1919: Der große Strukturplan

Gesellschaftlicher Hintergrund

Am 14. Jänner 1918 um 7.30 Uhr legte die Belegschaft der Daimler-Motorenwerke in Wiener Neustadt die Arbeit nieder. Damit wurde eine Streikbewegung ausgelöst, die sich rasch ausdehnte und zur größten wurde, die jemals in Österreich stattfand. In der Folge kam damit bald ein neues betriebliches und gesellschaftliches Organisationsprinzip auf: die „von unten“ aufgebauten Räte. Beflügelt von den russischen „Räten“, den Sowjets, und den kurzzeitigen Räteentwicklungen in Ungarn sowie in einigen Teilen Deutschlands, wurde die österreichische Rätebewegung zu einer nahezu landesweiten Bewegung. Ihr revolutionärer Impetus wurde durch die Sozialdemokratie sozial integriert. 1924 versiegte die Rätebewegung endgültig. Vor dem Hintergrund ihrer anfänglichen Dynamik kam es 1919 zu einem vor- und nachher nie gekannten sozialen und politischen Reformschub. Unter vielem anderen wurde der 8-Stunden-Tag eingeführt und mit den Betriebsräten eine betriebsdemokratische Einrichtung geschaffen, die noch heute besteht.1
Das allgemeine Frauenwahlrecht stellt ebenfalls eine nachholende Errungenschaft dieser Zeit dar.

Für die Erwachsenenbildung wurde auf der rechtlichen Basis eines Erlasses vom 30. Juli 1919 ein „Regulativ für die Organisation des Volksbildungswesens in Deutschösterreich“ verabschiedet, das eine tiefgreifende (Re-)Organisation des gesamten Volksbildungswesens vorsah. Vereinfacht ausgedrückt wurde mit diesem Regulativ eine Struktur der Volksbildung von „unten nach oben“ vorgesehen, deren Strukturtermini auf die breite Rätediskussion zurückgehen. Parallel dazu wurde eine Struktur „von oben nach unten“ geschaffen.2 Dazu wurden umfangreiche Erläuterungen publiziert.3 Im Österreichischen Volkshochschularchiv ist dazu Quellenmaterial zu finden.

Struktur von oben nach unten

Nach dem „Regulativ“ kam dem „Unterrichtsamt“, dem Ministerium, die „oberste Leitung und Beaufsichtigung des gesamten Volksbildungswesens“ zu. Zu diesem Behufe bediente es sich der nachgeordneten Dienststelle „D.-ö. Volksbildungsamt“, aus dem in der Zweiten Republik die Abteilung Erwachsenenbildung im Unterrichtsressort hervorging.

Als Aufgaben des „Volksbildungsamtes“ wurden unter anderem vorgesehen: die Verwaltung der vom Staat für Volksbildungszwecke zur Verfügung gestellten Mittel, die Unterstützung der „freien Volksbildungsinstitutionen“, die Einflussnahme auf die Errichtung neuer Volksbildungsinstitutionen, die Veranstaltung von „Volksbildnerkursen“, womit gezielte Mitarbeiter/innenweiterbildung bereits 1919 vorgesehen wurde. Dazu und zur Fachdiskussion sollte auch die realisierte Herausgabe der Zeitschrift „Volksbildung“ dienen.4 Sie kann als eine Vorläuferin des heutigen „Magazin erwachsenenbildung.at“ gesehen werden. Eine weitere Aufgabe war die Beobachtung aller Volksbildungsbestrebungen im In- und Ausland im Hinblick auf eine etwaige praktische Umsetzung in Österreich. Es sollte überdies, in der Gegenwart seit vielen Jahren eine unerfüllte Forderung, ein jährlicher Bericht zur Volksbildung und ihrer Wirksamkeit veröffentlicht werden.

Zur Unterstützung des „Volksbildungsamtes“ wurden „Landesreferenten für das Volksbildungswesen“ geschaffen. Ein „erfahrener Fachmann“ sollte dafür gefunden werden. Die damit ausgelöste Entwicklung führte in der Zweiten Republik zu den „Leitern der Förderstellen des Bundes für Erwachsenenbildung“, die erst zu Beginn dieses Jahrhunderts aufgelöst wurden. Neben vielem anderen oblag den „Landesreferenten“ die Aufgabe, einen Kataster über Bildungsmittel und Vortragende anzulegen und die Vermittlung (womit offensichtlich Koordinierung gemeint war) zwischen den einzelnen Volksbildungsinstitutionen des Landes herzustellen.5

Struktur von unten nach oben

Parallel zu dieser Struktur wurde eine nach dem Ausscheiden der Sozialdemokratie aus der Koalitionsregierung nie realisierte Struktur von „unten nach oben“ vorgesehen. Basis sollten „Ortsbildungsräte“ sein, womit 1919 das Südtiroler Modell der „Bildungsausschüsse auf Gemeindeebene“ auf der Basis des Weiterbildungsgesetzes von 1983 vorweggenommen wurde.6

In den „Ortsbildungsräten“ sollten gleichermaßen Lehrende beziehungsweise „geistig Führende“ sowie Delegierte der Hörerschaft vertreten sein. Dabei handelte es sich um einen nie realisierten basisdemokratischen Ansatz. Die mit einer Funktionsperiode von zwei Jahren ausgestatteten Ortsbildungsräte sollten Volksbildungsbestrebungen in ihrem Wirkungsbereich praktisch durchführen. Vorgesehen waren Veranstaltungen ebenso wie die Initiierung von Einrichtungen und die „bestmögliche Ausnutzung schon vorhandener Volksbildungsinstitutionen“.

In ähnlicher Weise war die Schaffung von Kreis- und Landesbildungsräten vorgesehen, die im Deutschösterreichischen Volksbildungsrat ihre Spitze erreichen sollten. Ihm sollte ein zwanzig Mitglieder zählender Arbeitsausschuss zur Seite stehen. Für den Vorsitz war der Leiter des Volksbildungsamtes vorgesehen. Der Volksbildungsrat war als Beratungsorgan konzipiert. Beratungsorgane für Erwachsenenbildung gibt es auf staatlicher Ebene heute in einigen europäischen Ländern, insbesondere in Finnland. In Österreich bestand in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre im „Unterrichtsministerium“ ein Beirat für Erwachsenenbildung, der nach Ablauf der Funktionsperiode nicht mehr neu bestellt wurde.

Konservativ getönte Erläuterungen zum „Regulativ“

Helmut Engelbrecht, der österreichische Bildungshistoriker, nennt Heinz Kindermann, Mitarbeiter im Volksbildungsamt, in der Zweiten Republik prominenter Theaterwissenschafter und vorher prominenter Nazi, als für die Konzeption des „Regulativs“ verantwortlich. Das wäre noch zu überprüfen. Kindermann dürfte aber der Autor der „Erläuterungen“ zum „Regulativ“ gewesen sein. Sie beginnen mit dem unreflektierten Satz: „Neue Zeiten erfordern neue Menschen“. Dass dem keine emanzipatorisch-gesellschaftsverändernden Züge zugrunde lagen, geht schon aus der Feststellung hervor, dass nach dem „Kampf der Waffen“ der „geistige“ sowie der „wirtschaftliche Kampf“ einsetzt. Es geht darum, „alle Volkskreise der deutschen Alpenlande zu jener lebensvollen, geistigen Bewegung aufzurufen, die wir ‚Volksbildung‘ nennen“, wofür eine „äußerste Kräftekonzentration“ nottut. Die Volksbildungsbewegung „muß bis in alle kleinsten Orte, bis in die entlegensten Täler unserer deutschösterreichischen Heimat vordringen“. Um das zu erreichen, ist Vereinheitlichung ebenso geboten wie individuelle Entfaltung der einzelnen Einrichtungen. Das „Regulativ“ geht „von dem Grundgedanken aus, daß ernste Volksbildungsarbeit, deren Auswirkungen letzten Endes im gesamten Kultur- und Wirtschaftsleben unseres Staates fühlbar werden müßten, nur zustande kommen kann durch ein einträchtiges Zusammenwirken von sachlich und ökonomisch zielbewußter staatlicher Verwaltung und von einem System frei gewählter Vertretungskörperschaften“. In dieser Tonart geht es weiter. Gesellschaftsverändernde Zielsetzungen wie eine grundlegende Demokratisierung des Bildungswesens wurden in den „Erläuterungen“ nicht mit dem „Regulativ“ verbunden. Inhaltlich war etwa Aufklärung als Zielsetzung kein Thema. Dies entsprach auch der ab 1920 konservativ dominierten Unterrichtsverwaltung. Demokratisierungschancen wurden ebenso wenig ins Auge gefasst wie mögliche Bürokratisierungstendenzen, die mit der vollen Realisierung des „Regulativs“ hätten einhergehen können.

Das „Regulativ“ ist bei aller Problematik im Einzelnen der einzige rechtlich verankerte Gestaltungsplan für die österreichische Erwachsenenbildung. Als solcher sollte er nicht in Vergessenheit geraten, wenn Erwachsenenbildung jenseits von technokratischen Plänen und an ökonomischer Verwertung orientierten inhaltlichen Zielsetzungen qualitativ weiter entwickelt werden soll. //

1  Vgl. ausführlich Hautmann, Hans (1987): Geschichte der Rätebewegung in Österreich 1918–1924. (Veröffentlichung des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung, hrsg. v. Karl R. Stadler).Wien – Zürich: Europaverlag.

2  Vgl. D.-ö. Volksbildungsamt (1919): Regulativ für die Organisation des Volksbildungswesens in Deutschösterreich (genehmigt mit Erlass vom 30. Juli 1919, Z. 16.450). In: Volksbildung. Monatsschrift für die Förderung des Volksbildungswesens in Deutschösterreich, 1 (1), 5–10. Nachgedr. in: Engelbrecht, Hans (1988): Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Erziehung und Unterricht auf dem Boden Österreichs. Bd. 5: Von 1918 bis zur Gegenwart (S. 758–761). Wien: Bundesverlag..

3  Vgl. D.-ö. Volksbildungsamt (1919): Erläuterungen zum Regulativ für die Organisation des Volksbildungswesens in Deutschösterreich. In: Volksbildung. Monatsschrift für die Förderung des Volksbildungswesens in Deutschösterreich, 1 (1), 11–17. Aus neuerer Perspektive vgl. Altenhuber, Hans (1999): Staat und Volksbildung in Österreich 1918–1938. In: Wilhelm Filla, Elke Gruber & Juri Jug (Hrsg.), Erwachsenenbildung in der Zwischenkriegszeit (VÖV-Publikationen 15) (S. 72–82; insbes. S. 75 f.). Innsbruck: Studienverlag.

4  Vgl. Blaschek, Hannelore (1999): Perspektiven der ländlichen Bildung im Spiegel der Zeitschrift „Volksbildung“. In: Filla, Gruber& Jug (Hrsg.), Erwachsenenbildung in der Zwischenkriegszeit, a.a.O., S. 83–96.

5  Erst in den letzten Jahren arbeiten Elke Gruber und andere an systematischen Übersichten über die Anbieterlandschaft der Erwachsenenbildung in einzelnen Bundesländern (Steiermark, neuerdings Tirol).

6  Vgl. Autonome Provinz Bozen. Landesgesetz vom 7. November 1983, Nr. 41: Regelung der Weiterbildung und des öffentlichen Bibliothekswesens. Insbes. Art. 7.

Filla, Wilhelm (2014): 1919: Der große Strukturplan. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Dezember 2014, Heft 254/65. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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