Stephan Lessenich: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis.

Stephan Lessenich: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis.
Berlin: Carl Hanser Verlag 2016, 224 Seiten.

Externalisierungsgesellschaft – schon wieder ein neues Etikett!? Es lohnt sich die Begründung dafür und die damit verbundenen Analysen zu lesen; das Einverständnis vorausgesetzt, in das beunruhigende soziale Spiegelbild zu schauen, das uns der Autor vorhält. Dieser ist Soziologe, Professor an der Ludwig Maximilian Universität München.

Externalisierung bedeutet, etwas von innen nach außen zu verlagern. Im Hinblick auf große Sozialeinheiten meint Lessenich das Verschieben von Kosten oder Schäden auf andere Länder. „Die reichen, hochindustrialisierten Gesellschaften dieser Welt lagern die negativen Effekte ihres Handelns auf Länder und Menschen in ärmeren, weniger ‚entwickelten‘ Weltregionen aus.“ (S. 24).

„Die Flut hebt alle Boote“ – dieses englische Sprichwort wurde in den 1960er- Jahren als Beruhigungsmittel gebraucht, um ökonomische Ungleichheit schön zu reden. Ähnliches gilt wohl für den Spruch in unseren Breiten: „Geht es der Wirtschaft gut, geht es uns allen gut“. Weltgesellschaftlich, kontert Lessenich, gibt es Überfluss hier und Überflutungen dort. Sein Buch spart nicht an Beispielen, die negative Konsequenzen unseres Wohlstands für andere nachweisen.

Umweltschäden, Monokulturen, geringe Industrialisierung, kürzere Lebenserwartung, Vertreibungen wegen Landerwerbs durch reichere Länder und große Konzerne – der Autor stellt solche Übelstände bei anderen Nationen als dunkle Seite unseres Wohlstands dar, als eine historische Begleiterscheinung d es kapitalistischen Wertsystems. In diesem lebt die Gesellschaft seit jeher von der Externalisierung: von Arbeit und Ressourcen anderer, von der Abwälzung sozialer und ökologischer Schäden auf Dritte (vgl. S. 66).

Lessenich verfolgt mit seinem Buch eine aufklärende Absicht. Er erklärt die soziale Welt als eine Welt der Beziehungen und der wechselseitigen Bezogenheit. Er versteht soziale Entwicklungen als Beziehungsdynamiken, in denen immer beides zu sehen ist – wir und die anderen; der Reichtum der einen, die Armut der anderen; wieder dargestellt an Beispielen, wie etwa dem großflächigen Anbau auf im Ausland angekauften Land von Tabak, Palmöl oder Soja, der die dort ursprünglich ansässige Bevölkerung in die Slums der Städte vertreibt.Der Soziologe mutet uns die Wahrheit zu.

Unsere „imperale Lebensweise“ geißelt er mit einem keineswegs watteweichen Zitat des Regisseurs und Schriftstellers Heiner Müller (1929–1995): „Irgendwo werden Leiber zerbrochen, damit ich wohnen kann in meiner Scheiße.“ (S. 124).

Lessenich kritisiert die Macht mancher Länder, z. B. der USA, keine Rechenschaft ablegen zu müssen, die Macht sich Gleichgültigkeit leisten zu können, was etwa mit dem stofflichen Müllexport passiert. Zudem gibt es inzwischen eine „Müllabfuhr im Internet“, wobei Horrorbilder – „Psycho-Müll“ – gegen geringe Bezahlung und Inkaufnahme der psychischen Folgen für Bildschirm Arbeiterinnen im globalen Süden entsorgt werden, um uns eine relativ saubere Medienwelt zu erhalten.

Eindrucksvoll belegt der Autor die „vital inequality“, die global ungleich verteilte Lebenserwartung. Liegt sie in Europa bei etwa 80 Jahren, so liegt sie im Tschad, Afghanistan oder Somalia um 50 Jahre, in Laos, Haiti oder Eritrea um 63 Jahre. Nicht zuletzt gibt es Ungleichheit in der räumlichen Mobilität – touristisch steht „uns“ die Welt offen, aber nicht so den EinwohnerInnen aller Länder, die wir besuchen. Gegen den nicht erwünschten Zugang – „high potentials“ werden hingegen umworben – hat sich inzwischen eine äußerste Verteidigungslinie sowohl an Grenzzäunen als auch in den europäischen Botschaften mittels ihrer Visumpraxis etabliert.

Lessenich warnt gegen Ende seiner Publikation, dass der Zustand der Externalisierung nicht anhalten wird. Das „Außen“ kehrt sich nach innen. Flüchtlinge, Klimawandel, Sparkurs, Umweltschäden stellen unsere „imperiale Lebensform“ in Frage. Wir haben, meint der Autor, die aufklärende Aufgabe, das Verdrängte, das niemand wissen will, auszusprechen und ihm in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit zu geben. Es geht darum, sich die Verbindung von Wohlstand hier und Übelstand anderswo vor Augen zu führen. Es geht um eine „kollektive Selbstverständigung“ und um eine „kollektive Selbstermächtigung“, die für eine gleichberechtigte Lebensführung aller Menschen dieser Welt eintritt.

Die Lektüre vermittelt Kenntnisse über Zusammenhänge zwischen Wohlstand und Armut. Sie regt an, die eigene Lebensweise mit ihren Konsequenzen für andere zu bedenken. Das Buch eignet sich für politische Selbst- und Weiterbildung. //

Lenz, Werner (2017): Stephan Lessenich: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Juni 2017, Heft 261/68. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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