Next generation competencies for a digital world
Erfahrungen aus dem Siemens-Projekt „Industrie 4.0@SPE“

Industrie 4.0 und Digitalisierung

Die Erfahrung bei Siemens zeigt, dass viele, die sich mit dem Thema Industrie 4.0 beschäftigen, unterschiedliche Zielbilder und Auffassungen entwickelt haben. Daher scheint es notwendig, zunächst die verwendeten Fachausdrücke zu definieren.

Bei Siemens werden unter dem Begriff „Digitalisierung“ mehrere Elemente verstanden, die im Einzelnen (aber auch im Zusammenspiel) die Wertschöpfung und die Zielerreichung der Unternehmen maßgeblich positiv beeinflussen können (vgl. Abb. 1). Neben dem Sammeln, Analysieren sowie Interpretieren von Daten (Big Data) und der daraus abgeleiteten Verbesserung des Systems (Ecosystem) – im besten Falle durch Selbstoptimierung – nimmt Industrie 4.0 ihren Platz ein. Die Basis bilden dabei meist bereits bekannte Technologien, die, im Zusammenspiel und an der richtigen Stelle der Wertschöpfungskette eingesetzt, einen entsprechenden Mehrwert bringen.

In vielen Analysen und Gesprächen hat sich herauskristallisiert, dass die Digitalisierung in vielen Branchen große Auswirkungen zeigt. Zu schnell reduziert man den Einfluss von „Industrie 4.0“ auf nur eine Branche. Digitalisierung ist also mitnichten eine „Technologie-Schlacht“. Vielmehr geht es darum, z. B. Prozessschwachstellen zu erkennen und diese durch geeignete Technologien zu schließen bzw. Verbesserungspotenziale zu erheben. Kurzum: Die Ausarbeitung einer Digitalisierungsstrategie sollten alle Unternehmen auf der Agenda haben.

elemente_der_digitalisierung

Abbildung 1
Elemente der Digitalisierung

Siemens Ausbildung

Siemens Professional Education zählt mit zirka 10.000 Auszubildenden und dual Studierenden (davon rund 7.000 für den eigenen Bedarf und 3.000 für externe Unternehmen) an etwa 35 Standorten zu den größten Ausbildungsbetrieben in Deutschland. Im Bildungs-Portfolio befinden sich 30 IHK-Berufe und 40 duale Studiengänge. Die Bildungsgänge umfassen die Themenfelder Elektrotechnik, Informationstechnik, Maschinenbau, Mechatronik und Betriebswirtschaft. Die Bildungsgänge der Siemens Ausbildung sind modular, das heißt aus Modulen, Sequenzen und Projekten aufgebaut.

Das Projekt „Industrie 4.0@SPE“

Bei der zyklischen Analyse von Technologie- und Geschäftstrends im Zuge des Innovation-Managements bei Siemens wurde bereits im August 2013 das Themenfeld „Industrie 4.0“ identifiziert und im Januar 2014 folgender Projektauftrag festgelegt:

  • Aufbau eines Grundverständnisses zu Industrie 4.0,
  • Prüfen der Bildungsrelevanz bezogen auf Aus- und Fortbildung und
  • Festlegen entsprechender Maßnahmen.

In der ersten Projektphase wurden bundesweit zirka 35 Gespräche mit Stakeholdern von Siemens, aber auch mit Verbänden, Universitäten und einigen Playern in Nischen- und Massenmärkten geführt. In dieser Phase konnte ein umgreifendes Verständnis zum Thema Industrie 4.0 aufgebaut werden. Nach sechs Monaten war genug Wissen angesammelt, um eine eigene Definition zu erarbeiten (vgl. Infokasten). Somit war eine Grundlage des einheitlichen Verständnisses und einer harmonisierten Sichtweise gesichert.

Definition von Industrie 4.0 aus Sicht der Siemens Ausbildung

  • Industrie 4.0 ist eine neue Stufe der intelligenten Organisation und Steuerung der gesamten Wertschöpfungskette über den Lebenszyklus der Produkte.
  • Eine flexible Vernetzung von Mensch, Maschine und Produkt ermöglicht selbstoptimierende Systeme. Dabei werden über den kompletten Produktlebenszyklus Daten gesammelt, analysiert und ausgewertet, mit dem Ziel der stetigen Steigerung von Effizienz und Effektivität.
  • Die Kernelemente von Industrie 4.0 sind übergreifende Produktionsnetzwerke, die Verschmelzung von virtueller und realer Welt sowie modulare intelligente Produktionseinheiten

Die zweite Projektphase begann mit der Sammlung von „use cases“ aus unterschiedlichsten Bereichen und Branchen der deutschen Wirtschaft bezogen auf Industrie 4.0. Dabei lag der Fokus auf Szenarien, die bereits realisiert wurden bzw. gerade in Umsetzung waren. Ziel war es, die 25 in dem Zusammenhang relevantesten Kompetenzen zu identifizieren. Im Zuge der Qualitätssicherung wurden diese mit vielen Präsentationen und Vorträgen validiert. Das Matching zwischen Theorie und Praxis war sehr hoch, und es konnten 25 Kompetenzen bestätigt werden (vgl. Abb. 2).

top25_4_0_kompetenzen

Abbildung 2
Top 25 der für Industrie 4.0 relevanten Kompetenzen

Die Kompetenzen erstrecken sich über den technischen, betriebswirtschaftlichen und überfachlichen Bereich. Weiterhin wurde bei der Analyse der Anwendungsfälle identifiziert, welche Prozesse, Technologien und auch Rollen im Unternehmen betroffen waren. Unter Rollen werden bei Siemens Job-Profile verstanden, wie z. B. WerkerIn, Service-TechnikerIn, InstandhalterIn, Industrial Engineer oder LogistikerIn. Neben den 25 Kompetenzen konnten weiterhin 15 Rollen identifiziert werden, für die sich das Job-Profil sowie die dafür benötigten Kompetenzen verändert haben (Ist–Soll). Durch diese Vorgehensweise entstand für jede der 15 Rollen ein Kompetenzprofil bezogen auf Industrie-4.0-Kompetenzen.

Aus der Aufnahme der Ist- und Soll-Kompetenzen lässt sich ein „Bildungsgap“ für jede Rolle identifizieren. Abbildung 3 zeigt dies beispielhaft für die Rolle „Service-TechnikerIn“ .

Die Kompetenzen wurden auf einer Skala von 1 (nicht relevant) bis 5 (Expertenwissen) gemessen. Die Bildungsgaps zwischen Eins und Drei liegen im Fokus der betrieblichen Erstausbildung. Die über die Kompetenzstufe Drei hinausgehenden Bildungsbedarfe werden im Fortbildungsbereich kompensiert. Diese benötigen entsprechende Erfahrungen in der Praxis und tiefer greifendes Expertenwissen. Die Basis dazu kann in der betrieblichen Erstausbildung gelegt werden. Eine enge Verzahnung von Aus- und Fortbildung ist daher notwendig, um Bildungsgaps zukünftig möglichst zu verhindern.

Parallel führte die Siemens-Ausbildung eine strukturierte Analyse aller angebotenen Bildungsgänge durch. In diese Analyse flossen nicht die Inhalte aus der Berufsschule oder aus der Hochschule ein, sondern nur die in der Siemens Ausbildung vermittelten Inhalte. Für den Abgleich zwischen Soll und Ist wurde über eine Matrix der Bezug zwischen zirka 30 Bildungsgängen (Ist) und den 15 Rollen (Soll) hergestellt. Somit konnten in einer Kompetenzauswertung die Bildungsgaps pro Bildungsgang (IHK-Beruf, dualer Studiengang) dargestellt werden. Die Bildungsgaps beziehen sich ebenfalls auf zu vermittelnde Inhalte im Fortbildungsbereich.

Aktuell werden die identifizierten Bildungsgaps über die interne Produktentwicklung der Siemens-Ausbildung im Detail ausgearbeitet, beschrieben und durch das Entwickeln neuer Lerninhalte geschlossen. Die Produktentwicklung der Siemens Ausbildung ist eine virtuelle Organisation, zentral geleitet und bestehend aus Ausbildnerinnen und Ausbildnern, die inhaltliche Standards für die Aus- und Fortbildung erarbeiten und für die Bildungsprodukte verantwortlich sind. Ergänzend dazu wird geprüft, welche Teachware in die Aus- und Fortbildung eingebunden werden kann, um neben der inhaltlichen Ausrichtung auch Lehr- und Lernprozesse zu digitalisieren. Schließlich wird derzeit ein Fortbildungsprogramm für AusbildnerInnen bzw. TrainerInnen aufgelegt, um die hausinternen Kompetenzen zur Erarbeitung neuer Inhalte und deren Vermittlung zu garantieren.

kompetenzverschiebung

Abbildung 3
Kompetenzverschiebung am Beispiel der Rolle Service-Techniker/-in

Künftige Erwartungen

Auf Grundlage der durchgeführten Analysen erscheint es im Bereich der Ausbildung nicht notwendig, neue Berufsbilder zu erstellen. Die Ausbildung muss jedoch interdisziplinärer werden. Damit kann sichergestellt werden, dass Fachleute „die gleiche Sprache“ sprechen. Vor allem im überfachlichen Bereich muss in der Ausbildung die Basis für das weitere Berufsleben gelegt werden. Somit hat die Digitalisierung nicht nur Einfluss auf die Ausbildungsinhalte, sondern auch auf die angewandte Didaktik. Dies gilt auch für die Fortbildung, für die es wichtig ist, für alle Job-Profile ein grundlegendes Bewusstsein zum Thema Digitalisierung zu schaffen. Das ist die Bildung der Zukunft – die „smart education“.

Im Fachkräftebereich muss natürlich auch die entsprechende fachliche Komponente in unterschiedlichen Ausprägungen vermittelt werden. So hat z. B. die Kompetenz „Identifikationssysteme“ auch einen starken interdisziplinären Charakter – jedoch für die Elektrotechnik in einer anderen Bedeutung als für den Maschinenbau.

Um die Bildungsbausteine zielgruppengerecht aufbereiten zu können, ist ein umfängliches Verständnis der benötigten Kompetenzen bzw. der Technologie notwendig. Deren Entwicklung und Bereitstellung hat maßgeblichen Einfluss auf die Aus- und Fortbildungssysteme. Bildung wird das feste Fundament und gleichzeitig Sprungbrett für einen erfolgreichen Einzug der Digitalisierung in die deutsche Wirtschaft. Dabei ist es das Ziel von Siemens, diesen Prozess mitzugestalten und erfolgreich zu unterstützen. //

1  Erstabdruck in: BWP – Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis (2015), 6, 33–35. Herausgegeben vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), Bonn. Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Herausgebers.

Kunz, Christoph (2016): Next generation competencies for a digital world – Erfahrungen aus dem Siemens-Projekt „Industrie 4.0@SPE“. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. April 2016, Heft 258/67. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wie

Kommentare

Neuen Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *

Zurück nach oben