Silvia Ferrara: Die große Erfindung. Eine Geschichte der Welt in neun geheimnisvollen Schriften.

Silvia Ferrara: Die große Erfindung. Eine Geschichte der Welt in neun geheimnisvollen Schriften.
München: C. H. Beck 2021, 251 Seiten.

Wo sitzt „das Herz“ der Schrift? Es pocht in der Vorstellungskraft, im Bedürfnis und in der Notwendigkeit, „uns selbst und den Dingen der Welt einen Namen zu geben“ (S. 81). Es lebt nicht im Kontrollorgan von kalten Apparaten.

Silvia Ferrara, Professorin für „Ägäische Kulturen“ an der Universität Bologna, auf die Erforschung von frühen Phasen der Schrift spezialisiert, präsentiert ihre Erkenntnisse in rationalen und emotionalen Bezügen. Sie versteht Schrift als Ergebnis einer kumulativen, schrittweisen Entwicklung – als „soziale Erfindung“, zu der viele Menschen kommunikativ, sich streitend und einigend, vereinbarend und normierend beigetragen haben. Was die Forscherin für die eigentliche Erfindung der Schrift hält, das ist „der langwierige Prozess des Aushandelns, die gemeinsame Arbeit, die Erstellung eines kompletten, geordneten Systems“ (S. 16).

Das kulturelle Produkt Schrift, hält die Autorin eingangs fest, folgt mit seinen Zeichen der umgebenden Natur und ihren Umrisslinien. Die Zeichen entsprechen unserer visuellen Wahrnehmung. Schrift dient unserer Fähigkeit, die Welt mit eigenen Augen zu sehen und auf bestimmte Art wahrzunehmen.

Das Buch inszeniert gleichsam eine Reise, wobei sich die Autorin aus lokalen Spezialisierungen hinaus begibt, um eine globale Sicht einzunehmen. Anstelle einer Vielzahl von Bäumen, meint sie in Anspielung an die fortschreitende wissenschaftliche Spezialisierung, gelte es „den Wald“ zu sehen. Sie weist auf den aktuellen Stand der Schriftforschung hin. Es wird nicht mehr von nur einem Ursprungsort der Schrift, von einer „Monogenese“ ausgegangen. Sehr wahrscheinlich stimmt die Annahme, dass die Schrift im Laufe der menschlichen Geschichte mehrmals erfunden wurde.

Auf ihrer Reise stellt die Autorin nicht entzifferte Schriften, von den Inseln Kreta und Zypern sowie von den Osterinseln, vor. Sie legt nahe, Schrift auch als Entdeckung zu sehen. Was die Osterinseln betrifft, stellt Ferrara fest, gab es bezüglich der Schrift keinen Einfluss durch Kolonisatoren, sondern sie verdankt sich einem „wunderbaren Geistesblitz“.

Im Kapitel „Erfundene Schriften“ zeigt die Autorin den Zusammenhang von Stadt und Schrift. Er ist nicht zwangsläufig, es gab auch Großreiche oder Kulturen ohne Schrift, wenn große Staaten zu verwalten sind, bürokratisiert sich aber meist die Zentralgewalt. Ferrara urteilt (S. 75): „Entstehung von Bürokratie bedeutet folglich Entstehung von Schrift.“

Aber, um die Relativität und Prozessualität der Schriftforschung deutlich hervorzuheben, nennt die Professorin u. a. die Runen – „magische Schriften“ – als ein Beispiel für mehrere kreative Schriften, die außerhalb eines bürokratischen Staatsgefüges entstanden sind.

Eine besondere Qualität von Ferrara als Wissenschafterin und Autorin liegt darin, Erkenntnisse vorzustellen, aber sie nicht ohne Widerspruch zu belassen. Das regt an, eigene Gedanken zu aktivieren, wie man bei Erkundungen von wenig Bekanntem vorgehen sollte.

Als Forscherin beweist sich Silvia Ferrara regional und im Denken mobil, Forschen und Reisen sind für sie Synonyme. Ihr Credo bezüglich Forschung lautet (S. 43): „Stillstehen ist eine Art Verweigerung.“ Forscher*innen sollten sich den „Fesseln der Stabilität“ entwinden. Um Schrift zu entziffern, bedarf es nämlich Logik, Kreativität und Flexibilität. Ferrara legt ihre berufsbezogene Auffassung von forschender Tätigkeit, die auch ihre Sichtweise auf Schrift bedingt, offen. Deren Erfindung ist eben nicht vom Zwang, sondern von Freiheit getragen. Die Entwicklungen von Schriften sind vom biologischen Bedürfnis nach Neuem angetrieben. Sie folgen auch dem menschlichen Bedürfnis, verstanden zu werden.

Was Haltung und Selbstverständnis des Forschens betrifft, stellt sich die Lektüre für Sozialwissenschafter*innen, also auch für alle Interessierten, die Bildung und Weiterbildung thematisch erkunden, als wegweisende Lektüre heraus. Nicht das Verharren in Positionen und Methoden, sondern die Akzeptanz von Bewegung und Veränderung, das Erproben neuer Wege, das Vertrauen in den Hausverstand sowie der Mut oktroyierte Stabilitäten zu verlassen, erschließen Wege zu neuen Erkenntnissen.

Als Leserin und Leser findet man sich mit Ferraras Buch auf einer Reise unterwegs, die von Insel zu Insel, von Land zu Land, aber auch durch den Zeitraum einer Schriftkultur von etwa fünftausend Jahren führt. Stets wohlinformiert von einer Reisebegleiterin, die einfühlsam und argumentativ erklärt, wie sich im Laufe der Zeit Laute in Silben wandelten und sich dann als Schrift gestalteten. 

Ein Buch, das Bibliotheken auch deshalb unbedingt aufstellen sollten, weil es besonders der Professionalisierung sowie der Erbauung von Bibliothekar*innen dienlich sein kann. //

Lenz, Werner (2022): Silvia Ferrara: Die große Erfindung. Eine Geschichte der Welt in neun geheimnisvollen Schriften. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Herbst 2022, Heft 277/73. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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