Die Idee, ein Buch über das Deutschlernen bei Exkursionen herauszugeben, basiert auf den Erfahrungen von acht Jahren Arbeit im Projekt „Mama lernt Deutsch“ – einem Kursprojekt für Frauen von Frauen, in dem Müttern am Schulstandort ihrer Kinder Deutschunterricht angeboten wird. Seit Projektbeginn sind Exkursionen ein fixer Bestandteil des Unterrichts in Mama-lernt-Deutsch-Kursen.
„Exkursion“ – immer eines der emotionalsten und kontroversesten Themen bei den Kurleiterinnen-Treffen.
Da gibt es einerseits Erzählungen zu persönlichen Debatten über Religionen und interkulturelles Verständnis oder zu individuellen Lebenssituationen, oder beispielsweise über die Kursgruppe, in der der Lernauftrag – sich im Park jeweils zu einer der anderen Parkbesucherinnen auf eine Bank dazuzusetzen und ein Gespräch zu beginnen – auf bereichernde Weise aufgegangen ist.
Die andere Seite dieser Diskussionen ist der mühsame Anfahrtsweg, Konflikte mit anderen Fahrgästen in der U-Bahn bzw. im Bus oder eine unpassende Führung.
Darüber hinaus kommt immer wieder zur Sprache, ob wir denn die Teilnehmerinnen mit den Exkursionen quasi zu ihrem Glück „zwingen“, denn viele sehen nicht im Vorfeld, was die Exkursionen mit dem Erlernen der Sprache zu tun haben.
Interessant war, dass unsere Ansprechpartnerinnen auf Seiten des Fördergebers – über viele Jahre die Magistratsabteilung 17 der Stadt Wien – immer positiv von den Berichten über die Exkursionen berührt waren und das Gefühl vermittelt haben, (auch) daran den Mehrwert des geförderten Programms für die Stadt festzumachen.
Die meisten Berichte über Exkursionen befassen sich mit den sozialen Aspekten. Dass Spracherwerb während der Exkursionen stattfindet, wurde seit Projektbeginn zwar behauptet, allerdings ohne genauer auf das wie und was genau einzugehen.
In Form von Beschreibungen der Exkursionsvor- bzw. -nachbereitungen wurde in den Kursberichten lediglich belegt, dass die Exkursionen als Unterrichtsmittel zum Deutscherwerb eingesetzt wurden.
Das „Stadtreisebuch Wien“ geht nun im Besonderen den Fragen nach,
– ob (Sprach-)Lernen während der Exkursionen tatsächlich stattfindet,
– welche Themen/Wortfelder/Fertigkeiten gelernt werden,
– wie Sprachlernen dabei stattfindet;
und es stellt einen Versuch dar, Lerngeschehen während Exkursionen sichtbar zu machen. Ein wichtiges Anliegen war uns, dadurch dem Image von Exkursionen als „Lernpause“ entgegenzutreten bzw. den Wert der Pausen von formalisiertem Lernen darzustellen.
Kursleiterinnen und Programmplanerinnen der Wiener Volkshochschulen haben gemeinsam in einem Workshop über ihre Erfahrungen reflektiert und sich damit auseinander gesetzt, wie man die stattfindenden Lernprozesse transparent machen könnte. Im Anschluss daran ist ein Buch entstanden: In 15 Beiträgen zu unterschiedlichen Exkursionszielen wurde Lernen mit besonderem Fokus auf informelles bzw. non-formales Lernen beobachtet und analysiert. Bei der Auswahl wurde darauf geachtet, für die Teilnehmerinnen ein möglichst breites Spektrum an Zielen darzustellen – von klassischen Sehenswürdigkeiten wie etwa Schönbrunn, über politische Stätten wie das Parlament, informative Aktivitäten wie der Tag-der-offenen-Tür im Amtshaus oder die städtische Bücherei, aber auch Freizeitmöglichkeiten, Kaufhausbesuche oder Besuche typisch österreichischer Orte wie dem Christkindlmarkt u.a.
Die Exkursionsberichte sind Texte von Kursleiterinnen, d.h. von unterschiedlichen Personen, die ihre jeweils eigenen Ansätze in Bezug auf Unterrichten und den Umgang mit Gruppen haben, wie auch die Teilnehmerinnen ihre ganz individuellen Eigenschaften und Lebenssituationen in die Kurse mitbringen.
Das Redaktionsteam – Uli Zimmermann (Programmplanerin und DaZ-Trainerin) und Melanie Steindl (DaZ-Trainerin und Bildungsberaterin), beide viele Jahre im Projekt „Mama lernt Deutsch“ dabei – hat sich bemüht, die Texte nicht zu verändern. Denn eines der „Geheimnisse des Erfolgs“ ist, dass diese Art informellen Lernens dann am besten funktioniert, wenn die Bedingungen hoch individualisiert sind, jede Teilnehmerin und jede Kursleiterin im Grunde so, wie sie ist, angenommen wird und sich wohlfühlt.
Diese Entspannung ermöglicht Konzentration und Lernmomente für alle, egal ob – von wem auch immer – als „bildungsfern“ oder „bildungsnah“ klassifiziert.
Und als gemeinsame Klammer über die Texte zeigt sich, dass Lernen umso nachhaltiger verläuft, je müheloser an informell Gelerntes formal wieder angeknüpft werden kann.
Einige der beobachteten Phänomene
1) Teilnehmerinnen wollen lieber „lernen“ als „auf Exkursionen gehen“.
Nicht alle Kursleiterinnen machen immer gerne Exkursionen. Das hat unterschiedliche Gründe, und einer der wichtigsten ist: Viele Teilnehmerinnen sind davon überzeugt, dass im bekannten Setting einer „Schulklasse“ am ernsthaftesten gelernt wird. Und Deutsch zu lernen ist der gemeinsame Nenner der Teilnehmerinnen mit ihren unterschiedlichen Sprach-, Interessens- und Bildungshintergründen bzw. Kommunikationsstilen und Temperamenten.
Es ist nicht einfach, im Deutsch-Anfängerinnenkurs – oft noch mit wenig sprachlicher Basis – zu erklären, was die Vorteile eines vielleicht (noch) ungewohnten Zugangs zum Lernen sind.
In der Textsammlung wird daher dargestellt, wie Kursleiterinnen – immer vor dem Hintergrund ihrer eigenen Interessen und Kompetenzen – Exkursionen entwerfen, bei denen die Teilnehmerinnen erleben, dass in der Vorbereitung, während der Exkursion und in der Nachbereitung auch wirklich Deutsch gelernt wird.
2) Auf Exkursion passiert wirklich (!) Spracherwerb.
Der Erfolg einer Exkursionsreihe hängt von der schlüssigen Vorbereitung jeder einzelnen Exkursion ab. Bei erfolgreichen Exkursionen können die Trainerinnen sichtbar machen, dass es dabei um Spracherwerb geht: Informationen werden im Vorfeld gemeinsam gelesen und besprochen. Dabei werden Vokabelfelder erschlossen, Pläne gelesen, Ortsangaben geübt, Dialoge entworfen und – sehr wichtig – Entscheidungen ausgehandelt.
Thematisiert werden bei Exkursionen nicht nur der passende Satz und das richtige Vokabel. Geübt wird das Sammeln authentischer Gesprächsteile, Antworten und Fragen, Sprechstrategien in schwierigen Situationen, Zuhören, und im richtigen Moment eventuell „Danke“ oder „Ein Erwachsener, bitte“ oder auch „Ich glaube nicht, dass wir per Du sind!“ zu sagen.
Trainiert wird das Analysieren von Textteilen, die man im öffentlichen Raum sieht und hört – also eigentlich der autonome Spracherwerb.
Das Ausmaß an verwendeten Vokabelfeldern, Sprechereignissen und punktuell involvierter Sprecherinnen übersteigt jenes während einer regulären Unterrichtsstunde bei weitem!
3) Es gehen trotzdem nicht immer alle mit.
Trotz aller Bemühungen nehmen so gut wie nie alle Teilnehmerinnen an den Exkursionen von Beginn an teil. Eine Möglichkeit wäre es, aus diesem Grund keine Exkursionen mehr anzubieten, eine andere, Exkursionen als Zusatzprogramm für besonders Interessierte zu betrachten.
Der Weg, der bei den untersuchten Exkursionen gewählt wurde ist, das Lerngeschehen während der Exkursion in der darauffolgenden Kursstunde offensiv aufzugreifen. Den Teilnehmerinnen, die nicht mitgekommen sind, wird dadurch ein Erlebnisbericht geliefert – und auf diese Weise für alle beispielsweise die Erzählung in der Vergangenheit geübt, Vokabel gefestigt und Ortsangaben geübt.
Darüber hinaus kann in der Nachbereitung an Themen angeknüpft werden, die sich während der Exkursion ergeben haben, diese können etwa so bodenständig sein wie „Preise für Lebensmittel – wofür zahlen wir gerne mehr und wofür nicht?“
Weiters können Situationen aufgegriffen werden, die während der Exkursion authentisch erlebt wurden und auch sprachlich interessant waren: Fahrkartenkauf, Probleme in der U-Bahn mit den Fahrgästen wegen der Kinderwägen, Fragen von Passanten, Fragen nach einem speziellen Weg etc.
Was wurde gesagt? Wer erinnert sich noch an den Wortlaut? Was könnte man sagen? Was könnte man sagen, um der Situation eine Wendung zu einem netten Gespräch zu geben? Wie könnte man die Situation beruhigen? Welche Wortwahl würde umgekehrt die Situation eskalieren lassen? – Gelegenheiten, gemeinsam Varianten von Gesprächen zu entwickeln, die auf dem Vokabel- und Strategiewissen der gesamten Gruppe inklusive dem informell erworbenen Wissen aufbauen. Eine dieser Varianten könnte beispielsweise in Form einer Dialogrekonstruktionen (eventuell von der Kursleiterin vorbereitet) wiederholt und gefestigt werden.
4) Hin- und Rückfahrt haben auch ihren Wert.
Hin- und Rückweg nehmen bei den beschriebenen Exkursionen einen beachtlichen Teil der Zeit ein und sind für die Trainerin oft eine spezielle Herausforderung. Es geht dabei nicht nur um den „normalen“ Aufwand, den es bedeutet, als Reiseleiterin für eine größere Gruppe zuständig zu sein, von der nichts und niemand verloren gehen soll und wo alle gültige Fahrkarten besitzen müssen. Hinzu kommt, dass die Gruppe oft nicht nur aus den Frauen, sondern auch aus ihren Babys und vor allem den Kinderwägen für die Babys besteht. Eine Fahrt in der U-Bahn ist schon mit zwei Kinderwägen im selben Einstiegsbereich nicht leicht – weder bezüglich Raum noch Feedback.
Natürlich ist es möglich, derartige Situationen während der Exkursion einfach zu überstehen und „durchzutauchen“. Aber eigentlich passiert genau hier etwas eminent Wertvolles: Die Kursleiterin spricht mit anderen Fahrgästen, entschuldigt sich für den verstellten Platz, wirbt für Sympathie, grenzt sich eventuell gegen Angriffe ab. In dieser Situation ist sie Modell dafür, wie in Wien Gespräche auf Deutsch tatsächlich angeknüpft werden, wie sprachlich mit drohenden Konflikten umgegangen werden kann.
Wenn diese authentischen, informellen Gesprächssituationen im Kurs dann durch formales Lernen wieder aufgegriffen werden, wird für die Teilnehmerinnen mitunter ein enormer Mehrwert erzeugt.
5) Exkursionen stellen an die Kursleiterinnen hohe Anforderungen.
Die Kursleiterin übernimmt bei Exkursionen mehr oder weniger bewusst spezielle Funktionen – wird zum Vorbild für authentische Sprechsituationen außerhalb des Kursraumes, zur Kulturvermittlerin, zur interkulturellen Brückenbauerin.
Informelles Lernen kann begünstigt werden – das ist die zu nützende Gelegenheit der Kursleiterin und es ist keine einfache Arbeit: Denn sie ist es, die einerseits aufgrund ihrer fachlichen Kompetenzen und andererseits aufgrund ihrer speziellen Funktion im Rahmen der Exkursion die Verantwortung (mit)trägt. Und auch sie lernt durch ihre persönlichen Erfahrungen vom einen zum nächsten Mal dazu – gerade auf einer informellen Ebene.
Voraussetzung ist fachliche Kompetenz. Die Exkursion muss hinsichtlich des gewünschten Spracherwerbs bzw. der gewünschten Sprechstrategien didaktisch und methodisch vor- und nachbereitet werden. Während der Exkursion ist es wichtig, Lerngelegenheiten als solche zu erkennen, aufmerksam zu unterstützen und (mal mehr und mal weniger) zu steuern.
Auf je mehr Organisationstalent sie zurückgreifen kann, desto besser. Exkursionen, bei denen eine stressfreie Atmosphäre herrscht, bedürfen einer ordentlichen Planung. Sie müssen zum Kursgeschehen passen. Die Länge von Fußwegen muss den Möglichkeiten der Teilnehmerinnen entsprechen. Die Anreise muss geplant werden. Weiters ist es von Vorteil, wenn sie das Exkursionsziel kennt, wenn sie weiß, wo es beispielsweise am Naschmarkt was zu sehen gibt, welche Kaufleute freundlich sind und dass es in unmittelbarer Nähe des Marktes einen Kinderspielplatz gibt.
Die Persönlichkeit der Kursleiterin spielt ebenfalls eine große Rolle.
Ist sie von ihrem Charakter her eine unternehmungslustige Person, die gerne „raus“ geht und in diesem „draußen“ keine Bedrohung, sondern eine Bereicherung sieht, so gelingt es ihr leichter, diesen wichtigen Funken auf die Teilnehmerinnen überspringen zu lassen. Denn sie wird zum (Sprach-)Vorbild, wird dahingehend beobachtet, wie sie spricht, wie sie sich verhält, wie sie sich unterordnet oder auch nicht, wie sie sich der Führung hingibt oder auch nicht – sie ist ein lebendes Beispiel, das beurteilt bzw. bewertet wird – manchmal auch schonungslos.
Die (Sprech-)Situationen, die auf Exkursionen erlebt werden, können zu einem späteren Zeitpunkt ins Klassenzimmer zurückgeholt und als aktueller Anlass für konkrete Sprechstrategien verwendet werden.
Der Wert des informellen Lernens liegt hier also auch sehr stark in der Vermittlung von Gesprächsstrategien in der Zielsprache. Vielleicht nicht immer direkt in der Vermittlung, sicher aber im Aufzeigen von authentischen Strategien.
Somit ist ausgeprägte soziale Kompetenz der Kursleiterin natürlich von Vorteil. Hat die Kursleiterin keine Scheu davor, auf (fremde) Menschen zuzugehen, mit ihnen in Kontakt zu treten, zuzuhören bzw. auf deren Bedürfnisse, Wünsche oder Erwartungen zu reagieren? Kann sie die Gruppe als Gemeinschaft zusammenbringen bzw. zusammenhalten? Kann sie mit Widerständen umgehen und dabei die Dynamik positiv steuern? Kann sie eine gute Atmosphäre schaffen? Versteht sie Spaß und kann sie die Leute aus der Reserve locken?
Woran werden die Erfolge von Exkursionen im Sprachunterricht gemessen?
Fördergeber messen Erfolge gerne. Was ist aber am informellen Lerngeschehen während einer Exkursion messbar? Auch wir haben das Lerngeschehen „nur“ beschrieben bzw. festgehalten – allerdings bemerkt, dass (natürlich) sehr individuell, sehr vielfältig und sehr viel gelernt wird.
Wenn der Erfolg einer Exkursion an der Anzahl der Teilnehmerinnen gemessen wird, wird das dem tatsächlichen, individuellen Erfolg gerecht? Oder demotiviert diese Art Evaluation die Kursleiterinnen eher, weil immer wieder von neuem einige Teilnehmerinnen trotz aller Bemühungen nicht dazu zu bringen sind, mitzukommen? Ist das Unverständnis einiger Teilnehmerinnen, dass auf Exkursionen mindestens so viel wie im Kursraum gelernt werden kann, nicht Ausdruck eines generellen gesellschaftlichen Missverständnisses dem Phänomen des allem zugrundeliegenden informellen Lernens gegenüber?
„(…) Ertappen wir uns dabei, dass wir »enttäuscht« sind, wenn die Teilnehmerinnen nicht so, wie wir uns das wünschen würden, aus sich herausgehen und dieses »Feld«, das wir ihnen bieten, für sich nützen? (…) umso wichtiger ist es, auch für uns Kursleiterinnen aufzuzeigen, dass Lernen während der Exkursionen stattfindet – genau dort, wo es vielleicht nicht so stark von uns zu steuern ist. Es gilt auch für uns, den Blick für die vielen kleinen Mosaiksteinchen zu öffnen, wo informelles Lernen stattfindet.
Unsere Aufgabe besteht darin, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen. Und dann die Verantwortung den Teilnehmerinnen zuzugestehen – informelles Lernen passiert trotzdem! (…) nicht immer von null auf hundert, es ist ein Prozess, den zu beobachten und mitzugehen, alle Seiten sehr bereichern kann.“ (Melanie Steindl) //
Das „Stadtreisebuch Wien – Deutsch lernen bei Exkursionen“ kann über das Bildungstelefon der Wiener Volkshochschulen bestellt werden: +43 1 893 00 83
Kommentare