Philipp Blom, Homme de Lettres, Publizist, Moderator, Historiker, wählt für seine Überlegungen, wie wir die Zukunft bewältigen können, die Bühne. Genauer gesagt das Welttheater, auf dem sich das Zeitgeschehen abspielt. Noch genauer: Dieser Essay in Buchform entstand zum Anlass des 100. Jubiläums der Salzburger Festspiele. .
Gefühlvoll stimmt der Autor zu Beginn mit Geschichten aus seiner Kindheit und Jugend, also mit Familiengeschichten auf das Thema ein. Er schildert sein Erstaunen, wie er Widersprüche entdeckte, von unterschiedlichen Erzählenden Gegensätzliches zum selben Geschehen hörte und später bemerkte, Historiker schreiben eine andere Geschichte über den Wilden Westen als Karl May.
Fünf kurze Einschübe ordnen das Buch in ebenso viele Kapitel, die jeweils eine narzisstische Kränkung der Menschheit nennen: Erde nicht im Mittelpunkt des Universums und Mensch nicht der der Schöpfung (Galileo Galilei); alle Arten, auch der Mensch, haben gemeinsame Vorfahren (Charles Darwin); nicht nur von Vernunft, sondern von einem Meer des Unbewussten gleitet, agieren Menschen (Sigmund Freud); im Kosmos ist unsere Milchstraße nur ein kleiner Haufen Sterne zwischen Milliarden Galaxien (Edwin Hubble); wie wir die Welt wahrnehmen, welche Bilder wir uns von ihr machen, ist eine lebensnotwendige Fiktion unseres Bewusstseins, bis dieser Film irgendwann abreißt (Philipp Blom).
In den einzelnen Kapiteln erzählt der Historiker in groben Zügen die Geschichte der europäisch-westlichen Kultur. Beginnend mit der kleinen Eiszeit, in deren Folge Hunger und Ernteausfall zu Internationalisierung des Handels, zum Wandel von feudalen zu frühkapitalistischen Formen führte. Die Entwicklung neuer Anbaumethoden, aber auch die Grundlegung wissenschaftlicher Methoden, Aufklärung und Lernen in Schulen und in Universitäten ging vor sich. Die Industrialisierung parallelisiert Blom mit der bis heute geltenden Erzählung vom ständigen Wirtschaftswachstum. Schließlich lenkt er den Blick auf die Phase der Beschleunigung in allen Lebensbereichen, auf die „flüssige Moderne“ („liquid modernity“, Zygmunt Bauman), deren Teil wir sind. Neben der negativen, ausbeuterischen Kraft unserer Gesellschaft entstanden aber auch das Begehren nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, der Kampf um Menschenrechte, Demokratie und Gleichberechtigung.
Doch wir erleben gerade die Gefährdung, dass die Erzählung von Menschenrechten und Gleichheit im Archiv der Geschichte verschwinden könnte. Folgt „Endarkenment“ auf die Phase von „Enlightenment“?, fragt Blom. Auf alle Fälle sollten wir die Kränkung zur Kenntnis nehmen, dass Menschen nicht allein Vernunftwesen, sondern auch, allgemein gesagt, irrational, emotional und unbewusst gesteuert sind; kein, im Sinne der Aufklärer selbst gesteuertes, frei handelndes Vernunftwesen, sondern Teil der und durchdrungen von Natur. Die Geschichte der menschlichen Einzigartigkeit kann aufgegeben werden, die Erzählung vom Menschen als Krone der Schöpfung, als Sinn und Zweck der Welt, dem die Erde untertan ist, ist an sein Ende gekommen. Kann neuer Schwung ins aufgeklärte Denken kommen, um die Zukunft nicht als Verlagerung der Gegenwart, sondern neu zu denken? Blom meint, diese Bühne der gesellschaftlichen Debatte braucht neue Figuren und Geschichten, um neue Wirklichkeiten und Haltungen zu beschreiben und zu stärken.
Das essayistisch verfasste Buch führt leicht lesbar in die Zusammenhänge europäischer Geschichte der letzten 500 Jahre ein. Für ausführlichere wissenschaftlich belegte Argumentation können aber andere Werke Bloms ergänzend gelesen werden. Das Buch empfiehlt sich für historische Reflexionen und angesichts des Klimawandels auch als Anregung, Erzählungen und Menschenbilder unserer Zeit zu prüfen und neu zu erfinden. Blom schließt: „Neue Bilder zu finden für diese Herausforderung ist das Friedensprojekt der Gegenwart. Alles andere folgt.“ (S. 121). //
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