1. Bildung zwischen Wunsch und Wirklichkeit –
„Die Schule im Transitquartier“ als Ermöglichungsraum individueller Bildungszugänge
Der Erfolg der ehrenamtlichen Bildungsinitiative „Die Schule im Transitquartier“ (Projektbeschreibung Ausgabe 269 der ÖVH), begründete sich größtenteils auf dem Nichtvorhandensein von regelmäßigen, wiederkehrenden, offenen Bildungsangeboten für flüchtende Menschen vor Ort im Sammelquartier. Dadurch, dass Sammelquartiere generell nicht als Bildungs-, sondern als Versorgungsräume für Menschen auf der Flucht installiert wurden und die humanitäre Hilfe berechtigterweise im Vordergrund steht, ergab sich neben der Fülle an Versorgungsmöglichkeiten der Menschen mit Kleidung, Medizin und Nahrung eine Versorgungslücke in Sachen Bildung und intellektueller Beschäftigung.
Viele der ankommenden Menschen verweilten bis zu sechs Monate in der Sammelunterkunft und benötigten mit voranschreitender Verweildauer im Quartier Beschäftigung in Form niederschwelliger und regelmäßiger Bildungsformate zum Kompetenzaufbau und Zeitvertreib. Eben diese Niederschwelligkeit und die nicht-selektive Ausrichtung des Bildungszuganges waren es, weshalb interessierte Flüchtende freiwillig und zu fast jeder Zeit des Tages an der Bildungszusammenarbeit partizipieren und gestaltend mitwirken konnten. Ihre im Heimatland erworbenen Kompetenzen, individuellen Fluchtgeschichten oder auf der Flucht entwickelten Überlebensstrategien fanden respektierten Platz in der Planung, Reflexion oder Ausrichtung von Bildungsinhalten.
Trotz aller Euphorie, mit der den täglichen Bildungsangeboten begegnet wurde, erschwerten die beengten Platzkapazitäten, das laute und unruhige Umfeld und die stark eingeschränkten materiellen Ressourcen die Bildungszugänge für jene Menschen, die zum Lernen und konstruktiven Austausch eher geordnete, ruhige und überschaubare Strukturen benötigen. Für diese Gruppe der Lernerinnen und Lerner wurden Angebote abseits der unruhigen Stoßzeiten im Transitquartier installiert, und zwar frühmorgens oder spätabends.
Fotos: Bildungszentrale
2. Bildung aktiv mitgestalten –
aus Zusammenarbeiten wird Zusammenwirken
Die Handlungsfelder der partizipativen, interessengeleiteten Bildungszusammenarbeit der Menschen vor Ort bezogen sich auf sämtliche, an den Bildungsangeboten interessierte Personen, wobei kein selektiver Unterschied gemacht wurde in der Wahrnehmung von „Flüchtenden“, „Helfenden“ oder „Unterrichtenden“.
Die fünf Handlungsfelder der Bildungszusammenarbeit vor Ort setzten sich wie folgt zusammen:
- interaktives und gleichberechtigtes Design der Bildungsangebote;
- Gleichberechtigung aller im Sammelquartier gesprochenen Sprachen;
- individuelle Transitionsprozesse und Grenzerfahrungen auf der Flucht,
- gelebte Inklusion im Sammelquartier;
- Bildungspartnerinnen und -partner als Bildungsteam.
Das Transitquartier entwickelte sich entlang dieser fünf Parameter zu einem Ermöglichungsraum individuell gestalteter und wahrgenommener Bildungszugänge, in dem die individuellen Kompetenzen der Menschen gleichberechtigt und aktiv sichtbar gemacht wurden, sofern dies von den Protagonistinnen und Protagonisten gewünscht und gewollt war. Ziel der täglichen, interaktiven Bildungsinitiativen war die bestmögliche Verankerung selbstgewählter Bildungsinhalte in der Community vor Ort und die Verlagerung menschlicher Kompetenzen von der Unsichtbarkeit in die Sichtbarkeit. Strategien zur Sichtbarmachung eines inklusiven Kompetenzbegriffes fanden sich in verbildlichter Sprache, interaktiven Musik- und Tanzaktivitäten, Theaterpädagogik oder im geschriebenen, gesprochenen bzw. vernommenen Wort wieder.
2.1 Bildungserfolge durch offene und personalisierte Lernstrukturen
Sowohl das Team der ehrenamtlich Helfenden als auch sämtliche, an den Bildungsangeboten Partizipierenden, nutzten den offenen Bildungsraum als Plattform interessengeleiteten, non-formalen und informellen Lernens. Dadurch war es sowohl Helfenden als auch Adressatinnen und Adressaten der Bildungsangebote möglich, die Bildung vor Ort durch individuelles Zutun mitzugestalten. Dieses partizipative Element unkonventioneller Bildungszugänge, fungierte als Motivator der Integration vorherrschender Lokalitäts-, Bedarfs- und Bedürfnisbezüge in subjektive Rahmenbedingungen und Gelingensmomente persönlichen Lernens. Personalisierte Lernstrukturen wurden infolgedessen materiell und immateriell gestaltet, durch mobile Raumteiler, interaktive Plakatwände, Bewegungs- und Kreativmaterial, durch Zeit und Raum für Gespräche und Nachfragen sowie durch strukturierte Bildungsangebote oder nicht zeitgebundene Lerninhalte.
Auf diese Weise stellten sich bei den Bildungspartnerinnen und -partnern rasche Bildungserfolge ein, weil der ungezwungene Charakter im selbstbildsamen Austausch über situationale, ko-konstruktive Momente gemeinsamen Sich-Bildens als Motivator für die Menschen im Transitquartier fungierte und anfangs desinteressierte, zögerliche oder abwehrende Zugänge zum Bildungsraum rasch entkräftete. Die Offenheit im Bildungszugang ließ einem möglichen selektiven Wettbewerbscharakter der Lernenden untereinander keinen Platz, im Gegenteil: Durch das Hinzuziehen der Expertise und der Kompetenzen der Flüchtenden zum Ausgestalten des Bildungsdesigns wurden personenbezogene Bildungsfortschritte gemeinsam wahrgenommen, unterstützt und in ihrem Erfolg wertgeschätzt. Die Gleichung, dass der Bildungserfolg der Bildungspartnerinnen und -partner gleichsam der Erfolg des gesamten Bildungsteams war, rechnete sich und brachte immer mehr Involvement der Community in die gemeinsam wahrgenommenen und gestalteten Bildungsprozesse.
2.2 Die ganze Welt trifft sich in der Bildungsecke
Für den strukturierten Aufbau erster Kenntnisse über die neue Sprache Deutsch oder über Besonderheiten der Lebenswelten der Menschen im Aufnahmeland fungierte die offen gehaltene Bildungsecke als Orientierung und Anker im niederschwelligen Bildungszugang der Flüchtenden. Vor allem bei Neuankommenden half die örtlich etwas abgelegene Bildungsecke, die übersichtlich und interaktiv strukturiert und gestaltet war, dabei, ungestört Erstkontakt mit Sprache, Kultur und Bildungsauffassung im Aufnahmeland herzustellen. Somit herrschte in der Bildungsecke trotz ihrer teilweisen Abgeschiedenheit reges Kommen und Gehen; sie war transkultureller Treffpunkt all jener Menschen, die die Ecke als Rückzugs-, Ruhe- und Bildungsmöglichkeit benötigten.
Fotos: Bildungszentrale
3. Bildung und Zugehörigkeit –
„ … weil alle gehen in die Schule …“
Interessengeleitete, non-formale oder informelle Bildungsprozesse als ortsunabhängige Bildungsvariablen erweiterten die bildungsbezogenen Selbstmanagementkompetenzen der Adressatinnen und Adressaten ungemein. Neben der Abwechslung im Quartieralltag, welche die täglichen Bildungsangebote mit sich brachten, konnte eine zunehmende Bereitschaft erkannt werden, an den Bildungsangeboten deshalb zu partizipieren, weil Bekannte, Freundinnen und Freunde ebenso daran teilnahmen. Die Begründung vieler Teilnehmenden „(…) weil alle in die Schule gehen“ würden, eröffnete einen regen Zulauf zu den Bildungsangeboten. Neben intrinsischen Motivatoren waren es vor allem sozial evozierte, externale Faktoren für die Teilnahme an den Angeboten.
Gründe für die Teilnahme an den niederschwelligen Bildungsangeboten sowie an der Mitgestaltung dieser, waren durch Moral und Werte, sozial-emotional, arbeits- und beschäftigungsbezogen motiviert (vgl. Abb. 1):
- Verbundenheit und Anteilnahme untereinander.
- Hohes Verantwortungsgefühl für Kinder und Jugendliche.
- Vorbildwirkung für Kinder und Jugendliche.
- Ermöglichung gleicher Bildungszugänge vor Ort.
- Ermächtigung und Selbstwirksamkeit.
- Sinnvolle Abwechslung im Quartieralltag.
- Erfüllen von familiären und gesellschaftlichen Erwartungen.
- Wahrnehmen von Bildung als Menschenrecht.
- Bedürfnis nach beruflichem und/oder persönlichem Erfolg.
- Ablenkung.
- Vergnügen und Spaß am Austausch.
- Gestaltungswunsch (Bildung mitgestalten können).
- Interesse.
Die im Transitquartier temporär eingegangenen Beziehungsstrukturen der Menschen untereinander bewirkten bei ihnen einerseits eine hohe Verbundenheit in der Wahrnehmung gemeinsamer Aktivitäten. Andererseits spielte vor allem bei den Erwachsenen die Tendenz zu hohem Verantwortungsgefühl für ihre Kinder, gepaart mit Vorbildwirkung für Kinder und Jugendliche eine große Rolle, weshalb sowohl Männer als auch Frauen an den Bildungssettings teilnahmen. Der Umstand, dass Kinder und Jugendliche über Monate hinweg keiner strukturierten, reglementierten Bildung nachgehen konnten, veranlasste die Menschen dazu, in Bildung zu investieren und auch selbst einen aktiven Teil dazu beitragen zu wollen. Das vielfältige, interaktiv gestaltete Bildungsangebot vor Ort wurde maßgeblich durch die Community getragen, in seiner Struktur unterstützt und am Leben erhalten. Das Verständnis von Bildung als grundlegendes Menschenrecht, unterstützte die Community in ihrer Lernraumgestaltung dabei, vor Ort chancengerechte Bildungszugänge sowohl für Kinder, Jugendliche als auch Erwachsene zu schaffen. Sowohl Männer als auch Frauen nahmen gleichermaßen an den Angeboten teil und gestalteten sie durch ihre eingebrachten Kenntnisse aktiv mit. Jene Frauen und Mädchen, die in Abwesenheit von Männern lernen und sich austauschen wollten, hatten die Möglichkeit, eigens dafür installierte, strukturierte Bildungssettings zu nützen.
3.1 Abwechslung versus Monotonie
Da Bildungsprozesse stark von Personen, Lebenssituationen, Sachverhalten, Interesse an den angebotenen Aktivitäten und Interaktionen mit Mitmenschen abhängen, verstand sich der interaktive Bildungsraum als Begegnungszone in Sachen Bildung, die im Alltag des Transitquartiers abwechslungsreiche Alternativen bot. Bildung war – neben Handlungen wie Rauchen, Spazieren gehen, Kartenspielen, Essen, Sitzen und Beobachten, Schlafen und Kinderbeaufsichtigen – eine willkommene Abwechslung in der Alltagsgestaltung. Vor allem schuf die Bildungspartnerschaft im Transitquartier neben der Strukturierung des Alltags auch die Möglichkeit der Kontaktaufnahme zu anderen Mitgliedern der Community, mit denen man sonst weniger Verbindung hatte. Für Jugendliche wiederum waren die Bildungsaktivitäten Übungsfläche für soziales Verhalten, für das Knüpfen von Freundschaften sowie für Gespräche zwischen Mädchen und Burschen. Kinder nahmen zwar auf Wunsch ihrer Eltern an den speziell für sie konzipierten Bildungsangeboten teil; dabei bot sich für sie aber eine offene Plattform für ausgelassene Spiele und freundschaftlichen Austausch, sie nahmen also gerne freiwillig teil. Zudem bot sich für sie eine Übungsfläche zum Aufbau sozialer Kompetenzen wie Hilfsbereitschaft, Frustrationstoleranz, Problemlösungs- und Kommunikationskompetenz, Empathie, Erfolgsempfinden und Geduld.
3.2 Selbstermächtigung und Selbstwirksamkeit
Selbstwirksamkeitserfahrungen in der Gestaltung der Bildungsangebote sowie im Weitertragen von berufsständischen Kompetenzen und Einbringen eigener Ideen, motivierte immer mehr Erwachsene dazu, Kinder und Jugendliche in ihrem Lernen zu begleiten, ihnen Coaches und Mentoren zu sein und dadurch auch selbst zu lernen. Damit einher ging das Verlangen nach Anerkennung und Sinnhaftigkeit von nachhaltigen Bildungsaktivitäten sowie nach der sinnvollen Investition in kindliche und erwachsene Bildungsbiographien.
Neben der hohen sozialen Verantwortung, die die erwachsene Community für sich selbst übernahm, übernahmen wiederum Kinder und Jugendliche die Rolle der Motivatoren und Bildungs-Ermutiger, sofern sie auf Erwachsene trafen, die kein genuines Interesse an den Bildungsangeboten hatten. Durch die anteilnehmende und motivierende Vorbildwirkung der Kinder entstand eine inspirierende und verantwortungsvolle Soziodynamik, wodurch Bildung als verbindendes Gruppenerlebnis erlebt wurde. Zudem motivierte die interessierte Haltung der Kinder etliche Erwachsene dazu, an den Bildungsangeboten mitzumachen, um die Kinder in ihrer Euphorie nicht zu enttäuschen. Diese Beobachtung zeigt deutlich den Beziehungs- und sozialen Motivationscharakter erfolgreicher Bildungsprozesse sowie das Zugehörigkeitsgefühl, das sich im Sinne gemeinsam erlebter Bildungserfahrungen und -erfolge in der Bildungscommunity ausdehnt und intensiviert.
Abbildung 1: Gründe für die Teilnahme an der Bildungszusammenarbeit
4. Fazit und Ausblick –
der Sprung ins kalte Wasser hat sich gelohnt
Aufgrund ihres humanitär-versorgenden Charakters bieten Sammelunterkünfte in den seltensten Fällen eine inklusiv gelebte, ressourcenorientierte Bildungszusammenarbeit für flüchtende Menschen vor Ort. Die medizinische und körperliche Versorgung im Quartier steht klarerweise im Vordergrund. Darüberhinaus auch Bildung als Versorgungsgut flüchtender Menschen im humanistischen Sinn anzuerkennen entspricht einer demokratischen, menschenrechtlichen Verpflichtung, die über (sozial-)pädagogische Bildungsinitiativen niederschwellig, und gerade deshalb hocheffektiv verwirklicht werden kann.
Im Falle der „Schule im Transitquartier“ hat sich der strukturelle, logistische, personelle und idealistische Aufwand mehr als gelohnt. Im Laufe der sieben Monate, in denen die Bildungsinitiative betrieben und vorangetrieben wurde, erhielten um die 1000 bis 1500 Menschen regelmäßig Bildungsmöglichkeiten. Da der Bildungsturnus an sieben Tagen die Woche für zirka zehn Stunden am Tag rotierte, konnte eine flächen- und bedürfnisdeckende Versorgung mit Bildungsinhalten gewährleistet werden.
Bildungszeit und Bildungsziele orientierten sich flexibel an der Zielgruppe, die sich mit Interesse an den Bildungsangeboten beteiligte. Die anfängliche Skepsis bei manchen Adressatinnen und Adressaten sowie die Ehrenamtlichkeit und das damit verbundene, anfängliche Fehlen von Bildungsmaterial konnten rasch behoben werden. Neben Sachspenden aus der Bevölkerung entwickelten sich vor Ort kreative Varianten, Bildung zu verbreiten, sie sichtbar zu machen und für die interessierte Community in der Sammelunterkunft Zugänge zu schaffen.
Abschließend kann resümiert werden, dass interaktive Bildungsinitiativen, neben Enthusiasmus und dem Glauben an den Erfolg und die Sinnhaftigkeit der Angebote vor allem die aktive Mitarbeit sämtlicher Mitmenschen vor Ort benötigen, die sich durch die Bildungsarbeit angesprochen fühlen. Dabei soll unbedingt auf sämtliche Kompetenzen und Humanressourcen der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen zurückgegriffen werden, da sie der Garant für adressatengerechte, bedürfnisorientierte Bildungszusammenarbeit sind. Eine anerkennende, ressourcenorientierte Begegnung des Bildungsteams untereinander ist ein zentraler Baustein für eine transkulturelle Bildungsauffassung, die neben der Selbstbildung vor allem die Qualitätsanhebung im diversitätsbewussten Miteinander als Meilenstein gelingender Inklusion anerkennt. //
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