Sauerstoff für eine funktionierende Demokratie
Rede anlässlich der Verleihung des Axel-Corti-Preises 2018

F_KarimElGawhary_02w

Karim El-Gawhary
Foto: Günther Pichlkostner/ORF

Ich bin gebeten worden, nur sehr kurz zu sprechen. Aber das bin ich vom ORF gewöhnt, in diesen ZIB-Schaltungen: Karim erkläre uns den Nahen Osten in 1:30 Minuten.

Aber ich möchte hier nicht über den Nahen Osten oder die Arabische Welt sprechen, sondern über Ihr Land, Österreich.

Ein wunderschönes, unheimlich reiches Land, in dem das Leben in Frieden so normal geworden ist – so normal, gewöhnlich und alltäglich, dass kaum mehr jemand darüber nachdenkt, dass es auch anders sein könnte. Ich dagegen lebe und arbeite in einer Gegend, in der man jeden einzelnen Tag daran erinnert wird, dass das anders ist – und das nur drei bis vier Flugstunden von hier entfernt. In der Zeit, in der ich gesprochen habe, sind zwei Dutzend Menschen weltweit gezwungen worden, ihre Heimat, ihre Häuser, ihre Freunde, ihre vertraute Umgebung und alles, was ihnen lieb ist, zu verlassen. Laut UNHCR werden jede Minute auf dieser Welt 20 Menschen zu Flüchtlingen.

Österreich ist reich, auch weil Sie einen Pass besitzen, mit dem Sie überall hinreisen können. Die meisten Menschen auf dieser Welt können das nicht. Und jetzt frage ich Sie: Wer von ihnen hat sich seinen oder ihren Geburtsort ausgesucht? Hände hoch.

Keiner – es ist wert, über dieses Glück ein wenig nachzudenken, dass das friedliche, schöne, reiche Österreich, Ihre Heimat, reiner Zufall ist – die Gnade des Geburtsortes.

Sie alle besitzen noch etwas anderes sehr reiches, jenseits Ihres Wohlstandes, Ihres Lebens in Frieden und Ihres Passes, der sie überall hinbringt. Sie alle sind reich, Sie besitzen etwas, das unbezahlbar ist. Und es gehört Ihnen allen: das öffentlich-rechtliche Fernsehen und Radio in diesem Land – der ORF. Was für eine Errungenschaft, über die Sie wahrscheinlich auch nicht jeden Tag nachdenken, wie Sie nicht über Ihren Frieden und Ihren Pass nachdenken.

Und auch hier weiß ich, worüber ich spreche: Ich lebe und arbeite in Ländern, in denen es nur staatlich gelenktes Fernsehen gibt. In Ländern, in denen der Intellekt jeden einzelnen Tag durch die Medien beleidigt und vergewaltigt wird. In Ländern, in denen nicht Sie, die Öffentlichkeit ein öffentlich-rechtliches Medium besitzen, sondern autokratische Regierungen den Medien vorschreiben, was sie den Untertanen mitzuteilen haben.

Was für ein tolles Konzept: die Öffentlichkeit. Auf Wikipedia wird dieses Konzept folgendermaßen beschrieben: „Öffentlichkeit, das ist der Bereich des gesellschaftlichen Lebens, in dem Menschen zusammenkommen, um Probleme zu besprechen, die in politischen Prozessen gelöst werden sollen. Dafür muss der Zugang zu allen Informationsquellen und Medien frei sein, und die Informationen müssen frei diskutiert werden können. In einem frei zugänglichen öffentlichen Raum“.

Öffentlich-rechtliche Medien sind für mich der Sauerstoff für eine funktionierende Demokratie. Und wenn die zerstört werden, sind nicht die privaten Medien die Gewinner, sondern wir alle Verlierer.

Es gibt ein arabisches Sprichwort: „Erst wenn der Brunnen trocken ist, lernt man das Wasser zu schätzen“.

Lassen Sie es nicht so weit kommen, lassen Sie den Brunnen nicht austrocknen. Die öffentlich-rechtlichen Medien gehören Ihnen – Euch allen in diesem Raum. Macht etwas daraus, verteidigt sie. Lasst sie euch sich von niemandem wegnehmen. Von niemanden, egal woher er kommt.

Für mich ist es ein unheimlich großes Privileg für Ihr öffentlich-rechtliches Fernsehen tätig zu sein. Für Sie alle zu arbeiten, sozusagen Ihnen allen zu gehören, wie übrigens alle anderen Korrespondenten des ORF. Es ist für mich eine große Ehre diesen Preis zu erhalten. Das war etwas mehr als das übliche 1:30 ZIB-Live-Gespräch. Vielen Dank. //

El-Gawhary, Karim (2018): Sauerstoff für eine funktionierende Demokratie. Rede anlässlich der Verleihung des Axel-Corti-Preises 2018. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Herbst 2018, Heft 265/69. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

Kommentare

Neuen Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *

Zurück nach oben