Nancy Fraser/Rahel Jaeggi: Kapitalismus. Ein Gespräch über kritische Theorie.

Nancy Fraser/Rahel Jaeggi: Kapitalismus. Ein Gespräch über kritische Theorie.
Berlin: Suhrkamp 2020, 329 Seiten.

Eine kritische Theorie der kapitalistischen Gesellschaft zu entwickeln ist schon seit einigen Jahren das Forschungsgebiet der beiden Philosophinnen. Nancy Fraser, Professorin für Philosophie an der New School for Social Research, und Rahel Jaeggi, Professorin für Praktische Philosophie an der Humboldt Universität in Berlin, publizieren ihr aktuelles Buch in Form der Wiedergabe eines wissenschaftlichen Dialogs. Anlass und Grundlage ist die Ansicht der Autorinnen, die gesellschaftspolitischen Turbulenzen der letzten Jahre kennzeichnen eine „Krise der kapitalistischen Gesellschaft“.

Beide Autorinnen registrieren seit einiger Zeit verstärkte Aktivitäten in Sachen Kapitalismuskritik. Diese erfolgt z. B. wegen der Finanzkrise von 2007/2008, aber auch wegen eines Gefühls des „Preisgegebenseins“, das Menschen in westlichen Gesellschaften wegen der teils hilflosen, teils gleichgültigen Reaktionen ihrer Regierungen bezüglich Instabilität empfinden. Die Krisentendenzen, die der Kapitalismus, eine historisch gewordene institutionalisierte Gesellschaftsordnung, in sich birgt, wurden besonders von Nancy Fraser thematisiert.

In den beiden einleitenden Kapiteln präsentiert Fraser ihre „erweiterte Sicht“ des Kapitalismus. Fraser versteht die Krise der Gegenwart nicht nur als eine ökonomische, sondern sie beinhaltet auch das Familienleben (Altenpflege, Bildungsfragen, Schulen, Belastung der Frauen), den Klimawandel (Ausbeutung der Natur, Lebensqualität in Zukunft) und die Entdemokratisierung (Diktat des Marktes, Übergewicht von Ökonomie und globalem Finanzwesen).

Im dritten Kapitel behandelt Rahel Jaeggi federführend die unterschiedlichen Arten, die eine Kritik des Kapitalismus umfassen sowie deren innere Logik und Wechselbeziehungen. Dabei geht es letztlich um einen Begriff der Krise, der nicht oberflächlich auf diverse Situationen angewandt wird (Jaeggi nennt z. B. die Dopingkrise), sondern um die Überzeugung gesellschaftlicher Akteure, eine gesellschaftliche Organisation sei durch diese Akteure selbst grundlegend zu ändern. Jaeggi bezeichnet mit ihrer „praxistheoretischen Sicht“ den Kapitalismus als „Lebensform“. Das heißt, „ihn als eine Gesamtheit gesellschaftlicher Praktiken und Institutionen zu behandeln, die gesellschaftliche, ökonomische und kulturelle Dimensionen miteinander verknüpft“. (S. 191).

Kapitel 4 greift die Zeitdiagnose von Nancy Fraser auf, die den „erweiterten Kapitalismus“ mit den Aspekten von Sexismus (sozialer Reproduktion) und Rassismus (Kolonialismus, Migration) verbunden sieht. Das Konzept des Klassenkampfs ergänzt sie daher mit dem Begriff „Grenzkämpfe“.

Damit weist sie auf soziale Kämpfe bezüglich Kolonien, unbezahlte Arbeit von Frauen oder Rassismus hin. Diese Kämpfe versteht sie auch durch den Kapitalismus bedingt und durch ihn zu erklären. Frasers Aussagen münden in der analytischen Diagnose, dass wir mit einem reaktionären, gesellschaftspolitischen Reaktionismus gegenüber einem zusammenbrechenden, progressiven Neoliberalismus konfrontiert sind. Dadurch stehen wir vor der Situation, vorhandenen sozialen Fortschritt verteidigen zu müssen, ohne zugleich eine progressive Politik aus den Augen zu verlieren.

Jaeggi erinnert an die alte Strategie linker Politik, die darauf hofft, dass sich die Widersprüche verschärfen, auch wenn wir uns jetzt in einer Situation befinden, die ohne emanzipatorisches Projekt „grässlich“ werden könnte.

Fraser positioniert sich abschließend und zukunftsorientiert: „Die Widersprüche verschärfen sich, ob wir wollen oder nicht […]“. (S. 303). Es drohen Ellbogengesellschaft, Feindseligkeiten, Sündenbockdenken, Ausbrüche von Gewalt, Perioden der Unterdrückung. Eine Politik der Umgestaltung sollte sich gegen die neoliberale Ökonomie, sowie gegen ausgrenzenden Ethnonationalismus und gegen liberal-meritokratischen Individualismus richten. Positive Alternative ist für Fraser eine widerstandsfähige, egalitäre Verteilungspolitik, kombiniert mit einer inklusiven, klassensensiblen Politik der Anerkennung.

Das für Lehrgänge, Kurse und Vorträge politischer Bildung empfehlenswerte Buch klärt politisch differenziert über gesellschaftspolitische Zusammenhänge auf. Gerade das Bestehen der Autorinnen auf einer gesellschaftstheoretischen Position, dem Marxismus, erleichtert es, die jeweils eigene Position als Leserin und Leser zu überprüfen und selbständig weiterzuentwickeln. Auf alle Fälle sollte diese Analyse der Gesellschafts- und „Lebensform“ Kapitalismus in keiner Bibliothek fehlen, die auf Publikationen zu aktuellen gesellschaftspolitischen Themen Wert legt. //

Lenz, Werner (2020): Nancy Fraser/Rahel Jaeggi: Kapitalismus. Ein Gespräch über kritische Theorie. Berlin: Suhrkamp 2020, 329 Seiten. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Herbst/Winter 2020, Heft 271/71. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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