„Lebenslanges Lernen“ wurde in Österreich 2011, motiviert durch Vorarbeiten der Europäischen Union, als gemeinsames Projekt von vier Ministerien (Unterricht, Wissenschaft, Soziales, Wirtschaft) auf den Weg gebracht. Der Name „LLL:2020“ signalisierte die anvisierte Etappe, bis wann gesetzte Bildungsziele – ausgedrückt in „Aktionslinien“ – erreicht sein sollten. Ein Jahrzehnt und einige Reorganisationen innerhalb der Ministerien später ist mit geduldiger Neugier auf allfällige Ergebnisse, Konsequenzen, Veränderungen und Innovationen im Bildungsbereich, die, der damaligen Diktion folgend, „lebensbegleitende Bildung“ betreffen, zu warten. Die österreichische Strategie hatte zwar keine neue Bildungskonzeption beabsichtigt, sondern wollte spezifische Mängel innerhalb der einzelnen Bildungssegmente „reparieren“. Immerhin ein politischer Rahmen, der die Entwicklung des Bildungssystems in Hinblick auf eine Konzeption des „lebenslangen Lernens“ begünstigt hätte. Für Bildungsinstitutionen hätte das neue Konzept bedeutet, bestehende, traditionelle Hierarchien aufzugeben, arbeitsteilig und gleichwertig (!) – z. B. auch hinsichtlich der Ausbildung und Bezahlung der diversen pädagogischen MitarbeiterInnen – Bildungs- und Lernwege zu begleiten. „Hätte“, da inzwischen „lebenslanges Lernen“ bildungspolitisch offensichtlich nicht mehr im Rampenlicht steht.
Wenn es nicht an der naturgemäßen Trägheit und Beharrung etablierter Organisationen liegt, könnte spätestens die Einsicht, welche bildungspolitischen Erfordernisse, z. B. das Herstellen von Gleichwertigkeit bei personellen und finanziellen Ressourcen, zum stillen Versinken und Versenken des Konzepts des „lebenslangen Lernens“ in Österreich beigetragen haben. Oder ist ein 10-Jahres-Erfolgsbericht in Ausarbeitung und kurz vor der Veröffentlichung?
Anders in Deutschland! Die Förderung eines Systems des lebenslangen Lernens wurde dort schon länger mit Unterstützung einer eigenen ministeriellen Abteilung aber auch durch engagierte WissenschaftlerInnen betrieben. Die Bildungsforscher Dieter Nittel und Rudolf Tippelt haben im Rahmen einer umfangreichen Studie die Reaktionen von Bildungsinstitutionen auf das Konzept „lebenslanges Lernen“ erhoben. Hat das Konzept Einfluss und Wirkung auf Erziehungs- und Bildungsinstitutionen, lautet die Fragestellung der „LOEB-Studie – Die Resonanz des lebenslangen Lernens in Organisationen des Erziehungs- und Bildungswesens.“
Die Antwort lässt sich klar geben: Ja, das deutschen Erziehungs- und Bildungswesen wandelt sich zu einem pädagogisch organisierten System des lebenslangen Lernens.
Methodisch resultieren die Erkenntnisse aus der Analyse von Leitbildern und Selbstbeschreibungen von Institutionen, aus Interviews mit ExpertInnen mit leitenden Verantwortlichen sowie aus Gruppendiskussionen mit PraktikerInnen. Die untersuchten Institutionen waren gestreut: Elementarpädagogik, Schulen, Erwachsenenbildung, Soziale Arbeit, Hochschulbereich.
Die Autoren registrieren letztlich einen großformatigen Transformationsprozess als „erster Schritt in die Richtung eines pädagogisch organisierten Systems des lebenslangen Lernens.“ (S. 13).
Zu Beginn des Buches erläutern Nittel und Tippelt den Wechsel der Perspektive von der berufskulturellen zur organisationstheoretischen Betrachtung des lebenslangen Lernens. Wichtig zu untersuchen finden sie, wie einheitsstiftend die Formel „lebenslanges Lernen“ auf das Bildungssystem wirkt, das aufgrund seiner Heterogenität eigentlich widerspricht, ein System zu sein. Lebenslangem Lernen selbst, dem Begriff wird diffuser
Charakter zugeschrieben, kommen drei durchgängige Dimensionen zu (S. 19):
– kontinuierliche Förderung der Lernkompetenz im Lebenslauf;
– parallele Inklusion Lernender in Einrichtungen pädagogischer Arbeitsfelder;
– Reform einzelner Bereiche und Organisationen des pädagogischen Systems des lebenslangen Lernens.
In Anlehnung an Georg Herbert Mead erkennen die Autoren, dass lebenslanges Lernen im Rahmen pädagogischer Organisationen selbst eine Institution darstellt. Ihr methodisches Vorgehen wird ausführlich erklärt und bringt dadurch einen hohen Beispielwert für ähnliche wissenschaftliche Untersuchungen. Die Ergebnisse der Studie werden übersichtlich vorgestellt, die These von der Institutionalisierung des lebenslangen Lernens findet sich bestätigt. Nach einer theoretischen Verdichtung, die für ein „Funktionssystem lebenslanges Lernen“ sensibilisieren soll, werden Konsequenzen für Bildungspolitik und -praxis sowie für weitere Forschungen vorgeschlagen.
Eine wichtige Zielsetzung der Autoren: die Gleichwertigkeit der verschiedenen Segmente im „Bildungssystem“ bildungspolitisch anzuerkennen sowie eine Splittung in Erziehungs- oder Bildungsbereich aufzugeben. Die hohe Dichte von Erziehungs- und Bildungseinrichtungen – den ganzen Lebenslauf begleitend – ist historisch noch nie dagewesen und verlangt nach neuen Begriffen, um diese veränderte Situation zu erfassen. Bildungspolitisch, meinen die Autoren, bedeuten die Ergebnisse der LOEB-Studie den Wettbewerb um Ressourcen zwischen pädagogischen Institutionen zu mindern, um die Menschen während ihrer ganzen Lebensspanne hinsichtlich ihres Bildungsbedarfs adäquat begleiten und betreuen zu können. Letztlich um jedem Mitglied der Gesellschaft ein Recht auf „gutes Leben“ einzuräumen.
Es geht, das ist auch die Herausforderung für Österreich, um eine Neugewichtung personeller und finanzieller Ressourcen, damit diese gleichwertig im Lebenslauf der Individuen, noch dazu in einer „langlebigen Gesellschaft“, zum Einsatz kommen.
Die Studie betrifft die brisante Frage, wie unser Bildungssystem dem aktuellen Bildungs- und Lernbedarf entsprechen und demgemäß transformiert werden kann. Das Buch sollte in der Professionalisierung pädagogisch Tätiger und pädagogisch Verantwortlicher zum Einsatz kommen sowie einen Platz in wissenschaftlichen Bibliotheken erhalten. //
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