Bildungsarmut und Bindungslosigkeit lassen sich nicht wegimpfen
Ermutigungen zur Stärkung der Erwachsenenbildung in pandemischen Zeiten

Was hält unsere Gesellschaft heute zusammen? Was gibt uns in einer Welt, die von Klimakatastrophe und Pandemie bedroht ist, noch Mut, Geborgenheit, Sicherheit oder das Gefühl „Teil eines Ganzen“ zu sein? Wie haben sich z. B. in den letzten beiden Jahren die Parameter menschlichen Zusammenlebens in Bezug auf die Vorstellungen von Autonomie, Mitbestimmung oder Gemeinwohl verändert? Ist unsere pandemiegebeutelte Welt mit ihren bisher vor allem an Individuen ausgerichteten Vorstellungen von Freiheit und Gesellschaft weiterhin handlungsfähig oder ist das Vertrauen darauf, dass die Maßnahmen der Politik immer auch auf einer tragfähigen gemeinsam und öffentlich erzeugten politischen Kultur fußen, brüchig geworden? Lassen sich die heutigen Herausforderungen in Bezug auf den Schutz unserer Lebensumwelt, die Sicherstellung einer gerechten Verteilung von Gütern, Freiheitsrechten oder Bildung in der bisherigen, administrativ orientierten Form bewältigen? 

Leicht könnte ich die Liste mit solchen Fragen noch weiterspinnen, ohne allerdings einen wesentlichen Erkenntnisvorgang dadurch einzuleiten. Denn gemutmaßt, moralisiert, befürchtet und beklagt wurde immer schon viel – auch ohne dass wir die Schwierigkeiten, in denen wir stecken, dadurch deutlicher verstehen gelernt hätten. Die Klagen darüber helfen vielleicht zur Etikettierung des „Feindes“, sind aber dort nutzlos oder gar wehleidig, wenn dadurch kein Bezug zum eigenen Handeln, zu einer spürbaren ­Verantwortungsübernahme hergestellt werden kann. Früher haben wir das einmal Humanismus genannt, die Fähigkeit und die Bereitschaft zu fragen und zu antworten, zuzuhören und sich in Handlungen und Sprache Rechenschaft darüber ablegen, wie es steht um den individuellen und gesellschaftlichen Lernprozess in Bezug auf die Werte von Teilhabe, Mündigkeit, Verantwortung und Respekt. Diese Aufgaben sind geblieben, die Narrative dazu sind aber heute wie ein Fettfleck strukturloser geworden und bieten kaum noch eine Erzählung, in die „alle“ eingebunden werden könnten. Welche Folgen hat es für eine Gesellschaft, wenn sie sich so uneins darüber oder gar uninteressiert für die Grundsätze, Einsichten und Stimmungen, aus denen Menschen heraus ihre Umwelt einschätzen, ist? Ist eine Gesellschaft, „res publica“, denkbar, ohne dass sich Individuen als Teil einer Gemeinschaft verstehen, innerhalb derer öffentlich und kooperativ verhandelt werden kann, an welchen Einflussgrößen sich das „Gute“, das „Gewollte“, das Gemeinwohl orientiert und welchen Anteil die Einzelnen daran habe? Ob es dabei um die großen Ziele der Erhaltung der Freiheit, des Friedens, der Natur oder um die lebenspraktische Versorgung mit Gütern, Informationen oder Bildung handelt, bedarf es nicht eines zumindest prinzipiellen Vertrauens, dass Angelegenheiten der Allgemeinheit auf Basis auch eines allgemeinen Einvernehmens geregelt werden können und müssen? Wieder drängen die Fragen auf Antworten. Eine davon ist, dass ein vor allem auf Konsumakten basierendes, marktwirtschaftlich ausgerichtetes Staatswesen, das versucht, diese „Vorgänge“ versorgungstechnisch mit ökonomischen Mitteln sicherzustellen, wo Angebot und Nachfrage, also Konkurrenz und Gewinn dominieren, dies nur bedingt leisten kann. Wo kein gemeinsames immaterielles Gut im sozialen Sinne, das von allen wertgeschätzt wird, existiert, werden die gruppenspezifischen Identitätskämpfe (wie sich in der Pandemie gezeigt hat) vor allem für gesellschaftlich vulnerable Gruppen bedrohlich und auch würdelos. Würde liegt, wie Kant betont darin begründet, dass Menschen niemals nur zu Mitteln gemacht werden dürfen: „Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, das hat eine Würde“. (Kant: 1911, 435). Diese „Erhabenheit“ spürbar zu machen, ist in unserer Warenwelt für viele schwer zu erreichen, wo doch selbst Prozesse wie Demokratie oder Politik wie Dinge behandelt werden, die wir achtlos in die Ecke stellen können. Dabei wären die hierin gerahmten Erfahrungen immer wieder zu gestalten, zu überprüfen und ja, auch zu neu zu lernen. Wenn wir unserer Umwelt, dem In- und Durcheinander unserer Erfahrungen in Familie, Arbeitswelt oder der Pandemie betroffen, herausgefordert, mutlos oder unsicher gegenüberstehen, schützt uns keine pauschale Schuldzuweisung oder eine privatistische Resignation, sondern es geht stets um das Bemühen, unsere zerbrechlichen Lebensformen mit den anderen zu teilen, daran und dadurch zu lernen. Ein solches Lernen, das im Nachdenken über die eigenen Erfahrungen die Kompetenz des alltäglichen Dreinredens übt, bedarf der vielfältigen Anregungen, wie dies schon Wilhelm v. Humboldt ­gefordert hat: „Allein außer der Freiheit erfordert die Entwickelung der menschlichen Kräfte noch etwas andres, obgleich mit der Freiheit eng Verbundenes: Mannigfaltigkeit der Situationen. Auch der freieste und unabhängigste Mensch, in einförmige Lagen versetzt, bildet sich minder aus“ (Humboldt: 1903, 106). Die Bereitschaft und Fähigkeit zur Teilnahme an den Möglichkeiten demokratischer Willensbildung hängt dementsprechend stark von ökonomischen und sozialen Bedingungen ab. Sie hat aber auch damit zu tun, wie stark unser Vertrauen darin ist, dass unsere „Stimme“ auch tatsächlich gehört wird – in der Familie, am Arbeitsplatz oder in der übrigen Lebenswelt. In diesen Prozessen des Aus-Handelns entstehen die feinen Netze der Selbstachtung und des Selbstwertgefühls. Wer diese Formen der sozialen Anerkennung nicht spürt, wird seltener den Mut aufbringen, sich an demokratischen Auseinandersetzungen mit persönlichen Beiträgen zu beteiligen. Gelegenheiten dazu gibt es zur Genüge, ob in der Familie, der Schule, in den vielen Vereinen und Verbänden. Diese werden auch gut genutzt, dennoch zeigt sich, dass es trotzdem immer stärker isoliertes Gruppenhandeln und Abschottungstendenzen gibt, die die gemeinschaftliche Bindung schwächen und die Mannigfaltigkeit der Situationen reduzieren auf Exklusionsnarrative. Diese wiederum werden oft auch noch medial als Kulturkämpfe brachial inszeniert, um auf der Grundlage symbolischer Fragen Abgrenzungsmythen zu festigen. Wir stehen dann quasi schicksalshaft entscheidend vor den Fragen: Hetero oder LGBT, Christentum oder Islam, Mauer oder Migration und glauben, mit einem Votum für oder gegen eine dieser „Grundsatzentscheidungen“ ein Problem lösen zu können (zu müssen). So ernst wir diese Ereignisse auch nehmen sollten, sie sind ja keineswegs als Spiel oder Witz aufzufassen, die Aufgabe die daraus folgt, ist, dass unsere bislang stark auf das Individuum ausgerichteten Begriffe von Bildung, Freiheit oder Staat gemeinsinniger werden müssen. 

Erwachsenenbildung: Gemeinsam lernend Auswege finden 

Die Lektionen, die wir hier aus den Erfahrungen mit der Pandemie gelernt haben zeigen, dass die Koordinaten zur Bestimmung gesellschaftlich vernünftigen Handelns zu dem Zeitpunkt immer brüchiger wurden, als das Verhältnis von Autonomie und Verpflichtung, von Option und Verantwortung, aber auch von Freiheit und Beschränkung nicht mehr lebensweltlich gerahmt war, sondern nur noch von Appellen oder Drohungen zur Selbstbegrenzung. Bald schon wurde sichtbar, dass die Aufrufe zur Vernunft ohne eine regulative Idee des Gemeinsamen Widerstand erzeugten. War der Wille zur (Selbst-)Disziplinierung zu Beginn der Pandemie zwar durchaus großflächig gegeben, so zeigte sich in absehbarer Zeit, dass die darauffolgenden (Neu-)Ordnungsprozesse nur eine Art von Feuerwehreinsatz darstellten, die weder die Ursachen für die der Pandemie zugrundeliegenden Entwicklungen, noch die Idee eines positiven Gesellschaftsbegriffs eindeutig benennen oder grundlegen konnten (oder wollten). So wurde und wird eine sich daraus ableitende Verpflichtung, die Prozesse der Globalisierung, der sozialen/hemisphärenspezifischen Spaltung oder unseres Konsumverhaltens kaum grundsätzlich diskutiert. Dabei könnte diese Pandemie uns (stärker noch als der Klimawandel, der uns ebenso alle betrifft, dessen konkrete Folgen aber für viele oft noch zu diffus bleiben) zeigen, welche Vorstellungen wir über unser Verhältnis zur Umwelt generiert haben und welche Schäden wir dabei verursachen. Der Blick könnte sich solcherart wieder den essenziellen Fragen zuwenden: Welche Welt wollen und können wir den nächsten Generationen überlassen und wie wollen wir eine politische Kultur dafür schaffen, die die notwendigen Lern- und Bildungsprozesse dabei unterstützt, zu erkennen, an welchen Stellen mir die Welt zugänglich und ausgehändigt ist. Eine (wie derzeit sichtbar werdende) schadenfrohe oder gar gehässige Abwendung vom fehlbaren Versorgungs- und Rechtsstaat löst dabei keines unserer Probleme. Sie bedient eher nur ein fragwürdiges Geltungsbedürfnis oder ein moralisches Überlegenheitsgefühl. Es geht dabei viel grundlegender um einen Grundkonflikt der Moderne: der Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft. Dabei sind es die spätestens seit Rousseau untrennbar aufeinander bezogenen Verhältnisse von Individuum und dem Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, von den lernend sich entwickelnden Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen in Bezug auf Individualisierungschancen und Solidaritätspotenziale, die es möglich machen, dass wir uns über Grundsätzliches – was die Zukunft betrifft – verständigen können und menschenwürdige Perspektiven entwickeln. 

Wie kann das dafür notwendige Maß an Selbstachtung, Selbstwertgefühl und sozialer Anerkennung gestützt werden? Ohne Vertrauen darauf, dass die eigene Stellung zur individuellen Lebenswelt es wert ist, Teil der Öffentlichkeit zu sein, bleiben die vielen Angebote zur „Teilnahme und Teilhabe“ unserer Gesellschaft meist wirkungslos, ja es verstärkt sich dadurch die soziale (und kulturelle) Isolation und damit auch die Einsicht und die Wirkungslosigkeit gemeinsamer Willensbildung. Gerade in Zeiten der Unsicherheit, der Entmutigung oder Ernüchterung wird deutlich, wie wichtig und fundamental die Aufgaben der Erwachsenenbildung sind. Indem sie in den vielen tagtäglichen Bemühungen die Urteilsbildung von Menschen stärkt und dadurch zur Wahrnehmung der eigenen Rolle und Verantwortung im Gemeinwesen beiträgt, arbeitet sie beharrlich daran, eine möglichst redliche Bestandaufnahme der Wirklichkeit(en) und deren Folgen zu ermöglichen. Jenseits eines heute so überhandnehmenden utilitaristischen Machertums oder eines marktwirtschaftlichen Pragmatismus geht es beharrlich auch um die Ermutigung, ein Ideal nicht gleich aufzugeben, wenn die Zukunft verschlossen erscheint. Das ist eine Aufgabe, die die Erwachsenenbildung in vielen Phasen ihrer Geschichte wunderbar ausgestalten konnte. So war (und ist) die Theorie und die Praxis der Erwachsenenbildung in vielen Ansätzen mit der Idee der Aufklärung, mit der Weiterentwicklung der menschlichen Gesellschaft durch gemeinsame Willensbildung verbunden. Ob dies die ArbeiterInnenbildung, die Volksbildung, oder auch die vielen Zugänge einer christlichen Erwachsenenbildung waren, immer ging es auch darum, Erwachsene in die Lage zu versetzen, dass sie aktiv an der Verwirklichung einer gemeinsamen und besseren Gesellschaft mitwirken können. Diese Humanisierung eines gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprozesses durch die mannigfaltigen Angebote der Erwachsenenbildung wurde nicht nur durch den Willen zu Wissen und Vernunft getragen, sondern auch durch Begriffe wie Verantwortung und Empathie. Das darin enthaltene Lernpensum ist heute wichtiger denn je, wenn es darum geht, Individual- und Kollektivegoismen derart zu erweitern, dass mehr Gemeinsames im Verschiedenen gefunden werden kann. Gerade in den hier entwickelten partizipativen Konzeptionen einer biographisch sozial wirkenden Erwachsenenbildungsarbeit setzen Lernprozesse an den Lebensbedürfnissen der individuellen gesellschaftlichen Akteure an und tragen dadurch zu gesellschaftlicher Emanzipation und Demokratisierung bei. Diese Formen der Bildungsarbeit, basierend auf einem alltagsnahen und lebensweltbezogenen Lernen, unterstützen dabei mit ihren Angeboten Phasen oder Situationen individuell-biographischer Bedürfnisse von Erwachsenen nach Bildung und Persönlichkeitsentwicklung, wie dies z. B. die Volkshochschulen mit ihren klugen und fein verästelten Programmen seit Anbeginn machen. Die hier entstandenen vielförmigen Formen der Unterstützung von Momenten der Selbst-Bildung werden in der Volkhochschule aber stets von Kommunikations- und Interaktionsangeboten gerahmt und dadurch eingebunden in die spezifischen Lebens- und Lernwelten anderer Personen.

Lernwelten der Ermutigung

Der Wert von Lern- und Bildungsprozessen bezieht sich in diesem Sinne grundsätzlich auf deren Tauglichkeit zur Bezugnahme auf die je konkrete Lebenswelt – wobei das dabei erzielte Ergebnis nichts ist, was man besitzt, sondern sich daran orientiert, welche weiteren Handlungsmöglichkeiten daraus abgeleitet werden können. Der Blick auf die Generierung von Chancen zur aktiven Teilhabe an der Gesellschaft verweist Lern- und Bildungsprozesse deshalb stets zurück auf die konkreten Lebensverhältnisse. Dieser Fokus hat Heide von Felden und mich 2008 veranlasst, dafür den Begriff der „Lernwelt“ zu generieren, wobei dieser seinen theoretischen Gehalt vom Begriff der „Lebenswelt“ herleitet. Wir beziehen uns dabei auf ein Lernen, das in der Lebenswelt der Individuen verortet ist und an den Erfahrungen und Deutungen der Menschen ansetzt, die durch Kommunikation aber immer schon gesellschaftlich basiert sind. (Vgl. Egger & Felden: 2008). Dabei spielen einerseits die Bedingungen der Erwerbsarbeit, aber auch die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen eine überaus gewichtige Rolle. So wie eine tatkräftige Beteiligung am politischen Meinungsaustausch Grundlage für jede Demokratie ist, so ist die Bereitschaft und Fähigkeit zur Teilnahme an Lehr- und Bildungsprozessen stark beeinflusst von ökonomischen, zeitlichen, regionalen oder sozialen Faktoren. 

Die Krisen unserer Gesellschaft erzeugen innerhalb dieser Fragestellungen unverhofft auch immer wieder Freiräume, die kreativ genutzt werden können. Erwachsenenbildung hat hier (wie erwähnt) eine bedeutende historische Tradition und Aufgabe einzubringen und bleibt dadurch unmittelbar verbunden mit Zukunftsverantwortung für das Zusammenleben von Menschen. Dazu braucht sie aber wirksame und robust-lebensweltliche Formate, gespeist und unterstützt durch empirische Daten, Lebenserfahrung, Angebote an lokale Stakeholder, aber auch Muße für Musik, Literatur oder Bewegung. Damit Menschen sich selbst in einer Gemeinschaft wiedererkennen können, damit sie die Ziele, Handlungen und Zumutungen nicht nur von „oben herab“ verordnet sehen, sondern ihren Platz darin einnehmen können, ja, sich auch dafür einzusetzen, bedarf es einer narrativen Sicht auf die Welt, in der nicht einfach nur die Zwänge des Geforderten gelten. Das täglich in den Kursen stattfindende „Storytelling“, die vielen, in den Pausen oder nach der Veranstaltung stattfindenden Möglichkeiten einer lebensnahen Narrativität, bieten tausende Anknüpfungspunkte, um zu begreifen, wie und warum Menschen ihre Geschichte „machen“ und wie vielfältig dabei ihre Handlungsmotivationen sein können. Erwachsenenbildung ist eben auch eine Form der demokratischen Praxis. Damit ist nicht nur das kursbezogene Miteinander in den Veranstaltungen gemeint, sondern die vielen Formen der Gemeinschaftsarbeit, die wechselseitigen Bezug- und Rücksichtnahme, das gemeinsame Entwickeln von personaler und sozialer Kompetenz, die für die Mitwirkung an demokratischen Willensbildungsprozessen unverzichtbar sind. Was die Erwachsenenbildung hier im Kleinen erlebbar macht, ist jene scheinbar vergessene Grundlegung, dass Demokratie eine Staatsform ist, die wir stets neu er-lernen, prüfen, verteidigen müssen. Gerade dabei spielt die Erwachsenenbildung in ihrer besonderen Rolle als gesellschaftliche Akteurin eine wesentliche Rolle, da sie mit ihrem lebensweltlich verästelten Kapillarsystem regional und sozial Prozesse des Gemeinsamen im Sinne der Aufklärung stärken hilft. Jenseits von beruflichen, ideologischen oder religiösen Zurichtungen wird vor allem in den vielen Begegnungsflächen der allgemeinen Erwachsenenbildung ein Stück gesellschaftliches (also politisches) Selbst-Vertrauen geschaffen und verstärkt, das erfahrbar machen kann, wie und zu welchen Teilen wir für unsere Welt verantwortlich sind. Menschen, die in den bunten Lernwelten der Erwachsenenbildung nach der Geschichte, den Fakten, den Vorstellungen oder auch den Träumen fragen, bringen sich dadurch selbst und die sie umgebende Welt auf eine nachhaltige Weise hervor und tragen dazu bei, das schwindende Vertrauen in die demokratischen Institutionen wiederzugewinnen.

In diesem Sinne gibt es keine Krise der politischen Bildung, denn wer durch Lern- und Bildungsangebote dabei unterstützt, die Vorgänge einer komplexen Lebenswelt (durch gemeinsames Lernen, Turnen oder auch Singen) zu verstehen, hat schon damit begonnen, Mitsprache als Mittel der Verständigung zu betrachten. Mitsprache klingt erst einmal nach recht wenig, ist aber viel mehr als das Anmelden von Bedürfnissen oder das Einklagen von Rechten. Sie betont (ganz im Sinne der Bedingungen der Aufklärung) die Doppelfunktion von Rechten und Pflichten. Wer freiheitsfähig ist, bleibt auch freiheitspflichtig, wer vernunftfähig ist, muss diese Vernunft auch benützen. Die Erwachsenenbildung trägt dazu bei, diese Zuversicht in eine zumindest prinzipielle gemeinsame Regelung der Welt zu steigern, indem sie die Wahrnehmungsmöglichkeiten der Lebens-, Lern- und Arbeitswelten erweitert. Ohne Zweifel sind „die Umstände“ innerhalb derer wir leben oft schwierig, ist alles irgendwie miteinander verknüpft, kann kaum jemand die vielen (beabsichtigten und unbeabsichtigten) Wechsel- und Nebenwirkungen überblicken. Und dennoch bedarf es eines solchen robusten Willens zum Verstehen, um nicht vor den Herausforderungen zu kapitulieren oder auf „einen starken Mann“ zu hoffen, der ohne Bedenken und Zweifel die „Erlösung“ von dieser Komplexität verspricht. Das fein gesponnene Kraftfeld in den vielen Seminaren, Kursen und anderen Lernräumen bietet (neben dem konkreten „Lernstoff“) stets auch Gelegenheiten, den oft als anonym oder als überfordernd empfundenen Auftrag zur Gestaltung unserer Umwelt als Lerngelegenheit aufzugreifen. Dafür brauchen wir reale Begegnungen, denn kein noch so offen zugängliches Internet vermag uns davon zu befreien, die spürbaren Grenzen zwischen wichtig oder unwichtig, wahr oder falsch in unserer Lebenswelt zu bestimmen. Im Gegenteil. Die vielen Internet- und Chatforen können auch dazu führen, dass Menschen aus einer geteilten, verhandelbaren Wirklichkeit austreten und sich in einem abgegrenzten Zirkel von Freunden und Likes hermetisch einzurichten. Dass diese Foren, YouTube, WhatsApp und MOOCs u. dgl. das Erwachsenlernen ungemein bereichern können, dass die Bildungs- und Demokratievermittlung heute auch an neuen gesellschaftlichen Orten stattfinden muss, steht dabei auch außer Zweifel. Es bleibt aber die Herausforderung, den analogen und virtuellen Raum, klassische und künftige Orte für Lernen und Bildung derart zu verbinden, dass so viele Menschen wie möglich ihre unterschiedlichen Potenziale entwickeln können. Die allzu oft gepriesene BenutzerInnenfreundlichkeit von Online-Angeboten (alles, zu jeder Zeit, an jedem Ort) ist für mich dabei allerdings kein Kriterium, sondern eher ein Hindernis, denn sie geht oft einher mit dem Verlust der Anregung, der Neugierde oder auch der Resonanz. Lernen und schon gar Bildung kann nur bedingt benutzerfreundlich sein, sondern sollte stets auch einen Prozess anstoßen, in dem wir lernen, wie wir mit herausfordernden Situationen oder Personen umgehen. Erwachsenenbildung kann hierbei helfen, den Weg zu finden. Dafür muss die altbewährte Erwachsenenbildung Wege finden, die neue Spielräume für das Miteinander schaffen können. Es ist die Aufgabe einer zeitgemäßen Erwachsenenbildung, flexible Angebote dafür zu schaffen, um mit der steigenden Komplexität der Lebensbedingungen zurechtzukommen und um die wachsenden Unterschiede und das Ungewohnte lernend zu bewältigen. Dafür braucht es offene Räumen mit unterschiedlichen Ein- und Ausgängen, mit ­vielfältigen biographischen und praktischen Anschlussmöglichkeiten. Ob dies digital oder in Präsenz geschieht, macht dabei oft keinen großen Unterschied, wenn es um konkrete Lebensbedürfnisse geht. Erwachsenenbildung kann z. B. auch als eine digitale Bürgerbeteiligungsplattform dazu beitragen, Fragen der Kommunalentwicklung entscheidend zu gestalten. Gerade dort, wo es z. B. um alltagsnahe Entscheidungen geht, wie Verkehr, Wohnen oder Räume für das nachbarschaftliche Leben, wo konkrete Aufgaben, wie Fahrradspuren, Reparaturwerkstätten, Umweltaktivitäten u. dgl. unmittelbar vor Ort „ver-handelt“ werden, muss die gesellschaftliche Relevanz der Erwachsenenbildung deutlicher spürbar werden. Wie viele Menschen möchten doch gerne ihren Lebensstil nachhaltiger gestalten, ohne dass sie wissen, wie sie z. B. durch erneuerte Formen der Mobilität, des Energieverbrauchs oder ihr Konsumverhalten konkret dazu beitragen können, dass dieser Planet bewohnbar bleibt. Wollen wir in der Erwachsenenbildung dies alles nur dem Markt oder Energieagenturen überlassen oder können wir nicht durch unsere Angebote dazu beitragen, die derzeit so mächtige „res anonyma“ nicht doch wieder in eine „res publica“ zu verwandeln? Diese Frage ist nicht rhetorisch gemeint, sondern sehr fest umrissen von einem immer wieder zu bestimmenden gesellschaftlichen Auftrag der Erwachsenenbildung: Was und wie können wir mit unseren Angeboten dazu beitragen, den oft achtlosen Umgang mit dem Gemeingut, die vielen zynischen Abwertungen uns fremder Lebenswelten, die trostlose Abhängigkeit von einem entfremdenden staatlichen Versorgungsautomaten wieder in Richtung einer mir zugänglichen und gestaltbaren Umwelt zu unterstützen? Die Zuversicht in das Gelingen dieser Aufgaben ist notwendig, wenngleich wir in der alltäglichen Arbeit über diesen eigenen Anspruch auch immer wieder stolpern. //

Literatur

Bude, Heinz (2011): Kein Bestandteil sein. Wir müssen nicht nur den Kapitalismus infrage stellen, sondern vor allem uns selbst. In: Frankfurter Rundschau, vom 27. Oktober 2011.

Egger, Rudolf & Felden, Heide v. (2008): Exposé der Buchreihe „Lernweltforschung“. Mainz. Springer.

Humboldt, Wilhelm von (1903): Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. In: Albert Leitzmann (Hrsg.), Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften (S. 97–254). Berlin: Behr. (Königlich Preussische Akademie der Wissenschaften, Band 1).

Kant, Immanuel (1911) [1974]: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (S. 385–462). In: Kant’s gesammelte Schriften. Bd. 4. Hrsg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin – New York: Walter de Gruyter.

Egger, Rudolf (2021): Bildungsarmut und Bindungslosigkeit lassen sich nicht wegimpfen. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Herbst 2021, Heft 274/72. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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