In einem Zeitraum von etwas mehr als zwei Jahrzehnten konnte die Kooperation „Sasia“ („support a school in Africa“, Österreich) und „Nego-com“ („négociation-communication“) eine Vertrauensbasis schaffen, die sich in den Lehrer*innenseminaren von Comè als alljährliche Motivation zur eigenständigen Weiterentwicklung zeigt, die auf Eigenverantwortung, Menschenwürde und Kreativität im Bildungssektor setzt. Zusehends schwindet die vererbte Selffulfilling-Prophecy, die über Jahrhunderte der Kolonialisierung und des exzessiven Sklavenhandels sowie des derzeitigen neokolonialen Raubbaus und Braindrains (Rekrutierung und Abzug der besten Fachkräfte) durch europäische Fremdbeherrschung in Benin jegliche Eigenkapazität durch die Suggestion der Minderwertigkeit zunichtemachte und die vermeintlich allmächtige White-Saviour-Figur als zentralen Punkt allen Wissens glorifizierte. Von den Kolonialherr*innen und den Neokolonialist*innen der Gegenwart erlernte Machtstrukturen, die mit Erniedrigung und Unterdrückung operieren, weichen einer Kollegialität der Wertschätzung.
Bei der Beforschung dieser Entwicklungszusammenarbeit im Rahmen einer Dissertation stand folgende Forschungsfrage im Mittelpunkt:
„Welche pädagogischen Kriterien sollen seitens europäischer EntwicklungskooperatorInnen gegeben sein, um Lehrende des Globalen Südens unter Berücksichtigung ihres Narrativs des Kolonialismus im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit zu ermächtigen, im Sinne einer Pädagogik zur Mündigkeit eigenständig zu agieren (Beispiel Benin)?“
Die diesbezüglichen empirischen Untersuchungen beinhalteten unter anderem auch Interviews mit den beninischen Lehrer*innen, die schon seit Jahren an den pädagogischen, methodisch-didaktischen Lehrer*innenseminaren teilnehmen. Als besonders aufschlussreich erwiesen sich ihre Antworten auf die Frage:
„Was sind deiner Meinung nach unverzichtbare Kriterien für eine nachhaltige Nord-Süd-Kooperation?“
Dazu einige Beispiele ihrer Antworten:
„Die Kriterien, die etabliert sein müssen, sind, dass auf keiner Seite eine Superiorität herrscht, dass Gleichheit gegeben ist.“
„Ich will meine Gefühle nicht verstecken. Am Anfang hatten wir ideologische Probleme, die Methoden zu akzeptieren. Es ist für Afrikaner schwierig, etwas aus Europa anzunehmen. Aber mit dir haben wir versucht, zu modifizieren. Für den Afrikaner ist es normal, jemanden zu blamieren, zu schlagen, wenn er einen Fehler gemacht hat. Wir versuchen auch, die neu erlernten Lösungsstrategien durch Sensibilisierung der Kinder an die Eltern weiterzugeben.“
„Dass du uns zeigst, was man verbessern kann, zum Beispiel in der Kooperation zwischen Schülern, Lehrern und Eltern, alles zum Wohle der Kinder.“
„Ich weiß nicht warum, aber ich hatte immer Angst, Beklemmung, in der Gegenwart von Weißen, aber mit dir habe ich erfahren, dass ich mich umsonst gefürchtet habe. Die Seminare, die du gibst, sind nicht einfach so, dass jemand kommt und Wissen vermittelt, sondern die Methoden sind so, dass sie das Beste aus uns herausholen.“
„Wenn man von Kooperation spricht, muss das eine Win-win-Beziehung sein. Zum Beispiel kann der Süden nicht einfach die Hände in den Schoß legen und erwarten, dass er alles von Europa bekommt, sondern er muss partizipieren. Das ist wichtig. So könnte man gegenseitig die Lebensweisen kennenlernen. Das würde eine Einheit ergeben.“
„Ich hatte nie die Möglichkeit, nach Europa zu reisen, um dort Erfahrungen zu machen, aber man hört einiges aus Erzählungen. Besonders unsere Studenten möchten gerne nach Europa, um zu erfahren, wie sich das Leben dort gestaltet, oder um nach dem Bachelor dort ihre Studien fortzusetzen. Aber ihr Ansuchen wird oft nicht bewilligt.“
Dieser kurze Einblick in die Interviews gewährt bereits die Erkenntnis der wichtigsten
Hauptkriterien für eine nachhaltige Nord-Süd-Kooperation:
- Kommunikation auf Augenhöhe;
- Wertschätzung;
- Respekt und Empathie;
- Authentizität;
- ehrliches Interesse an der Förderung der Kapazitäten und Kompetenzen;
- Offenheit für andere Kulturen und Verzicht auf „Othering“.
Safiye Yildiz, eine Professorin für „Soziale Arbeit“, beschreibt den positiven Effekt durch die Konfrontation mit dem Anderen, dem Fremden, folgendermaßen:
„Wir müssen davon ausgehen, dass die Auseinandersetzung mit dem Fremden eine Aktivität ist, die von der Subjektentwicklung nicht zu trennen ist. Bei der geläufigen Zielsetzung ‚Abbau von Vorurteilen‘ wird davon ausgegangen, dass es einer äußeren Einwirkung bedarf, um ‚falsche Bilder‘ abzubauen, vergleichbar etwa mit einer abzutragenden Mauer. Dabei wird vergessen, dass das Bild vom Fremden und vom Eigenen zwei Seiten derselben Medaille sind, d. h. das eine kann nicht ohne das andere verändert werden.“ (Yildiz: 2009, S. 205);
- Dekoloniale Pädagogik, wie bereits Paulo Freire sie fordert, die nicht auf Befüllen und unreflektierter Wiedergabe („Bankiers-Prinzip“), sondern auf problemformulierender Bildung beruht, die durch kritisch beobachtende Wahrnehmung der Prozesse der umgebenden Welt, Kommunikation der Akteur*innen und Reflexion zu Bewusstseinsbildung und Autonomie führt. (Vgl. Freire: 1970);
- Kontinuität, um eine stabile Vertrauensbasis und Nachhaltigkeit zu garantieren.
Als Grundvoraussetzung für eine langfristige und vertrauensstiftende Kollaboration muss der Praxisbezug, also die tatsächliche Anwendung, dieser Charakteristika fortlaufend evaluiert werden. Etwaige Adaptationen auf der Ebene beider Kooperationspartner*innen sind dabei unverzichtbar, will man eine Win-win-Beziehung erreichen, die einen Beitrag zu einem friedlichen Miteinander in der Weltgesellschaft im Fokus hat.
Neben einer fundierten Aufarbeitung der beschämenden Historie des Kolonialismus, wäre es auch, besonders angesichts der Massenströme von perspektivlosen, illegalen afrikanischen Migrant*innen nach Europa, an der Zeit, nicht nur für eine längst fällige Bildungsförderung in den ehemals kolonialisierten Ländern zu sorgen, sondern auch in Österreich für eine dekoloniale Bildungssprache beziehungsweise eine angemessene Integration dieser Thematik in der Aus- und Fortbildung der Pädagog*innen Sorge zu tragen.
Dabei sind folgende Ziele zu verfolgen:
- Förderung der Empathie für die jedem Menschen innewohnenden Bedürfnisse;
- Dekolonialisierung des Denkens;
- Schärfung des Gerechtigkeitssinnes;
- Praktische Anwendung durch tatsächliche, nachhaltige Nord-Süd-Kooperationen.
Dadurch werden neue Erfahrungen gemacht, neue Erkenntnisse gewonnen, bisher unbekannte, vorurteils-befreite Beziehungen gewonnen; ein Mehrwert, der Persönlichkeitsentwicklung und -entfaltung fördert, hemmende Hindernisse in weltgesellschaftlichen Beziehungen aufbricht und durch persönlich bereichernde Herzensbildung zu friedvoller Begegnung motiviert.
Bereits erprobte konkrete Denk- und Handelsstrategien:
- Bewusstmachung der Unzulässigkeit von jeglichem Eurozentrismus, sowohl an Österreichs Bildungseinrichtungen als auch an solchen des Globalen Südens, um die vorherrschende Hierarchie von Superiorität und Inferiorität durch Gleichwertigkeit, Wertschätzung, Respekt, Würde und faire Kooperation zu ersetzen;
auf der Website „Dekoloniales Wissen – Bridges“ (buildingbridges.space) wird durch die ungeschönte Definition des Begriffes „Eurozentrismus“ die Dringlichkeit einer Gegensteuerung zur vermeintlichen Superiorität Europas unmissverständlich und unaufschiebbar vor Augen geführt.
„Als gedachter Ursprung der Aufklärung, Industrialisierung und der Moderne setzt Europa den Maßstab für moralische, politische, ökonomische, bildungswissenschaftliche und juristische Entwicklungen in der Welt. Zentraler Gedanke des Eurozentrismus ist die Überzeugung, dass die ‚europäische Gesellschaft‘ und die ‚europäische Bevölkerung‘ an der Spitze von Menschenrechten und Zivilität stehen. Diese Perspektive vernachlässigt jedoch komplett die Kehrseite der europäischen Entstehungs- und Gründungsgeschichte: Europäischer Reichtum und die Ausbreitung des Kapitalismus beruhen auf dem Kolonialismus, der Versklavung der Bevölkerungen in Ost- und Westafrika, der Expansion von Plantagenökonomien zur Versorgung des industrialisierten Nordens, dem damit einhergehenden Genozid autochthoner Bevölkerung in den Amerikas und der Gründung von Siedlerkolonien. Entlang dieser historischen Prozesse operiert Eurozentrismus auf der Basis von Rassialisierungen und erschafft dabei soziale Hierarchien.“
- Vermittlung und Austausch von Know-how dienen der Ermächtigung zu eigeninitiativem und verantwortungsvollem Agieren und dürfen weder als Almosen noch als Diktat empfunden werden.
- Fokussierung auf interdisziplinäre Lehrweisen, die globale Zusammenhänge sichtbar machen und das Wohl der gesamten Menschheit und nicht das einzelner Nationen in den Mittelpunkt rücken (Beispiel: „Vom Rohstoff zum Produkt“: Arbeitsbedingungen, politische und ökonomische Interessen, ökologische und gesellschaftliche Auswirkungen).
- Friedenspädagogische Seminare, die interkulturelles Verständnis, Empathie und faire Geschwisterlichkeit fördern.
- Praktischer Einsatz gegen die Ungerechtigkeit und Benachteiligung von Menschen durch sinnstiftendes Fundraising (Beispiel: österreichische Kinder und Jugendliche gestalten – nach einer Sensibilisierung mittels Filmpräsentation, die durch Live-Kommentar aus erster Hand über die Lebensbedingungen Gleichaltriger aufklärt, und anschließender Diskussion – Verkaufsstände, um den Erlös in nachhaltige Entwicklungsstrategien dieses Partnerlandes zu investieren. Hierbei ist darauf zu achten, dass nicht Überlegenheitsgefühle, sondern Gerechtigkeitssinn und Solidarität die Triebfeder sind).
Der Mehrwert solcher Aktivitäten liegt in integraler Persönlichkeitsentfaltung und Schärfung der persönlichen Verantwortung auf beiden Seiten. Rückmeldungen über Einsatz und Erfolg der Investition seitens der Akteure vor Ort ermöglichen auch in Österreich Nachhaltigkeit.
Im Lexikon der Dritten Welt heißt es zu nachhaltiger Pädagogik:
„Die einzuleitenden Reflexionen sollten aber stets zugleich ein Aufruf zum Handeln sein. […] Abgesehen davon, dass der erd- und sozialkundliche Unterricht eine völlig neue Motivationsbasis erhalten würde, wären außerdem wichtige Impulse für die sozialethische Arbeit zu erwarten. Die Krise der sozialethischen Unterweisung besteht gerade darin, dass es an realen Verantwortungsverhältnissen mangelt, die die Kinder ansprechen und die die globale Dimensionierung unserer modernen Lebenseinstellung berücksichtigen. Leider ist die Entwicklungshilfe bisher vorwiegend eine administrative Aktion auf nationaler Ebene geblieben, die ebenso wenig wie die Nachrichten über die Dritte Welt eine Identifikationsbasis für den Einzelnen gewährt.“ (Nohlen: 2002, S. 297).Den Schüler*innen muss also die Möglichkeit gegeben werden, die Realität zu erkennen, wie sie von Dobson und Spivak pragmatisch ausgesprochen wird:
„We are part of the problem and part of the solution.“
„Wir sind Teil des Problems und Teil der Lösung.“ (Dobson & Spivak: o. J., S. 47).
- Schulparlament und politische Bildung fördern zusammen mit interkulturellem Lernen und Friedenspädagogik das anzustrebende demokratische Verständnis und den Perspektivenwechsel auf eine faire Weltgesellschaft.
Der Politikwissenschafter Sigfried Frech gibt einen wertvollen Einblick in didaktische Leitprinzipien.
„Die Schule muss demokratische Grundtugenden im Schulleben und in der Schulstruktur erfahrbar machen. Es geht dabei insbesondere um die gemeinsame Gestaltung des sozialen Miteinander. Die Einstellungen, aus denen sich unsere Demokratie speist, können Kinder und Jugendliche im schulischen Leben lernen und praktizieren: die Achtung vor der Überzeugung anderer, die Bereitschaft, sich in den Beschluss der Mehrheit zu fügen, die Pflicht, die eigene Meinung vorzubringen und für sie einzustehen. Schule muss Räume eröffnen, in denen Formen der formellen und informellen Partizipation […] möglich sind. Wenn auch die Partizipationsmöglichkeiten in der Schule begrenzt sind, ist die Erfahrung von Mitbestimmung eine Grundlegung für die Internalisierung demokratischer Werte.“ (Frech & Windischbauer: 2011, S. 38).
- Kooperative Bildungsreisen der Pädagog-*innen in ein Partnerland des Globalen Südens, um Klima, Lebensbedingungen, Schulalltag, Kultur, Beschwerlichkeiten im Lebensalltag (fehlende Infrastruktur, Komfortverzicht, Ernährungsumstellungen) praktisch zu erleben und so aus erster Hand berichten beziehungsweise die Komplexität fruchtbringender Entwicklungszusammenarbeit begreifen zu können.
Zusammenfassend könnte man die Notwendigkeit der Verankerung einer dekolonialen pädagogischen Kooperation des Globalen Nordens mit dem Globalen Süden im Bildungssystem mit den Worten des Erziehungswissenschafters und Repräsentanten der NGO „Nego-com“, Dr. Jacob Sovoessi, die er in seiner wissenschaftlichen Evaluierung für die oben erwähnte empirische Untersuchung verwendet hat, definieren:
„Eine transformierende Kooperation, orientiert sich an einer gerechteren Welt, in der jedes Individuum nach hervorragender Qualität streben kann, trotz zuweilen geringer Mittel. […] Gemeinsam ist besser als Vormacht! Gemeinsam gestaltet man positiv um! Win-win ist möglich, vorausgesetzt, dass wir keine abwegigen Ziele verfolgen!“
Ebenso erwähnenswert sind die Rückmeldungen von Herrn Prof. Houssou, einem Mitbegründer des privaten Schulkomplexes in Comè, in seiner Evaluierung der kooperativen Lehrerseminare an seiner Schule für die diesbezügliche Dissertation:
„Im Laufe der Seminare konnte man feststellen, dass das Vertrauen die Herzen gewonnen hat. Die Seminare haben die Fähigkeiten der Lehrer verbessert, was sich positiv auf die Resultate der Lernenden auswirkt. […] Die Bereiche, in denen man das höchste Maß an Fortschritt in den Kompetenzen und Kenntnissen feststellt, sind: Kollegialität, respektvoller Umgang mit Schülern und Eltern und Achtung auf Umweltschutz. […] Die erhöhte Konzentration auf eine Pädagogik zu einem selbständigen, würdigen und verantwortungsvollen Leben besteht in der Problemlösung, […] dies geschieht durch richtiges Verhalten, durch richtiges Agieren mittels sorgfältig angewandter Pädagogik.“ //
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