Georg W. Bertram, Michael Rüsenberg: Improvisieren! Lob der Ungewissheit.

Georg W. Bertram, Michael Rüsenberg: Improvisieren! Lob der Ungewissheit.
Stuttgart: Reclam Verlag 2021, 144 Seiten.

Ungewissheit – unsere ständige Begleiterin. In Beruf und Alltag nehmen wir, wenn wir uns selbst etwas genauer beobachten, ständig Situationen wahr, die überlegtes, geplantes Handeln in Frage stellen. In Reaktion darauf reden wir davon zu „improvisieren“. 

Diesem Improvisieren haben der Philosoph Georg W. Bertram und der Jazzpublizist Michael Rüsenberg ihr Interesse gewidmet. Im Wortstamm finden die Autoren „aus dem Stegreif agieren“, sowie „unvorhergesehen“ und „unerwartet“. Sie definieren (S. 12): „Improvisieren ist also ein unvorhergesehenes Tun, das auf die Zukunft verweist.“ Sie stellen außerdem klar, nicht alles, was vom Normalfall abweicht, gilt als Improvisation. Betont wird die menschliche Fähigkeit, und das will die Publikation erläutern, unvorbereitet und im Ungewissen zu handeln.

Ziel des Essays ist es, eine positive Bedeutung des Improvisierens zu zeigen und ein neues positives Verständnis zu schaffen. Die Autoren plädieren für die Anerkennung des Instabilen, das uns umgibt: Improvisieren ist eine produktive Form der Stabilisierung – es beruht auf Erfahrung, Geistesgegenwart und eintrainiertem Vorgehen.

Verschiedene Lebenskontexte werden herangezogen, um das Thema „Improvisieren“ zu diskutieren. Naheliegend werden am Jazz interaktive und kommunikative Dimensionen sowie der soziale Charakter der Improvisation erklärt. Die Autoren nennen sie in diesem Zusammenhang eine spontane, nicht von Planung gesteuerte Interaktion. Als „grundlegender Ort des Improvisierens“ wird das Gespräch beurteilt. Es stellt die Anforderung, sich im Sprechen immer neu auszurichten und es improvisierend weiter zu entwickeln. 

Ohne zu improvisieren, könnten wir mit anderen und mit der Welt nicht klarkommen. „Wir sind Wesen, die sich improvisierend in ihrem Denken entwickeln“ (S. 55). Die Autoren empfehlen, diesen Gedanken in unser Selbstverständnis aufnehmen. 

Auch die Medizin sollte sich von einem negativen Image einer improvisierenden Praxis lösen. Da das medizinische Handeln unvorhersehbar ist, trägt Improvisation zur Entwicklung der Urteilskraft bei: Mediziner lernen durch Improvisation zu improvisieren.

Ein weiteres Feld der Reflexion betrifft die Gewohnheit. An ihr zeigt sich, dass Improvisation immer auf vielfältigen Vorbereitungen beruht, um in schwierigen Situationen weiter zu wissen. Die Autoren halten Improvisation für eine steuernde Kraft, für einen Modus des Handelns, wobei wir einen geistigen Zustand realisieren. Charakteristisch ist, dass jede Problemlösung Gegenstand von Reaktion und Weiterentwicklung ist. Als Zwischenresümee wird festgehalten: Durch Improvisation befinden sich Menschen in einem komplexen, interaktiven Lernprozess.

Bertram und Rüsenberg konstruieren ein dynamisches Menschenbild. Menschen sind keine stumpfen Gewohnheitstiere, sondern Lebewesen, die sich immer verändern und weiterentwickeln können. Daher soll Ungewissheit nicht als Defizit verstanden werden, sondern als Chance, von sich aus etwas beizutragen. Weitere erläuternde Beispiele dazu bieten die Autoren aus der Rechtsprechung, der Politik, aus Entscheidungen in Organisationen und aus dem Fußballspiel.

Im Hinblick auf die Dimension Zeit ­erkennen die Autoren in jeder Improvisation „eine Eröffnung von Zukunft“. Improvisation ist ein Agieren, das sich in weiteren Reaktionen in einer ungewissen Zukunft aussetzt. In der Ungewissheit des Improvisierens liegt für die Autoren eine explorative Kraft. Dafür bedarf gutes Improvisieren einer guten Vorbereitung. Wir sollen eben nicht nur Gewissheiten anstreben, sondern Ungewissheit akzeptieren und suchen: Be prepared to be unprepared. 

Wer auf Ungewissheit produktiv einzugehen vermag, kann allzu feste Beschränkungen verlassen und Freiheit gewinnen. Dazu benötigen wir, resümieren die Autoren, eine Kultur des steten Wandels. Kein Plan sollte nicht korrigierbar sein – z. B. was Pandemien oder Klima betrifft. Nicht zu vergessen: vorausgesetzt ist eine gute Vorbereitung, das Training von Fähigkeiten aber auch Überlegungen und Planungen. In Bewegung bleiben, Kontakt „zur Welt“, zu anderen, zu sich selbst nicht verlieren – immer wieder neue Impulse aufnehmen.

In diesem Sinne können sicherlich Perspektiven für Bildungs- und Lernkonzepte abgeleitet werden. Gerade Erwachsenenbildung/Weiterbildung nimmt aktuelle Impulse aus „der Welt“ und dem sozialen Miteinander auf und transformiert sie in Lernprozesse.

Das Buch fungiert nicht als Ratgeber und empfiehlt keine Rezepte des Improvisierens. Der Selbstreflexion anregende Essay – lesefreundlich, gut strukturiert und konsequent argumentiert – eignet sich besonders für die Professionalisierung von Erwachsenenbildner*innen und solchen, die es noch werden wollen. //

Lenz, Werner (2022): Georg W. Bertram, Michael Rüsenberg: Improvisieren! Lob der Ungewissheit. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Herbst 2022, Heft 277/73. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

Kommentare

Neuen Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *

Zurück nach oben