Mythen der Digitalisierung
Mit der plakativen Benennung „Industrie 4.0“ soll ein qualitativer Sprung in der industriellen Entwicklung im Vergleich zu vorangegangenen Veränderungen markiert werden. So vollziehe Industrie 4.0 mit dem Einsatz stark vernetzter „cyber-physischer Systeme“ im Unterschied zur computerunterstützten Automatisierung der Produktion der dritten Stufe bereits die „vierte industrielle Revolution“. Die dritte wiederum unterscheide sich von der durch Massenfertigung und elektrische Einzelantriebe an Fertigungsanlagen gekennzeichneten zweiten wie auch von der durch Mechanisierung und Dampfantrieb charakterisierten ersten industriellen Revolution. (Vgl. Kagermann, Wahlster & Helbig: 2013).
Derartige technikzentrierte Phaseneinteilungen gesellschaftlicher Entwicklung sind eher irreführend als erhellend, da sie mindestens ebenso bedeutsame soziale, organisationale und institutionelle Aspekte ausblenden, wie etwa:
- die horizontale Arbeitsteilung in spezialisierte Verrichtungen,
- die vertikale Trennung von Planung und Ausführung zwecks Koordination,
- die Standardisierung von Produkten und Prozessen oder
- die Wissensteilung.
Damit geraten viel tiefer gehende Vorgänge gesellschaftlichen Wandels aus dem Blick wie etwa der Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft (vgl. Bell: 1975; Drucker: 1994) mit seinen erhöhten Anforderungen an das menschliche Arbeitsvermögen, insbesondere die Fähigkeit zu produktiver Kooperation bei der Genese, Organisation und Anwendung von Wissen.
Die technikzentrierte Perspektive huldigt erneut einem längst widerlegten „Technikdeterminismus“ (Hirsch-Kreinsen & Minssen: 2013, S. 455 f.), demzufolge sich technische Revolutionen nach ihrer Eigenlogik entwickeln und den gesellschaftlichen Wandel bestimmen. Technik wird so zum Treiber gesellschaftlicher Entwicklung erhoben und technische Mittel zur Erfüllung sozialer Zwecke werden selbst in einen sozialen Zweck verkehrt. Verkannt wird dabei, dass die Entwicklung technischer Systeme ihrerseits durch soziale Bedürfnisse und Interessen bestimmt ist: So lassen sich unter der Maske des scheinbar eigengesetzlichen technischen Fortschritts oftmals besondere Interessen verfolgen, etwa in der stets umkämpften Kapitalverwertung vom „Eigensinn lebendiger Arbeit“ unabhängig zu werden. (Vgl. Noble: 1984).
Zur Dynamik der Entfaltung wissensgesellschaftlicher Produktivkräfte
Im Zuge anhaltender Verwissenschaftlichung von Produktion ist für das Verständnis wissensintensiver Arbeit die Dynamik von praktischem Können und kodifiziertem Wissen wesentlich, genauer: die Art und Weise, wie sie einander wechselseitig hervorbringen. Vorgängig ist stets die vorreflexive Handlungskompetenz, das individuell gebundene Können oder Arbeitsvermögen, das sich in Tätigkeiten gelingender sozialer Praxis äußert. Bei einer – wie auch immer – gestörten Praxis lässt sich durch Selbst- oder Fremdbeobachtung explizites, theoretisches Wissen über bestimmte Aspekte praktischen Tätigseins gewinnen. Dieses kodifizierte Wissen bleibt aber ohne Wirkung, solange es nicht zur Verwendung in praktischer Tätigkeit angeeignet und zweckmäßig genutzt wird. Gleiches gilt auch für solches Wissen verkörpernde technische Artefakte (vgl. Brödner: 2010; Grundlegendes zur praxistheoretischen Perspektive bei Reckwitz: 2003; bezüglich Computersystemen siehe Brödner: 2008).
Dieser Dialektik zufolge erfordert produktives Arbeiten und Problemlösen in Prozessen wissensintensiver Wertschöpfung meist, diverse Wissensgebiete zusammenzuführen und unterschiedlich ausgeprägte Arbeitsvermögen in Gestalt selbstorganisierter Kooperation kompetenter Experten zu integrieren. Je differenzierter, komplexer und dynamischer das kodifizierte Produktionswissen und dessen technische Vergegenständlichung, desto anspruchsvolleres Arbeitsvermögen ist gefordert. Dieser Entwicklungsprozess funktioniert nur freiwillig, entzieht sich jeder Anweisung und unterliegt zudem großer Ungewissheit.
Die Ungewissheit wächst noch dadurch, dass Wettbewerb sich zunehmend über Funktionalität und Innovationen statt über Kosten vollzieht und die dadurch gesteigerte Dynamik von Märkten größere funktionale Flexibilität erfordert. Deren Bewältigung stellt wachsende Anforderungen an Können und Erfahrung wie an Reflexions- und Kooperationsfähigkeit. Damit sind – um das Primat der Kapitalverwertung auch im unsicheren Umgang mit Wissen in weitgehend autonomen, sich selbst organisierenden Arbeitsgruppen zu gewährleisten – zugleich auch neue Formen der Kontrolle verbunden: indirekte Steuerung durch Markt- oder Kontextanforderungen anstelle hierarchischer Anweisung und Kontrolle. Darin sind Menschen als Träger des Arbeitsvermögens permanentem Erfolgsdruck ausgesetzt und treiben sich selbst zu Höchstleistungen an, allerdings auf Kosten ihrer Gesundheit und sozialen Beziehungen. So kann sich das immer bedeutsamere Arbeitsvermögen unter den Bedingungen seiner Verausgabung in der Arbeit selbst nicht angemessen entfalten. (Vgl. Peters & Sauer: 2006).
Perspektiven der Gestaltung von Arbeit und Technik
Aus einer technikzentrierten Sichtweise ergeben sich Wirkungen wie die Produktivität von Wertschöpfung oder erforderliche Qualifikationen allein aus der Art und Weise, wie Produktionsprozesse durch passend gestaltete Computerfunktionen und deren kollektive Aneignung neu strukturiert werden. Doch hängt dies wesentlich von der an den jeweiligen Machtressourcen und Interessen orientierten Aufgaben- und Funktionsteilung wie auch von den Interaktionsformen zwischen Mensch und Computer ab. Nicht die Digitalisierung an sich, sondern das mehr oder weniger reibungslose Zusammenspiel von Arbeitsorganisation, handlungskompetenten Menschen und passend gestalteten Computerfunktionen bestimmt das Geschehen und dessen Wirkungen.
Low-Road- versus High-Road-Strategien
Entgegen den technikzentrierten Vorstellungen der computerintegrierten Fertigung (CIM) lässt sich die tatsächliche Veränderungsdynamik der Unternehmensentwicklung der letzten drei Dekaden mittels zweier idealtypisch unterscheidbarer Rationalisierungsstrategien nachzeichnen und verstehen, die beide auf die umfassende Erneuerung ganzer Wertschöpfungsprozesse zielen. Die Unterschiede treten am deutlichsten mit Blick auf die Produktivität als dem Verhältnis von Ertrag zu Aufwand dieser Wertschöpfungsprozesse hervor. Grundsätzlich kann beides – sowohl der Ertrag als auch der Aufwand – durch technisch-organisatorische Arbeitsgestaltung beeinflusst werden.
So gibt es Unternehmen, die hauptsächlich auf Kostenreduzierung setzen. Diese „Low-Road-Strategie“ nutzt vor allem Instrumente wie Lohnsenkung und Personalausdünnung ( Downsizing ) sowie die Auslagerung (Outsourcing ) oder computerisierte Restrukturierung von Prozessen (Reengineering ) mit dem Ziel, durch bloße Aufwandsreduzierung die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern.
Dem steht eine Gruppe höchst erfolgreicher Unternehmen gegenüber, die einer „High-Road-Strategie“ folgen, indem sie die produktiven und innovativen Potenziale im Unternehmen laufend und umfassend auf die kundenorientierte Erneuerung von Produkten und Leistungen ausrichten und damit dauerhafte Wettbewerbsvorteile gewinnen. Für sie steht die Aktivierung und Entfaltung des Arbeitsvermögens, der individuellen wie kollektiven Kompetenzen auf Basis aufgabenintegrierter, kooperativer und selbstgesteuerter Arbeitsprozesse im Vordergrund. Diese nutzen sie, um den Ertrag durch Erschließung neuer Geschäftsfelder auszuweiten, ohne freilich auf erfolgskritische Prozessinnovationen zur Aufwandssenkung zu verzichten. (Vgl. Brödner: 2006).
Zahlreiche empirische Untersuchungen belegen die überlegene Leistungsfähigkeit der High-Road-Unternehmen. In der Regel erzielen sie vergleichsweise mehr Wachstum und um 25 bis 50 Prozent höhere Produktivität, die sie auch in die Lage versetzt, höhere Löhne zu zahlen. Zugleich vermögen sie aus dem Einsatz komplexer Computersysteme höheren Nutzen zu ziehen (z. B. Eurofound: 2011). Zwar verbessern mitunter auch Low-Road-Unternehmen durch Kostensenkung vorübergehend ihre Bilanzen, freilich zulasten von Motivation und umfassender Entfaltung des Arbeitsvermögens. Häufig bleiben sie damit in angestammten Märkten mit traditionellen Produkten ständigem Preiswettbewerb ausgesetzt, der sie stets neu zu Maßnahmen der Kostensenkung zwingt und ihre Lage längerfristig schwächt.
Dies steht ganz im Einklang mit Erkenntnissen der strategischen Managementlehre und ihrer „ressourcenorientierten Sicht auf Unternehmen“, derzufolge durch Entfaltung spezifischer produktiver Kompetenzen einzigartige, schwer nachzuahmende Wettbewerbsvorteile geschaffen werden können. Die sich daraus ergebende überlegene Leistungsfähigkeit wird umso relevanter, je wissensintensiver sich Produkte, Leistungen und Prozesse darstellen und je mehr Unternehmen demzufolge im Wettbewerb um Innovationen mit Unsicherheit zu kämpfen haben. (Vgl. Hamel & Prahalad: 1994; Grant: 1996).
Wenn organisatorische und technische Produktions- und Arbeitsstrukturen geschaffen werden sollen, die eine Mitwirkung lebendiger Arbeit einbeziehen (wie das in Konzepten von Industrie 4.0 mitunter ausdrücklich vorgesehen ist) oder die gar auf die produktive Nutzung und Entfaltung menschlichen Arbeitsvermögens ausgerichtet sind, dann müssen sie auf diesbezügliche Eigenheiten und Bedürfnisse menschlichen Handelns gemäß arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen Rücksicht nehmen. Dazu gehören insbesondere sozial angemessene, lernförderliche Arbeitsaufgaben und gebrauchstauglich gestaltete Artefakte.
Ersatz versus Entfaltung lebendiger Arbeit
In dieser Hinsicht wirft der vorgesehene Einsatz von Multi-Agenten-Systemen (MAS) beträchtliche Probleme auf.
Deren komplexes Verhalten ist zwar deterministisch, aber aufgrund einer Vielzahl äußerer Umstände von der Vorgeschichte abhängig, daher schwer zu verstehen und nicht vorhersehbar. Wie sollen Menschen sich aber solche Systeme aneignen, wie mit ihnen zweckmäßig und zielgerichtet interagieren, wenn diese sich in vergleichbaren Situationen jeweils anders und unerwartet verhalten? Das wäre ein eklatanter Verstoß gegen die Forderung nach erwartungskonformem Verhalten als eines Grundprinzips der Mensch-Maschine-Interaktion. Zugleich würden seitens der Nutzer stets aufs Neue überzogene Erwartungen an die „Handlungsfähigkeit“ der Systeme geschürt. Konfrontiert mit dem Erwartungsdruck erfolgreicher Bewältigung ihrer Aufgaben einerseits und dem Verlust der Kontrolle über Arbeitsmittel mit undurchschaubarem Verhalten andererseits würden sie unter dauerhaften psychischen Belastungen zu leiden haben. (Vgl. Norman: 1994).
Für die soziotechnische Systemgestaltung ist ferner von grundlegender Bedeutung, wie Aufgaben auf die automatischen Systeme und die verbleibenden Menschen verteilt werden. Für diesen wesentlichen Gestaltungsaspekt wurden bereits früh anhand qualifizierter Tätigkeiten in computergestützten Leitstellen fundamentale „Ironien der Automatisierung“ (vgl. Bainbridge: 1983) erkannt, die mit zunehmender Komplexität der technischen Systeme noch an Bedeutung gewinnen: Automatische Systeme wie MAS sollen schwierige Aufgaben möglichst autonom bewältigen; im Störungs- oder Versagensfall der Systeme sind sie aber auf kompetenten menschlichen Eingriff angewiesen. Menschliches Arbeitsvermögen schwindet aber dahin, je weniger es im automatischen Normalbetrieb gebraucht wird. In dieser Situation ist auf längere Sicht ein empfindlicher Verlust praktischer Handlungskompetenz zu verzeichnen, der aus ursprünglich kompetenten Nutzern am Ende hilflose, weil entwöhnte „Bediener“ werden lässt (mit ggf. katastrophalen Folgen; vgl. Carr: 2013).
So stehen für Entwicklung und Gebrauch von Computersystemen in der Produktion als soziotechnischer Gestaltungsaufgabe seit jeher zwei entgegengesetzte Perspektiven im Raum:
Die technikzentrierte AI-Perspektive weitestgehender Automatisierung von Wissensarbeit, wie sie in der Forschung zur „künstlichen Intelligenz“ (Artificial Intelligence) angelegt ist: „smart machines“ und „autonome Agenten“, zu begrenzt lernfähigen MAS vernetzt und mit Big-Data-Methoden kombiniert, sollen menschliches Arbeitsvermögen in der Produktion weitgehend ersetzen und gleichwohl hinreichend flexible Anpassung an wechselnde Anforderungen gewährleisten.
In der praxistheoretisch angeleiteten IA-Perspektive (Intelligence Amplification) menschengerecht und aufgabenangemessen gestalteter, als Werkzeug und Medium angeeigneter und genutzter Computersysteme soll dagegen fortgeschrittene Digitaltechnik die lebendige Arbeit derart unterstützen, dass sich menschliches Arbeitsvermögen zu entfalten, mithin Produktivkraft und Innovationsfähigkeit zu steigern vermögen: „Things that make us smart“. (Norman: 1993).
Aufgrund kümmerlicher praktischer Erfahrungen mit Konzepten „künstlicher Intelligenz“ erscheint die AI-Perspektive wenig Erfolg versprechend, eher als Verschwendung von Ressourcen. Tatsächlich beruht – bei evidenzbasierter Betrachtung – der Erfolg des Einsatzes und Gebrauchs von Computersystemen vor allem auf der praxistheoretisch angeleiteten Perspektive der „Intelligenzverstärkung“, die menschliche Reflexions- und Anpassungsfähigkeit mit maschineller Präzision und Geschwindigkeit verbindet. Dies zu erreichen, erfordert dauerhaft kompetenzerhaltende und lernförderliche Arbeitsaufgaben, durchschau- und beherrschbare, aufgabenangemessene Arbeitsmittel mit erwartungskonformem Verhalten sowie ausreichende Zeitressourcen zur Aneignung der Arbeitsmittel und zur kontinuierlichen Verbesserung.
Schlussfolgerungen für die Qualifizierung
Abschließend bleibt festzuhalten, dass künftige Qualifikationsanforderungen nicht aus neuen technischen Möglichkeiten der Digitalisierung hergeleitet werden können. Vielmehr ergeben sich die Anforderungen aus der Wahl der Unternehmensentwicklungs-Perspektive und der damit verbundenen spezifischen Arbeitsaufgaben und -abläufe wie auch der Eigenschaften der eingesetzten technischen Arbeitsmittel, die alle zweckgemäß aufeinander abgestimmt sein müssen.
In Zeiten fortschreitender Verwissenschaftlichung von Produktion, hoher Innovationsdynamik und Ungewissheit hängt unternehmerische Wettbewerbsfähigkeit mehr denn je von der Kreativität und dem Arbeitsvermögen lebendiger Arbeit ab, wie sie die Entwicklungsperspektive der „Intelligenzverstärkung“ hervorzubringen vermag. Sie aber stellt hohe Anforderungen an breit angelegtes und dauerhaftes berufliches Fachwissen sowie die Befähigung zur Reflexion, Kooperation und partizipativen Gestaltung von Arbeit und Technik als zentralen Elementen zukunftsweisender beruflicher Qualifizierung. //
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