Wachrütteln will das Buch: vor allem Personen, die meinen, ihr persönliches Konsumverhalten kann nichts bewirken oder landwirtschaftliche Produktion und der Schutz der Natur betreffen sie nicht. Zugleich wird ein individualistisches, abgrenzendes Menschenbild verabschiedet. Ich und Außenwelt sind nicht getrennt. Wir Menschen sollen uns in erster Linie nicht als Individuen betrachten, sondern als lebende Ökosysteme, die in einer seit Millionen Jahren andauernden Evolution in Partnerschaft mit Mikroben entstanden sind. Die Umwelt zu zerstören bedeutet deshalb, die Menschheit zu zerstören.
Auf diesem ökologischen Menschenbild basieren die warnenden Aussagen von Martin Grassberger, Universitätsprofessor für Gerichtsmedizin, Experte für Humanbiologie und Evolutionäre Medizin in Wien. Seine integrierende, interdisziplinäre wissenschaftliche Position lässt ihn Gesundheit und Krankheit im Zusammenwirken von Evolution, Ökologie, Landwirtschaft, Ernährung und Lebensstil beurteilen.
Martin Grassberger warnt eindringlich: die Artenvielfalt geht rasch zurück. Das bedeutet in unserer komplex verwobenen Welt, dass von diesem „leisen Sterben“ biologische, medizinische und soziale Bereiche betroffen sind. Er nennt u. a. das Absterben fruchtbarer Äcker, die Zunahme von Krankheiten, das Bauernsterben, den Verlust ländlicher Traditionen, die Reduktion von Saatgutvielfalt und von Nutztierrassen bis hin zum Verschwinden traditioneller Ernährungs- und Kochkultur.
Das „leise Sterben“ beruht auf Nichtwissen, auf dem Mangel, Zusammenhänge zu erkennen, auf der Gier von Konzernen, auf dem Verdrängen nachhaltiger Landwirtschaft sowie auf der schleichenden Epidemie chronischer Krankheiten.
Aufrüttelnd informativ stellt Grassberger die neuen Epidemien der letzten Jahrzehnte, die sogenannten „nichtübertragbaren Krankheiten“, in den Vordergrund. Dazu gehören u. a. Herz-Kreislauf, Stoffwechsel, autoimmune Störungen, Demenz, Diabetes, Krebs, Allergien. Auffällig ist, sie nehmen mit wachsendem Wohlstand, mit Industrialisierung und westlicher Lebensweise zu, stehen mit Ernährung und Problemen im Magen-Darm-Trakt in Zusammenhang.
Zu diesen Informationen im ersten Teil, das Buch umfasst drei, kommen noch weitere über unsere Nahrung, die Landwirtschaft und sehr ausführlich über die industrielle Landwirtschaft, über das längst vor sich gehende Artensterben sowie über den Verlust der Biodiversität hinzu. Insgesamt diagnostiziert Grassberger, die Menschheit und die Erde befinden sich in einem kritischen Zustand. Da er sich aber nicht zu den „Alarmisten“ zählt, hält er diesen noch für verbesserbar.
Im zweiten Teil erklärt der Autor „Die unsichtbaren Zusammenhänge“. Er spannt den Bogen vom Beginn des Lebens auf der Erde vor etwa 3,5 Milliarden Jahren bis zum Auftreten und Herausformen des modernen Menschen seit wenigen zehntausenden Jahren. Grassberger definiert den Menschen als Holobiont – als „Gesamtlebewesen“, einen mehrheitlich von Mikroben besiedelten Makroorganismus. Also: „Ich“ ist sehr viele, aber krank: Das Mikrobiom ist geschädigt, Umweltchemikalien irritieren, Ernährung bewirkt metabolische Störungen, Ökosysteme werden zerstört, eine imperiale Lebensweise entfremdet uns von der Natur.
Im dritten Teil kommen die Hoffnungen des Autors zum Tragen. Wir wissen, meint Grassberger, was getan werden soll, und es gibt Protagonisten, die schon neue Wege gehen. Solche positive Alternativen und ihre Vertreter, Initiativen und Bemühungen werden vorgestellt. Für Österreich wird die seit 2015 bestehende steirische „Ökoregion Kaindorf“ genannt.
Grassberger lehnt das neoliberale Menschenbild – egoistische, gierige, nach immer mehr Besitz strebende Menschen – ab. Er hält die Menschen für altruistisch, allerdings geleitet von „Polit- und Wirtschaftspsychopathen“. Mit Vorschlägen „Was Sie sofort für Ihre Gesundheit tun können“ – nämlich dem Versprechen der profitorientierten Konzerne zu misstrauen und vermehrt auf regionale Versorgung zu setzen – entlässt uns, nun aufgeklärt, der Autor in unsere eigene Verantwortung.
Grassberger ist ein aufklärendes Buch gelungen. Es vermittelt viel Information, bietet aber auch viele Gelegenheiten, über das eigene Verhalten und wie es zustande kam, nachzudenken. Die Lektüre spornt an, mit anderen im sozialen Umkreis ins Gespräch zu kommen – „Ich“ ist eben auch sozial betrachtet viele.
Das Buch ist für die Haus- aber auch für jede andere Bibliothek zu empfehlen. //
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