen könnte dabei ein Hebel zur Schaffung einer ganzheitlichen Menschenbildung sein. Eine wünschenswerte Weiterentwicklung könnte auch der Aufbau von Netzwerken mit anderen Wissens- und Bildungsorganisationen, mehr technischer Support bei informellen Lerngelegenheiten und der stärkere Einsatz von LernbegleiterInnen zur Unterstützung, Förderung und Motivierung von Lernenden sein.
In jedem Fall ist ein ständiger offener, selbstkritischer und vorurteilsarmer Dialog in der Erwachsenenbildung anzustreben. //
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