Ländliche Erwachsenenbildung im Zeitalter der Postmoderne

Ländliche Räume im Abseits!?

Der ländliche Raum ist nicht erst in den letzten Jahren zu einer gesellschaftlichen Problemzone geworden. Das Stadt-Land-Gefälle hat in Deutschland eine ausgeprägte historische Dimension (Kötter: 1958). Obgleich seit 1945 mit verschiedenen großangelegten Raumordnungsprogrammen die Gleichwertigkeit der Lebensräume gesichert werden sollte, ist dies bis heute in Bezug auf das Verhältnis von Stadt und Land nur in Ansätzen gelungen. Besonders deutlich wird diese Diskrepanz zwischen den neuen und alten Bundesländern in Deutschland. 

Die Politik reagiert(e) auf dieses Stadt-Land-Gefälle mit verschiedenen Programmen und Strategien auf Bundes- und Landesebene. Das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV) verabschiedete beispielsweise einen „Nationalen Strategieplan der Bundesrepublik Deutschland für die Entwicklung ländlicher Räume 2007–2013“. (BMELV: 2011). Programmatisch heißt es dort: „Die Politik ist gefordert, die Menschen im ländlichen Raum durch Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen und zielgerichtete differenzierte Förderangebote bei der Bewältigung dieser Aufgaben bestmöglich zu unterstützen“. (BMELV: 2011, 29). Gleichzeitig entsteht aber auch der Eindruck, dass Politik und Verwaltung immer wieder mit unterschiedlichen Maßstäben die Stadt-Land-Situation bewerten und den ländlichen Raum vernachlässigen.

Die zentrale Frage für den ländlichen Raum lautet – angesichts demografischer, technologischer und wirtschaftlicher Entwicklungen und Transformationen: Wie kann die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse und der Daseinsvorsorge gesichert werden? Zahlreiche Gutachten und Expertisen bestätigen seit Jahren, dass die Lebensqualität in peripheren ländlichen Räumen massiv gefährdet ist, wenn es nicht gelingt, die endogenen Potenziale für eigenständige Regionalentwicklungsprozesse zu mobilisieren. (Z. B. Adamaschek & Pröhl: 2003; Bätzing: 2020; Jakob & Stehr: 2014). Dies ist eine Steilvorlage für die Erwachsenenbildung.

Ländlicher Raum und Erwachsenenbildung – Aufbruch und Neuorientierung

Die wissenschaftliche, politische und kulturelle Definition der ländlichen Räume als Defizitraum, die Einsicht in die Fehlplanungen mit dramatischen Folgen für die Ökonomie, Ökologie und Identität (Bätzing: 2020; Schmals & Voigt: 1986), führte in den 1980er-Jahren zu Überlegungen hinsichtlich der Bedeutung und Rolle außerschulischer Bildung im Kontext von gesellschaftlichen Transformationsprozessen.

Ab den 1980er-Jahren lässt sich in diesem Sinne eine zaghafte Neuorientierung in der Erwachsenenbildung beobachten (z. B. Faber: 1981; Faber & Dieckhoff: 1987;  Huge: 1988; Klemm: 1986), die mit dem Ziel antritt, Erwachsenenbildung vor dem Hintergrund der „Brüche im Vergesellschaftungsprozess“ (Schratz: 1987, 104) neu zu legitimieren.

Neben den düsteren Zustandsbeschreibungen und Prognosen für die Provinz wird der ländliche Raum seit den 1980er-Jahren aber auch als „Hoffnungsträger“ (Kramer: 1989) und Raum mit „strukturellen Gestaltungschancen“ (Geißler: 1988) gesehen, und es wird über neue „Entwicklungspotenziale der Dörfer“ (Schüttler: 1990) gesprochen sowie ein „Paradigmenwechsel“ in der Dorfforschung (Herrenknecht: 1990) prognostiziert. Der Prozess der Öffnung bzw. die Verstädterung und Entdörflichung der Dörfer brachte so gesehen auch ein Widerstandspotenzial hervor, dass in den 1970er- und 1980er-Jahren in eine zaghafte „Provinzbewegung“ mündete. (Herrenknecht & Lecke: 1981; Klemm & Seitz: 1989).

  • 1950er- und 1960er-Jahre: Restaurative Phase: „Wirtschaftswunder“, „Landflucht“ und Wandel zur modernen Industriegesellschaft machen den ländlichen Raum zum „Restraum“ und führen in der Erwachsenenbildung zu einer Freizeitorientierung ohne politischen Anspruch.
  • 1970er- und 1980er-Jahre: Gesellschaftspolitische Phase: Neue gesellschaftliche Entwicklungen („Heimat“) und soziale Bewegungen („Provinz“) erneuern das Selbstverständnis der Erwachsenenbildung und stärken politische Bildung.
  • 1980er- und 1990er-Jahre: Regionalisierungsphase: Eigenständige Regionalentwicklung, heterogene Dorfkulturen und „endogene Potenziale“ betonen die Bedeutung regionaler Faktoren für die Bildungsarbeit.
  • 1990er- und 2000er Jahre: Makro-Strategiephase: „Lernende Regionen“, Kooperationen von Bildung und Wirtschaft und ein verstärkter Stadt-Land-Dialog suchen nach einer Balance von Globalisierung und Regionalisierung.
  • 2010er-Jahre ff.: Postmodernisierungsphase: Nachhaltiger demografischer, ökologischer (Klimawandel) und technologischer (Neue Medien) Wandel sowie politische Radikalisierungen führen zur Frage nach dem „postmodernen“ Selbstverständnis der Erwachsenenbildung im ländlichen Raum.

Abbildung 1: Zur Genese ländlicher Erwachsenenbildung nach 1945

Die „Wiederkehr des Regionalen“ (Lindner: 1994) und die Idee der eigenständigen Regionalentwicklung – als partizipatorische Alternative zu einer zentralisierten Planungspolitik – entwickelten seit den 1980er-Jahren auch neue bildungsstrategischen Orientierung. Der Ansatz der „Gemeinwesenarbeit“, verstanden als ein politisches und kulturelles Lernen vor Ort, findet methodisch-didaktisch eine größere Beachtung. Ländliche Bildungsarbeit wird vor diesem Hintergrund als ein Ansatz mit selbstgesteuerten, dezentralen und kooperativen/vernetzten Binnen- und Außenstrukturen gesehen. Regionale bzw. ländliche Erwachsenenbildung bedeutet in diesem Sinne, dass das Dorf, die Kleinstadt oder die Region zur methodisch-didaktischen Handlungsebene und zum Bezugspunkt werden und dass Lernen als ein antizipatorischer und partizipatorischer Prozess im Dorf verstanden wird. Es geht es um ein Lernen vor Ort, dass die klassische „Komm-Struktur“ durch eine „Geh-Struktur“ ergänzt. Erwachsenenbildung wird zu einer „aufsuchenden“ Bildungsarbeit.

Und auch inhaltlich verändert sich Erwachsenenbildung dergestalt, dass sie politisch(er) wird und an regionalen Problemfeldern ansetzt und dass der gesellschaftliche Wandel des ländlichen Raumes zum Ausgangspunkt von Bildungs- und Kulturarbeit wird. Erwachsenenbildung ist also nicht nur defizitorientiert, sondern hat vor allem individuelle und gesellschaftliche Ressourcen zum Ausgangspunkt und muss diese „ermöglichen“. Erwachsenenbildung ist auch Talentsuche.

Aktuelle Herausforderungen

Die ländlichen Räume stehen (wieder einmal) vor komplexen Herausforderungen, die sich aus einem langanhaltenden Strukturwandel ergeben, der seit den 1980er-Jahren das „Land“ erneut verändert und den die Menschen vielfach als Benachteiligung und „Verlust“ bzw. sogar als existentielle Bedrohung erleben. Insbesondere ist dies seit den 1990er-Jahren in den östlichen Bundesländern in Deutschland zu beobachten.

Die demografischen Umbrüche mit Abwanderung, Überalterung und Migration sind dabei eine signifikante Herausforderung für ländliche Räume. Und auch politische Entwicklungen wie ausgedünnte zivilgesellschaftliche Strukturen, der Rückgang des ehrenamtlichen Vereinsengagements sowie auf der anderen Seite das Erstarken von rechtspopulistischen und -radikalen Milieus prägen immer mehr periphere Landschaften abseits der Metropolen und führen zu Umbrüchen, verbunden mit dem Verlust kultureller Traditionen, Akteure und öffentlicher Orte. 

Schließlich wirken sich auch die wirtschaftlichen Umbrüche immer signifikanter und nachhaltiger aus. Der Verlust traditioneller Wertschöpfungsketten, vernachlässigte endogene Kapazitäten und Expertisen vor Ort und die Abhängigkeit von externen Finanz- und Personalressourcen machen ländliche Räume zu fragilen und störungsanfälligen „Resträumen“, wenn sie nicht zentrumsnah im „Speckgürtel“ prosperierender Städte liegen oder ausgewiesene Tourismusregion sind.

Eine weitere Herausforderung liegt in der Verfasstheit der ländlichen Erwachsenenbildung selbst: Die Kritik an der bestehenden Erwachsenenbildung im ländlichen Raum geht vor allem auf ihrer Krise der Einrichtungen und ihrer Träger seit den 1970er-Jahren zurück, die Anton Rohrmoser in sechs Punkten zusammenfasst:

  • Orientierungskrise, Mangel an zukunftsorientierten Konzepten,
  • kein befriedigendes Strukturmodell (abhängig von Interessengruppen),
  • keine zufriedenstellenden Ausbildungsmodelle für regionale MitarbeiterInnen,
  • Mangel an Professionalisierung,
  • zu wenig politische Bildung,
  • Bildungs- und Kulturarbeit findet zunehmend außerhalb traditioneller 
  • Organisationen statt. (Rohrmoser: 1994, 2).

Als Kristallisationspunkt einer innovativen Wende in der ländlichen Erwachsenenbildung ab den 1980er-Jahre muss der von der Autonomen Provinz Bozen im Herbst 1989 in Goldrain (Südtirol) initiierte internationale Kongress zur Erwachsenenbildung (Autonome Provinz Bozen: 1990) gesehen werden, bei dem Vertreter aus Italien, Österreich, der Schweiz , Deutschland, Dänemark und den Niederlanden erstmals seit vielen Jahren eine Bestandsaufnahme vornahmen und „neue Wege“ diskutierten. Ländliche Erwachsenenbildung befindet sich an einem Wendepunkt – so das damalige Ergebnis der Tagung – und zeichnet sich durch eine Reihe von Defiziten aus:

  • Erwachsenenbildung im ländlichen Raum präsentiert sich der Politik „zu schwammig und zu vage, den engagierten Bürgern zu unverbindlich und den Aufsteigern zu wenig erfolg-versprechend“. (Ebd., 45).
  • Die Krise der ländlichen Erwachsenenbildung ist hausgemacht und liegt u.a. an ihrer Pro-fillosigkeit: „Zur Zeit sehe ich in der Erwachsenenbildung eine Schar von unauffälligen Veranstaltern, die der Anpassung zum Rollenverhalten der Erwachsenen dienen und höchstens im persönlichen Bereich zu kritischer Orientierung animieren. […] Wo es um Aktionen geht, wird sie von Bürgerinitiativen überholt, wo es um Freizeit geht, sind ihr die Vereine überlegen“. (Ebd., 46).
  • Vernachlässigt wurde in den letzten Jahren eine Weiterentwicklung interner und externer Arbeitsstrukturen sowie die Mitarbeiteraus- und -fortbildung, was zu einer geringen Pro-fessionalisierung, gemessen an urbaner Weiterbildung, führte.
  • Ein mangelndes bzw. aus den 1970er-Jahren stammendes Selbstverständnis äußert sich politisch darin, dass eine starke Lobby weitgehend fehlt.

Dieser auf dem Kongress ausdifferenzierte und breit angelegte Diskurs über die Situation der Erwachsenenbildung im ländlichen Raum ist im Kontext der damaligen Selbstkritik an der Praxis zu sehen und gilt bis heute als Aufbruchsignal für ein neues Verständnis ländlicher Erwachsenenbildung. 

An zwei Beispielen, eines aus Süddeutschland und das andere aus Ostdeutschland, soll im Folgenden der Charakter der Erneuerung gezeigt werden, wie er heute anzutreffen ist.

Das „Mehrgenerationenhaus“ (MGH) in Markranstädt (Sachsen) in der Trägerschaft der Volkshochschule

Das Konzept der Mehrgenerationenhäuser wurde im Rahmen eines durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend initiiertes Aktionsprogramm 2006 ins Leben gerufen. Derzeit gibt es zirka 500 MGHs in Deutschland, wobei der Großteil davon im ländlichen Raum angesiedelt ist. Die Finanzierung erfolgt über Bundes- und kommunale Mittel sowie über Eigenanteile der Träger.

Inhaltlich stehen die Bereiche „Alter und Pflege“, „Integration und Bildung“, „haushaltsnahe Dienstleistungen und Freiwilliges Bürgerengagement“ im Mittelpunkt. Der intergenerative Ansatz ist dabei die Leitidee. MGHs sind jedoch keine intergenerationellen Wohnprojekte; sie sind öffentliche und lokal verortete Begegnungsorte zur Stärkung der Zivilgesellschaft.

Das MGH Markranstädt wird seit September 2008 von der „Volkshochschule Landkreis Leipzig“ betrieben (Klemm: 2012, Egler, Karnstädt & Müller: 2020). Das im MGH Markranstädt tätige Personal setzt sich aus festangestellten MitarbeiterInnen der VHS, Honorarkräften und ehrenamtlichen MitarbeiterInnen zusammen.

Die Volkshochschule Landkreis Leipzig ist eine von insgesamt 15 Volkshochschulen in Sachsen und verfügt über ein Netz miteinander verbundener lokaler Geschäftsstellen, um die zirka 250.000 Menschen, die im Landkreis leben, zu versorgen. Eine entsprechende Geschäftsstelle befindet sich auch die Kleinstadt Markranstädt (15.000 EinwohnerInnen) mit dem MGH.

Die Veranstaltungen im MGH sind grundsätzlich nicht anmeldepflichtig. Die Angebote stehen allen Interessierten zu jeder Zeit offen. Das heißt, geplante Angebote finden immer statt, unabhängig von der tatsächlichen BesucherInnenzahl. Zusätzlich zu den eigens geplanten und originär zu den Angeboten des MGHs gehörenden Veranstaltungen finden auch Programmpunkte anderer Träger – in Form von Kooperationen – in den Räumlichkeiten des MGHs statt. 

Der größte Teil der Angebotsstruktur entfällt dabei auf den Bereich „Politik – Gesellschaft –Umwelt“ mit 32 Prozent. Der Bereich „Junge VHS“ umfasst 21 Prozent und der Bereich Kultur-Gestalten 20 Prozent der Angebote. 15 Prozent umfasst die „Senioren VHS“. Im Vergleich zur Kurstruktur der VHS ist der Politikbereich im MGH außerordentlich stark vertreten. Während bei der VHS diese Angebote bei fünf bis sieben Prozent liegen, werden die entsprechenden Veranstaltungen in den Strukturen des MGHs mit Abstand am häufigsten genutzt. Weiterhin fallen die hohen Anteile an generationenorientierten Angeboten auf. Der Bereich der „Jungen VHS“ ist anteilig um sieben Prozent (VHS: 14 Prozent, MGH: 21 Prozent) und der Bereich der „Senioren VHS“ um fünf Prozent (VHS: 10 Prozent, MGH: 15 Prozent ) höher. Insgesamt verzeichnet das MGH jährlich zirka 10.000 BesucherInnen. Der größte Angebotsbereich, Politik/Gesellschaft/Umwelt, umfasst dabei zirka 3.000 BesucherInnen.

Interessant ist auch der signifikante Unterschied zwischen VHS und MGH bei der Verzeitung der Angebote. Im MGH finden 51 Prozent der Veranstaltungen in der Zeit bis 12.00 Uhr statt. Angebote in den Abendstunden ab 18.00 Uhr werden lediglich zu ein Prozent bereitgestellt. Diese Struktur ist komplementär zum Angebot der Volkshochschule, in der sich die Angebote auf die Zeit ab 18.00 Uhr konzentrieren. (Goldhorn, Heen, Hermann & Widder: 2012).

Beide Einrichtungen sind zunächst zwei unterschiedliche Bildungsformate, die auf den ersten Blick mehr Unterschiede aufweisen als Gemeinsamkeiten. In dieser Unterschiedlichkeit liegt aber genau die Stärke bei der Kombination beider Formate. Hinsichtlich Ziele, Inhalte, Zielgruppen, Lernstrukturen, Vermittlung und Finanzstruktur kommt es bei einem kooperativen und flexiblen Management zu jenen Synergieeffekten, die für eine gemeinwesenorientierte Bildungsarbeit notwendig sind:

  • Im kommunalen Kontext wird es zunehmend darum gehen, integrierte Konzepte der Daseinsfürsorge an der Schnittstelle von bürgerschaftlichem Engagement und kommunalen Aufgaben in den Lebensbereichen Bildung, Kultur und Soziales zu generieren,
  • Bildung, Beratung und Begegnung müssen als eine makrodidaktische Einheit gesehen werden,
  • die institutionelle Verbindung von formalem, non-formalem und informellem Lernen wird zukünftig immer bedeutsamer,
  • entscheidend ist ein politischer Wille auf kommunaler Ebene für integrierte Strukturkonzepte statt isolierter Einzelmaßnahmen und einem Sektorendenken. 
  • vernetzte Managementkompetenzen und -Strukturen sind weitere Voraussetzungen für eine gelingende bürgerschaftliche und gemeinwesenorientierte Bildungsarbeit.

Die Verbindung der Bildungsformate VHS und MGH ist kein einfaches Unterfangen und hängt sowohl von internen personellen und strukturellen Kompetenzen und Ressourcen der Einrichtungen als auch von externen politischen und finanziellen Rahmenbedingungen ab. 

Für die Volkshochschularbeit stellt das MGH eine signifikante qualitative und quantitative strategische und operative  Ergänzung zu ihrer bisherigen Arbeitsstruktur dar: Die Vernetzung verschiedener Lebensbereiche und kommunaler Akteure, die Selbstorganisation und -hilfe betroffener BürgerInnen, die interkulturelle und intergenerationelle Begegnung sowie die organisatorische, räumliche und zeitliche  Flexibilität sind wesentliche Elemente, die die  Lernkultur eines MGH von einer VHS unterscheidet.

Das MGH ermöglicht eine flexible, niederschwellige und barrierefreie Organisationskultur im Sinne einer „Lernenden Organisation“ und ergänzt eine top-down-strukturierte VHS, die mit einem fixen Raum-Zeit-Rhythmus arbeitet.

Gemeinwesenorientierte ländliche Erwachsenenbildung an der Ulmer Volkshochschule 

Ein besonderes Merkmal der Ulmer Volkshochschule (vhulm) in Baden-Württemberg ist, dass sie seit den späten 1940er Jahren sowohl für das Stadtgebiet Ulm als auch für das ländliche Umland (Alb-Donau-Kreis) und die Nachbarstadt Neu-Ulm (Bayern) zuständig ist. Damit hat die vhulm traditionell eine starke Kooperationskultur als Leitbild und versteht sich als regionaler Bildungsanbieter über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus. Ab Mitte der 1980er-Jahre kam es aus unterschiedlichen Gründen (siehe oben) zu einer Neuorientierung der strategischen Ausrichtung in der „Landkreisarbeit“ der Ulmer Volkshochschule. (Klemm: 1995).  

 Es ging dabei um eine Region im Umkreis von bis zu 25 Kilometer um Ulm herum und um 20 Gemeinden in der Größenordnung zwischen 1.000 bis 15.000 EinwohnerInnen. Insgesamt wurden in diesem Kontext zirka 90 Veranstaltungsorte genutzt. Die Personalausstattung umfasste zwei FachbereichsleiterInnen, eine Sekretärin, einen Zivildienstleistenden, die alle in Ulm im Haus der Volkshochschule (vh-EinsteinHaus) ihr Büro hatten und durch 17 ehrenamtliche Außenstellenleiterinnen, die überwiegend in den Rathäusern vor Ort angesiedelt und dort auch hauptberuflich in der Verwaltung beschäftigt waren, unterstützt wurden.

Leitend für diese neue Landkreisarbeit ist, dass sich ihr Konzept nicht an städtischen VHS-Modellen und -Strategien orientiert, sondern am ländlichen Raum als einem eigenständigen Bildungsraum mit spezifischen Herausforderungen.

Als Programmplanungsstrategie wurden Partizipation, Regionalisierung und Kooperation in den Mittelpunkt gerückt (siehe Abb. 2), um den differenzierten ländlichen Lebensräumen gerecht zu werden, denn selbst die Dörfer und Landschaften einer Region verfügen über unterschiedliche kulturelle und gesellschaftliche Traditionen. Es macht einen Unterschied, ob ein Dorf noch landwirtschaftlich geprägt, ein „Schlafort“ im nahen Einzugsgebiet der Stadt oder ein aufstrebender Ort mit guter Verkehrsanbindung und KMU-Ansiedlungen ist. 

Neben diesen strategischen Orientierungen zur Bildungs- und Programmplanung spielt auch eine neue inhaltliche Ausrichtung eine wesentliche Rolle. Es geht um

  • ein regional ausdifferenziertes Programm und nicht um ein flächendeckendes „Standardprogramm“;
  • regelmäßige Standortanalysen, die lokale und regionale Bedarfe und Bedürfnisse sowie Unterversorgungen transparent machen;
  • den Aufbau einer mit der Bildungsarbeit verbundenen regelmäßigen (Sozio-)Kultur-Arbeit, z. B. in Form von Tournee-Veranstaltungen von KünstlerInnen mit mehreren Auftritten. Zielgruppe sind dabei Kinder, Jugendliche und Erwachsene;
  • einen Stadt-Land-Dialog, nicht nur hinsichtlich von Bildungskooperationen, sondern auch im politischen Sinne einer Thematisierung des Spannungsverhältnisses zwischen Stadt und Umland;
  • ein stärkeres politisches Profil des Programms, d.h. politische Bildung und regionale wie auch globale gesellschaftliche Herausforderungen müssen deutlicher verankert werden.

Ganz wesentlich für diese Neuausrichtung ist auch die methodisch-didaktische Perspektive und die Entwicklung von neuen Formaten. Es muss eine Balance zwischen einer „Komm- und Geh-Struktur“ der Programmangebote gefunden werden. Die Dominanz der „Komm-Struktur“, also des Prinzips, die VHS macht ein Semesterprogramm und wartet, bis die TeilnehmerInnen in die Einrichtung kommen, hat ihre Grenzen erreicht. Die Ausfallzahlen bei dieser Planungsstrategie betragen stellenweise bis zu 50 Prozent. Vor diesem Hintergrund besteht eine wesentliche Aufgabe darin, neue, aufsuchende, gemeinwesenorientierte und bedarfsgerechtere Formate zu entwickeln, die neue Perspektiven für Raum und Zeit in der Didaktik eröffnen (siehe Abb. 2).

Schließlich wurde auch deutlich, dass die Organisations- und Personalstruktur der VHS insgesamt auf den Prüfstand gestellt werden muss. Die klassische Orientierung mit einem inhaltlichen Sechs-Säulen-Modell, eingeteilt in sechs voneinander abgegrenzte Programmbereiche und einer Jahres-Semesterstruktur, die sich an den Schulen mit Ferienzeiten und Unterrichtszeiten orientiert sowie die starre curriculare Struktur der Anmeldung zu Kursen/Seminaren mit festen Zeiten und Orten, wird immer weniger den Bedarfen und Bedürfnissen gerecht.

Für die Landkreisarbeit der vhulm wurde entschieden, dass eine personelle Aufteilung nicht nach Bildungsthemen und -Inhalten erfolgt – wie sonst üblich an der VHS – sondern geografisch/regional. Regionale Bildungsarbeit benötigt einen regionalen Ansprechpartner/eine regionale Ansprechpartnerin mit Entscheidungskompetenz, die „sichtbar“ und „profilgebend“ sind und die mit den Eigenheiten der Region vertraut sind: regionale Kompetenz.

Das Ulmer „Landkreismodell“

Die Leitidee der gemeinwesenorientierten Bildungsarbeit an der Ulmer Volkshochschule, die mit Partizipation, Regionalisierung, Kooperation umschrieben werden kann, macht neue Leitplanken für ihr Selbstverständnis notwendig und führt zu einer kritischen Überprüfung von liebgewonnenen Gewohnheiten.
Folgendes Modell hat sich dabei herauskristallisiert:

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Abbildung 2: Strukturmodell ländlicher Erwachsenenbildung an der Ulmer Volkshochschule

Fazit und Zukunft ländlicher Erwachsenenbildung

Angesichts der demografischen, strukturellen und technologischen Entwicklungen seit einigen Jahren erhält die Erwachsenenbildung bei der Revitalisierung ländlicher Räume eine (neue) strategische Rolle im kommunalen Kontext. Es geht um Erwachsenenbildung als Daseinsvorsorge und Revitalisierungsstrategie für ländliche Räume. Neben dem Bildungsauftrag erhalten Beratungsleistungen, Begegnungsmöglichkeiten und Koordinierungsaufgaben einen größeren Stellenwert bei der Programmplanung (siehe Abb. 3).

Erwachsenenbildung im ländlichen Raum benötigt außerdem eine neue Governance, d. h. veränderte Steuerungssysteme für die Aufbau- und Ablauforganisation. Das Konzept der eigenständigen Regionalentwicklung hat sich dabei als eine übertragbare Leitidee für die operative und strategische Programmplanung in den letzten Jahren bewährt, d. h.  die Verlagerung von partizipativen Entscheidungsfindungen auf die regionale Ebene (keine zentrale Steuerung), die Förderung von endogenen Potenzialen, Kapazitäten und Expertisen: Menschenförderung statt Strukturförderung. Und: Ländliche Regionen müssen als eigenständige Lebens- und Kulturräume im Kontext mit urbanen Metropolen gesehen werden. Eigenständige Regionalentwicklung bedeutet methodisch-didaktisch, dass das Dorf, die Kleinstadt, die Region zur didaktischen Handlungsebene werden und Lernen als ein antizipatorischer und partizipatorischer Prozess verstanden wird; d. h. Lernen soll mit einem zeitlichen und räumlichen Zugehörigkeitsgefühl in die Region hinein verbunden werden. 

Inhaltlich bedeutet eigenständige Regionalentwicklung, dass Erwachsenenbildung politisch(er) werden muss. Sie setzt an globalen und regionalen Problemfeldern an: „global denken und lokal handeln“. Außerdem wird der gesellschaftliche Wandel zum Ausgangspunkt von Bildungs- und Kulturarbeit gemacht. Die Menschen vor Ort werden zum wichtigsten regionalen Entwicklungsfaktor.

Eigenständige Regionalentwicklung bedeutet aber auch, ein neues Steuerungsmodell für Kooperationen zwischen unterschiedlichen Trägern der Erwachsenenbildung, zwischen Erwachsenenbildung und Kommune, zwischen Erwachsenenbildung und zivilgesellschaftlichen Initiativen und auch mit der Wirtschaft.

Damit einher muss ein Wandel des Selbstverständnisses der VHS gehen. In ihrer Funktionalität sind sie mehr als „nur“ Anbieter von Bildungsangeboten (siehe Abb. 3).

Lokale und regionale Gemeinwesenorientierung und Daseinsvorsorge im Kontext einer eigenständigen Regionalentwicklung bedeuten eine multifunktionale strategische Ausrichtung in öffentlicher Verantwortung und ein aktivierendes Bildungsmarketing mit folgenden Funktionen: //

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Abbildung 3: Strategische Funktionen und Aufgaben der Volkshochschule

Literatur

Adamaschek, Bernd & Pröhl, Marga (Hrsg.) (2003): Regionen erfolgreich steuern. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung.

Autonome Provinz Bozen/Assessorat für Unterricht und Kultur für die deutsche und ladinische Volksgruppe (Hrsg.) (1990): Internationaler Kongreß Erwachsenenbildung auf dem Lande. Schloß Gold-rain in Südtirol, 25.–28.10.1989. Bozen: Autonome Provinz Bozen/Assessorat für Unterricht und Kultur für die deutsche und ladinische Volksgruppe.

Bätzing, Werner (2020): Das Landleben. Geschichte und Zukunft einer gefährdeten Lebensform. München: Verlag C. H. Beck.

Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV) (2011): Nationaler Strategieplan der Bundesrepublik Deutschland für die Entwicklung ländlicher Räume 2007–2013. Überarbeitete Fassung vom 4.18.2011. Berlin: BMELV.

Egler, Ralph, Karnstädt, Kerstin & Müller, Holger (2020): Mehrgenerationenhaus als lernförderlicher Ort zivilgesellschaftlicher Kompetenzentwicklung In: Bernd Käpplinger (Hrsg.), Neue Häuser der Erwachsenenbildung 1959 und 2019 (S. 153–175). Berlin: Peter Lang.       

Faber, Werner (1981): Das Dorf ist tot – es lebe das Dorf. Erwachsenenbildung im ländlichen Raum. Düsseldorf: Patmos.                                                      

Faber, Werner & Dieckhoff, Klaus (1987): Lernen auf dem Land – Aspekte ländlicher Erwachsenenbildung. In: Das Forum, (2), 28–34.

Geißler, Christian (1988): Strukturelle Gestaltungschancen im ländlichen Raum. In: eb-Berichte und Informationen der Erwachsenenbildung in Niedersachsen, 20 (2), 1–4.

Goldhorn, Sebastian, Heen, Dominik, Hermann, Stefanie & Widder, Susann (2012): Das Mehrgenerationenhaus Markranstädt. In: Ulrich Klemm (Hrsg.), Bürgerschaftliche VHS-Arbeit im ländlichen Raum (S. 35–42). Ulm: Klemm+Oelschläger.

Herrenknecht, Albert (1990): Das Dorf in der Region – oder: Steht die Dorfdiskussion vor einem Paradigmenwechsel? In: PRO REGIO, (5/6), 13–19.

Herrenknecht, Albert & Lecke, Detlef (Hrsg.) (1981): Jahrbuch Provinzarbeit 1. München: Verlag der AG SPAK.

Huge, Wolfgang (1988): Metropolen und Provinzen – Weiterbildung auf dem Lande. In: Volkshochschule im Westen, 40 (4), 217–219.

Jakob, Benjamin E. & Stehr, Christopher (2014): Regionalstudie Main-Tauber-Kreis. Heilbronn: German Graduate School of Management and Law (GGS).

Klemm, Ulrich (1986): Plädoyer für eine gemeinwesenorientierte Provinzarbeit– oder: Annäherung an eine neue Land-Andragogik. In: Arbeitshilfen für die Erwachsenenbildung. Ausgabe M, 19, 16–24.

Klemm, Ulrich (1995): Erwachsenenbildung und Regionalentwicklung. Frankfurt am Main: VAS-Verlag für Akademische Schriften.

Klemm, Ulrich (Hrsg.) (2012): Bürgerschaftliche Bildungsarbeit im ländlichen Raum. Ulm: Klemm+Oelschläger.

Klemm, Ulrich & Seitz, Klaus (Hrsg.) (1989): Das Provinzbuch. Bremen: Edition CON. 

Kötter, Herbert (1958): Landbevölkerung im sozialen Wandel. Düsseldorf – Köln: Eugen Diederichs Verlag.

Kramer, Dieter (1989): Hoffnungsträger Provinz? In: PRO REGIO, (3/4), 9-16.

Lindner, Rolf (Hrsg.) (1994): Die Wiederkehr des Regionalen. Frankfurt am Main – New York: Campus.

Rohrmoser, Anton (1994): Kultur in der Eigenständigen Regionalentwicklung. In: vhs Landkreis Kassel (Hrsg.), Dorf: Sozial- und kulturpolitisches Handlungsfeld (S. 22–42). Kassel/Wolfhagen: vhs Landkreis Kassel.

Schmals, Klaus M. & Voigt, Rüdiger (Hrsg.) (1986): Krise ländlicher Lebenswelten. Frankfurt am Main – New York: Campus.

Schratz, Michael (1987): Bildung vor Ort. In: Österreichische Arbeitsgemeinschaft für Eigenständige Regionalentwicklung (ÖAR) (Hrsg.), Peripherie im Aufbruch (S. 104–106). Wien: ÖAR.

Schüttler, Klaus (1990): Region im Dorf – Überregionale Entwicklungspotentiale in Dörfern. In: PRO REGIO, (5/6), 6–12.

Klemm, Ulrich (2021): Ländliche Erwachsenenbildung im Zeitalter der Postmoderne. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Herbst 2021, Heft 274/72. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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