Ein „geborener Lehrer“
Otto Glöckel
Foto: Georg Fayer/ÖNB
Otto Glöckels Wiege stand in einem alten Schulhaus im niederösterreichischen Pottendorf, wo er am 8. Februar 1874 als Sohn eines Unterlehrers geboren wurde. Das Schulleben mit all seinen pädagogischen Herausforderungen und Freuden, aber auch mit all seiner damaligen materiellen Dürftigkeit, Kargheit und Sorge war im damit quasi in die Wiege gelegt – und auch sein ganzes Leben lang blieb er dem Schulwesen eng verbunden.
Nach der fünfjährigen Volksschule und der dreijährigen Bürgerschule in Pottendorf studierte er an der Wiener Neustädter Lehrerbildungsanstalt und wurde provisorischer Unterlehrer in Wien. Die pulsierende, zu jener Zeit bevölkerungsmäßig extrem wachsende Reichshaupt- und Residenzstadt war geprägt von enormen gesellschaftlichen Gegensätzen zwischen großem Reichtum und bitterer Armut, was sich auch in den Schulen der Stadt als Spiegel der Gesellschaft niederschlug. Neben privilegierten Eliteinstituten für den Adel und das gehobene Bürgertum gab es in den Arbeiterbezirken Schulen mit Klassen von bis zu 60 Kindern, viele davon Repetenten. Kinder kamen verwahrlost und hungrig in die Schule und schliefen während des Unterrichts ein, weil sie arbeiten gehen mussten. Aber wie soll der Kopf arbeiten, wenn Magen und Müdigkeit einen daran hindern?
Zum Schülerelend trat das Lehrerelend. Die gedrückteste Kategorie war jene der Unterlehrer. Sie standen unter klerikaler Bevormundung und hatten keinen Anspruch auf eine feste Anstellung. Als „pädagogische Taglöhner“ wurden ihnen nur die tatsächlich gehaltenen Unterrichtsstunden honoriert. Den hungernden Schulkindern waren also hungernde Lehrer zugesellt.
Vor 1869 waren die Klerikalen die unumschränkten Herren der Schule. Die Ortspfarrer waren die Schulinspektoren und die Lehrer ihre Bediensteten, die ihnen in der Kirche als Messner zur Hand gingen. Mit dem liberalen Reichsvolksschulgesetz vom 14. Mai 1869 wurde die staatliche Schulaufsicht, die achtjährige Unterrichtspflicht sowie der Realienunterricht mit den Unterrichtsgegenständen Geografie, Geschichte, Naturgeschichte und Naturkunde eingeführt. Damit erlitt der Klerikalismus im Schulwesen eine empfindliche Niederlage. Umso heftiger bekämpfte er das neue Gesetz. Der christlichsoziale Wiener Bürgermeister Karl Lueger und sein Schulreferent Albert Gessmann versuchten auf dem Verordnungsweg das Schulwesen in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Christlichsozialen führten das mehrfache tägliche Schulgebet ein und nötigten die Kinder zur Teilnahme an Bittprozessionen. Im Ortsschulrat gaben sie dem Pfarrer eine Virilstimme und zitierten unbotmäßige Lehrer vor die Disziplinarkommission.
Zu den religiösen Übungen zählten sie neben dem Schulgebet auch den Kirchgang, Prozessionen und die Beichte. Zwar hält der Artikel 14 des Staatsgrundgesetzes vom 21. Dezember 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger neben der Gewährleistung der vollen Glaubens- und Gewissensfreiheit fest, dass niemand zu einer kirchlichen Handlung oder zur Teilnahme an einer kirchlichen Feierlichkeit gezwungen werden kann. Doch die Bischöfe erklärten die religiösen Übungen zu einem Bestandteil des Religionsunterrichts, woraus die Verpflichtung abgeleitet wurde, dass jedes katholische Schulkind zur Teilnahme an den religiösen Übungen gezwungen werden konnte. Dies war für Glöckel nicht nur ungesetzlich, sondern auch unsittlich und stieß seitens der Sozialdemokraten, aber auch seitens der Liberalen und Deutschnationalen auf schärfsten Widerstand.
Die Schule soll die Menschen für ihre Aufgaben im Diesseits vorbereiten, die Kirche die Menschen auf das Jenseits. Für Glöckel waren das zwei ganz verschiedene Ziele, die miteinander nichts zu tun hatten. Daher forderte er die strenge Trennung von Kirche und Schule, was auch das einzige Mittel sei, der Schule die Möglichkeit einer ruhigen Entwicklung zu gewährleisten: Volle Freiheit für die Kirche und volle Freiheit für die Schule – und in der Schule sollte die Wahrheit und nichts als die reine, rücksichtslose Wahrheit ihre Heimstätte finden.
In den beginnenden 1890er-Jahren schloss sich ein Kreis von unzufriedenen Unterlehrern um Karl Seitz und Otto Glöckel als erbitterte Ankläger gegen die klerikalen und sozial unwürdigen Schulverhältnisse zur Lehrerorganisation der „Jungen“ zusammen. Sie waren kampfentschlossen und hatten eine klare Zielsetzung. Sie stellten politische Forderungen auf, vertraten diese auf Versammlungen und gründeten als ihr öffentliches Sprachrohr die Zeitschrift „Freie Lehrerstimme“. So gelang es den „Jungen“, ihre Lehrervertreter in den Wiener Bezirksschulrat zu entsenden. Programmatisch schufen sie 1898 ihr eigenes Schulprogramm, und organisatorisch den Zentralverein der Wiener Lehrerschaft, in dem sich die freisinnigen Lehrer Wiens sammelten.
Der Kulturkampf für und wider der Rekonfessionalisierung der Schule war voll entbrannt. Die christlichsoziale Schulverwaltung reagierte auf die Widerstände der freisinnigen Lehrerschaft prompt und scharf: mit Disziplinaruntersuchungen, Versetzungen, der Sperrung bei Vorrückungen und mit Entlassungen aus dem Schuldienst. 1897 wurde Otto Glöckel vom Schuldienst suspendiert, was ihn persönlich tief traf. Ohne Aussicht auf eine Wiedereinstellung an einem anderen Ort war er gezwungen, sich um einen anderen Beruf umzusehen, den er in der Arbeiter-Krankenkasse und später in der Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt fand.
Aber sein – wie er es nannte – Lehrerblut begann sich bald zu regen, und da ihm der Schuldienst verwehrt war, wirkte er als Volksbildner im Bereich der Arbeiterbildung. Statt vor übermüdeten und hungrigen Schülerinnen und Schülern aus dem Proletariat stand er nun vor Weißhaarigen, aber auch vor jungen Metallarbeitern, Schuhmachern, Porzellanmalern und vor Arbeiterinnen, die zwar abgearbeitet, aber immer pünktlich zu den Abendkursen der Arbeiterbildungsvereine und der Gewerkschaften erschienen und sich an den Gasthaustischen der Hinterzimmer, aber auch in Kellerräumlichkeiten, mit Fleiß und Ausdauer redlich abmühten: „So begann also auch für die Sozialdemokraten der Aufstieg in den Katakomben“2 – so Glöckel – und für ihn selbst die Annäherung an die sozialdemokratische Arbeiterpartei. 1906 kandidierte er bei den Wiener Gemeinderatswahlen und 1907 bei den Reichsratswahlen, bei denen er einen Sitz im Wiener Parlament errang, dem er von 1907 bis 1934 als Parlamentarier ununterbrochen angehörte.
„Das Tor der Zukunft“
Als Referent für Schulfragen innerhalb der sozialdemokratischen Arbeiterpartei wusste Glöckel, dass der Schulkampf auch ein sozialer Befreiungskampf war.
Inmitten einer versinkenden Welt – inmitten von Geschützdonner und einem Meer von Tränen – stellte Otto Glöckel am 7. Jänner 1917 anlässlich der Jahreshauptversammlung des Vereins „Freie Schule“ im Wiener Konzerthaus ein Reformprogramm für Unterricht und Erziehung vor, mit dem Arbeiter und Bürger, Väter und Mütter, Lehrer und Schulkinder durch das Tor der Zukunft in eine Welt mit einer erneuerten Bildung treten sollten.
Zu jener Zeit requirierte die Militärverwaltung Schulgebäude für Lazarette. Über Monate hinweg waren Schulen wegen Kohlenmangels gesperrt. Väter und Lehrer wurden in den Krieg eingezogen, halbe Kinder an die Front geschickt. Die Kinderarbeit vermehrte sich während des Krieges ebenso rasant, wie die Unterernährung. Die Kriegskinder waren aber nicht nur körperlich, sondern auch geistig und sittlich unterernährt.
Diese verheerende, kriegsbedingte Schulverelendung war für Glöckel ein moralischer Anstoß zur Sühne für das, was die Generation der Erwachsenen an der Menschheit und der zukünftigen Generation verbrochen hat: Die Schule müsse in erster Linie wieder eine Erziehungsstätte für das Kind sein, es dürfe kein hungerndes, frierendes oder erwerbstätiges Schulkind mehr geben, und hinweg mit den sogenannten „Schulbesuchserleichterungen“, welche die gesetzlich festgelegte achtjährige Unterrichtspflicht zu einer sechs- oder siebenjährigen herabdrückten. Glöckel forderte eine einfache und übersichtliche Schulorganisation und die volle Unentgeltlichkeit des Unterrichts. Die Entscheidung über das weitere Studium sollte erst nach dem 14. Lebensjahr erfolgen, daher war ihm der Ruf nach einer „Einheitsschule“ berechtigt. Für jede Begabung sollte es den richtigen Weg geben. Nicht der Umfang des Stoffes, sondern wie dieser zum geistigen Eigentum des Kindes werde, sei das Entscheidende. Die Schule müsse die Lernfreudigkeit fördern, zur Achtung vor der Arbeit erziehen und die Kinder mit sozialem Gefühl erfüllen. Dazu brauche es einen berufsfreudigen und unabhängigen Lehrerstand, der – sorgfältig vorgebildet – in einer Klasse mit geringer Schülerzahl zum Freund und Führer der Jugend werde, so Glöckel.
Für den Bürokraten sei das Kind bloß Aktenmaterial, für den Geistlichen eine Seele und für den taglöhnenden Schulmeister ein Mittel zum Erwerb. Das Kind soll aber die Erfüllung unserer Hoffnungen und Wünsche sein. Dafür müsse das ganze Volk zum Träger der großen, bedeutungsvollen Idee werden: Das Volk selbst muss die Schulreform erkämpfen und sich zum geistigen Eigentum machen. Die Versammlung war ein großer Erfolg, die Zeitungen berichteten ausführlich, auch wenn die Streitschrift „Das Tor der Zukunft“, in der die Kernaussagen und Forderungen des Vortrags zusammengefasst waren, von der Kriegszensur arg zerzaust wurde.3
Schulreform
Nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie war vieles möglich geworden, was man vor dem Krieg für unmöglich gehalten hatte. Mit der Ablöse des habsburgischen Obrigkeitsstaats durch die parlamentarische Demokratie änderte sich das Verhältnis zur Schule und zur Frage der allgemeinen Volksbildung grundlegend. Sollten die Kinder der Monarchie zu demütigen Untertanen des Herrschergeschlechts erzogen werden, die auch an die Mission der Herrschenden glaubten, so sollen die Kinder der Republik zu mündigen demokratischen Staatsbürgern erzogen werden.
Basis des Schulwesens der Monarchie war die fünfklassige Volksschule. Der Sekundarbereich gliederte sich in die Oberstufe der Volksschule als dreijährig Pflichtschule beziehungsweise in die dreijährige Bürgerschule für die praktische Berufsvorbildung des Bürgerstandes. Nach dem vierten beziehungsweise fünften Volksschuljahr war der Übertritt in das achtjährige Gymnasium, in das Realgymnasium oder in die siebenklassige Realschule möglich, die zur Hochschulreife führten, sowie in die sechsklassigen Mädchenlyzeen, die Mädchenfortbildungsschulen und die höheren Töchterschulen.
„Das Schulwesen aber ist, und bleibet allzeit ein Politikum“ – das wusste nicht nur Maria Theresia, sondern das ist auch in republikanischen Zeiten so, in der die Schule zum ideologischen Kampfplatz der politischen Parteien – vor allem zwischen Sozialdemoraten und Christlichsozialen – wurde.
Erste sozialdemokratische Forderung auf dem Gebiet der Schulreform war die „Beseitigung des Bildungsprivilegs“. Das Bildungsprivileg der oberen Schichten mit seiner möglichst frühen Separation der Unterschichtenjugend von jener der Besitzenden war eine soziale Auslese auf Kosten der Arbeiter- und Bauernschaft und diente als Stütze der alten Herrschaftsverhältnisse. Der den Proletariern verwehrte Zutritt zu den höheren Schulen versperrte ihnen die Möglichkeit eines sozialen Aufstiegs. Während der Monarchie hatten es die Herrschenden ausgezeichnet verstanden, ihre Vorherrschaft durch das Bildungsprivileg zu stützen. In einem demokratischen Staat muss zum gleichen politischen Recht der Erwachsenen das gleiche Recht auf Ausbildung der Jugend treten: „Der Anspruch, eine höhere Schule zu besuchen, darf nur von den Fähigkeiten des Kindes abhängig gemacht werden“4 – also nur vom Leistungsprinzip, ein für Glöckel selbstverständliches „Prinzip der Demokratie“.
Nicht vor dem Prinzip der Privilegien, sondern vor dem Prinzip der Leistung aus eigener Kraft und Mühe soll die Schuljugend den Hut ziehen. Damit lehnte sich Otto Glöckel an die Prinzipien des deutschen Philosophen, Sozialpädagogen, Neukantianer und „ethischen Sozialisten“ Paul Natorp an, für den die Forderung nach einer „Einheitsschule“ nicht im Sinne einer mechanischen Gleichmacherei didaktischer Prozesse zu verstehen sei. Das Bildungswesen sollte vielmehr so organisiert sein, dass seine Differenzierung nicht von den finanziellen Möglichkeiten oder dem Ehrgeiz der Eltern abhängt. Ausgehend allein von den Fähigkeiten des Kindes, sollte nicht unterschiedslos von allen das Gleiche gefordert, wohl aber allen die gleichen Möglichkeiten geboten werden. Diese Eingebettetheit der Glöckelschen Reformideen in die bürgerliche deutsche Reformpädagogik zeigt sich auch in ihren Bezügen zur Arbeitsschulpädagogik Georg Kerschensteiners, die mit ihren Prinzipien der Selbsttätigkeit der Schüler und einer „Pädagogik vom Kinde aus“ für die Lebensnähe des Unterrichts und den Gesamtunterricht eintrat. Auch die Forderungen nach der Trennung von Staat und Kirche, der Begrenzung der Schülerhöchstzahl pro Klasse, dem Züchtigungsverbot gegenüber Schülerinnen und Schülern sowie der generellen Demokratisierung des Schulwesens entsprachen liberalen Erziehungsidealen. Auf diesen bürgerlichen Reformvorstellungen konnte eine sozialdemokratische Schulreform aufbauen.
In der konkreten politischen Konstellation nach 1918 war primär die Sozialdemokratie Anreger, Träger und auch Verteidiger der Schulreform in Österreich: „Noch lange ist die kulturelle Bedeutung der Sozialdemokratie nicht erfaßt. Jetzt ist die Partei in der Lage, außerhalb ihres parteipolitischen Wirkungskreises auf Grund ihres politischen Einflusses dafür zu wirken, daß die Sorge für die Schule und die allgemeine Volksbildung nunmehr der Staat übernimmt“5, so Glöckel.
Vom 15. März 1919 bis zum 22. Oktober 1920 – also für gerade einmal eineinhalb Jahre – war Otto Glöckel Unterstaatssekretär im Staatsamt für Inneres und Unterricht und damit Leiter der österreichischen Schulverwaltung. Nach dem Zerbrechen der großen Koalition im Sommer 1920 und der Niederlage der Sozialdemokraten bei den Nationalratswahlen im Oktober desselben Jahres war er – nachdem Wien mit den am 1. Jänner 1922 in Kraft getretenen „Trennungsgesetzen“ ein von Niederösterreich unabhängiges Bundesland geworden war – vom 28. März 1922 bis zum 12. Februar 1934 als geschäftsführender zweiter Präsident der Leiter des Stadtschulrates für Wien – der Stadt, die er zur „Musterschulstadt“ machen wollte.
Die Schulreform war somit eine gesamtösterreichische, und sie war eine Wiener Reform – eingebettet und machtpolitisch getragen von einer soliden sozialdemokratischen Mehrheit im Wiener Gemeinderat. Mit seiner Wohnungs-, Sozial-, Wohlfahrts- und Fürsorgepolitik, mit der Errichtung von Kindergärten, Horten, Spielplätzen und Kinderfreibädern, der Etablierung von Schulärzten und Fürsorgerinnen, mit den von der Gemeinde Wien kostenlos zur Verfügung gestellten neuen Schullehrbüchern und der Gründung des Pädagogischen Instituts der Stadt Wien bot das „Rote Wien“ der Zwischenkriegszeit ideale Rahmenbedingungen für die Realisierung der „neuen Schule“.
Die Schulreform betraf die Schulorganisation, die Lehrpläne und Lehrinhalte, die Lehrerausbildung und die pädagogischen Arbeitsweisen sowie die demokratische Einbindung der Elternschaft in die Schule. In ihrem Mittelpunkt standen die Ideen der Arbeitsschule und der Einheitsschule. Die Arbeitsschulidee wurde mit dem versuchsweise im Juni 1920 auf Erlassweg eingeführten Grundschullehrplan umgesetzt. Die Schülerinnen und Schüler sollen sich die Lehrinhalte lebensnah und spielerisch selbst erarbeiten. Die Einheitsschulidee, wie sie in den „Leitsätzen für den allgemeinen Aufbau der Schule“ als Entwurf niedergelegt wurde, sah im Anschluss an die vierjährige Volksschule, die seit dem Reichsvolksschulgesetz von 1869 als Einheitsschule geführt wurde, eine von allen Kindern von zehn bis 14 Jahren zu besuchende vierjährige Mittelschule mit einer Differenzierung nach Leistungsfähigkeit in zwei Klassenzügen vor. Erst nach dem Abschluss dieser vierjährigen Mittelschule sollte die weitere Differenzierung der Bildungswege einsetzen. Dieses Modell konnte versuchsweise praktisch nur in Wien an den Versuchsschulen verwirklicht werden.
Das bildungspolitische Ziel der Schulreform war die Förderung von talentierten Kindern aus den besitzlosen Klassen, denen durch eine höhere Bildung ein sozialer Aufstieg ermöglicht werden sollte. Pädagogisches Ziel der „Glöckel-Schulen“ war es, tüchtige, aufrechte, sittlich gefestigte und arbeitsfreudige Tatmenschen zu erziehen, die sich in der Welt zurechtfinden, die errungen Kulturschätze mit Verständnis betreuen und neue Kulturwerte schaffen.
Glöckels Plan einer obligatorischen, vierjährigen Volksschule mit anschließender Allgemeiner Mittelschule mit zwei Klassenzügen und erst dann folgender Oberstufendifferenzierung in Gymnasium, Realschule, Realgymnasium und Frauenoberstufe scheiterte an der politischen Opposition von Christlichsozialen, Großdeutschen und Katholischer Kirche.
Den größten öffentlichen Widerstand und die schärfste polemische Hetze katholisch-klerikaler Kreise fand freilich der Erlass über die Aufhebung des Zwangs zur Teilnahme an den religiösen Übungen – der „Glöckel-Erlass“ schlechthin. Gemäß diesem sollte nur den Eltern die Entscheidung vorbehalten sein, ob und wann ihr Kind zur Beichte oder zur Kommunion zu gehen hat, und ob es an Kirchgängen und Prozessionen teilnehmen soll. Der kirchliche Zwang zur Teilnahme an religiösen Übungen, mit dem auch Zwistigkeiten in die Familien getragen werden konnten, war nicht nur verfassungswidrig, sondern für Glöckel auch unsittlich. Eine Vorherrschaft der Kirche sollte es in einer demokratischen Republik nicht geben. Doch ohne Zwang schien für den katholischen Klerus eine obligatorische Teilnahme an den religiösen Übungen nicht durchsetzbar zu sein. Die Christlichsozialen lehnten neben der Einheitsschulidee vor allem diese Säkularisierung des Schulsystems ab, weniger die didaktischen Reformideen der Arbeitsschule, des Gesamtunterrichts oder der Bodenständigkeit des Unterrichts. Die großdeutschen Koalitionspartner der Christichsozialen waren zum Teil schulreformfreundlich eingestellt, beugten sich aber dem Koalitionsfrieden. Die Ideen der Schulreform fanden bei weitem nicht nur in der sozialdemokratischen Lehrerschaft ihre Anhänger, sondern teilweise auch bei katholischen und konservativen Lehrern. Nicht zuletzt bestand in Teilen der Arbeiterschaft ein Desinteresse an einer höheren Ausbildung ihrer Kinder.
In den 1920er- und beginnenden 1930er-Jahren war jedenfalls der schulpolitische Dualismus zwischen dem sozialdemokratischen Wiener Stadtschulrat und dem christlichsozial-deutschnational geprägten gesamtösterreichischen Unterrichtsministerium, aber auch zwischen dem „Roten Wien“ und den „schwarzen“ Bundesländern festgefahren. Abänderungen von Gesetzen im Bildungsbereich konnten nur vorgenommen werden, wenn eine entsprechende Übereinstimmung von Bundes- und Ländergesetzen vorlag. Diese erhebliche Einschränkung für jegliche Bildungsreform war es, warum Glöckel zwecks Umgehung dieses langwierigen Rechtsweges seine Änderungsvorhaben auf Erlässen gründete. Trotz des Schulkampfs als Teil des allgemeinen Kulturkampfs während der Ersten Republik konnte 1927 mit dem Haupt- und Mittelschulgesetz ein Kompromiss gefunden werden, mit dem die Bürgerschule in eine vierklassige Hauptschule mit zwei Klassenzügen umgewandelt wurde. Die achtklassigen Gymnasien und Realschulen mit Aufnahmeprüfung und Schulgeld blieben unangetastet. Damit blieb auch die frühe Selektion der Schülerinnen und Schüler unangetastet, und das sozialdemokratische Ziel eines besseren Zugangs zu einer höheren Schulbildung für die proletarische Jugend nur zum Teil erfüllt.
Volksbildung
Für eine Gesamtreform des österreichischen Bildungswesens sollten Schule und Volksbildung einträglich zusammenwirken. Die Schulreform hatte daher für Otto Glöckel durch die Reform des Volksbildungswesens ergänzt zu werden. Während der Monarchie kümmerte sich der Staat ab dem Zeitpunkt, als das proletarische Kind aus der Volksschule austrat, nicht mehr um seine weitere geistige Entwicklung: „Die Volksbildung bleibt ganz dem Zufall oder dem guten, aber stets unzureichenden Willen einzelner überlassen.“6
„Es darf nicht sein wie bisher, daß der Austritt aus der Schule gleichbedeutend ist mit einem Sprung ins Dunkle. Der Übertritt ins Leben muß wohl vorbereitet, sich völlig organisch vollziehen.“7 Eine umfassende Förderung des freien Volksbildungswesens lag für Glöckel im allgemeinen Interesse des Staates, aber auch im Interesse der Schule, da die Hebung der Volksbildung das Interesse der Bevölkerung an der Schule und ihrer Arbeit belebe und stärke.
„War für den alten Staat das Schulwesen das Stiefkind, so versagte er auf dem Gebiete der Volksbildung vollends“8, so Glöckel. Wohl wurden Hochschulkurse geschaffen, wohl gab es Volksbildungsvereine, doch waren diese Einrichtungen alle durch private Tatkraft entstanden. In der Habsburgermonarchie hatte der Staat kein Interesse an einer systematischen Volksbildung. An die Stelle der Schulfeindlichkeit und völligen Ablehnung jeglicher Förderung der Volksbildung muss „eine systematische, fürsorglich überlegte aber doch rasch durchgeführte Reform des gesamten Unterrichtswesens in zeitgemäßem Sinne, muss eine sorgfältig organisierte Volksbildung durch die demokratische Republik treten.“9
Juristisch vollzog sich dies auch hier in Form von Ministerialverordnungen auf dem Erlassweg. Mit dem Erlass des Unterrichtsamtes vom 16. Juli 1919 wurden erstmals Schulräume und Lehrmittel für „ernstzunehmende Volksbildungsveranstaltungen“ zur Verfügung gestellt, was auch für politisch oder konfessionell gefärbte Bildungsvereine galt, „insolange diese Veranstaltungen nicht zu parteipolitischer oder konfessioneller Verhetzung ausgenützt werden.“10
Um das Volksbildungswesen in Deutsch-österreich – wie sich die junge Republik vor dem im Juli 1920 in Kraft getretenen Vertrag von Saint-Germain-en-Laye selbst genannt hatte – zur Entwicklung zu bringen, hatte Otto Glöckel am 30. Juli 1919 das „Regulativ für die Organisation des Volksbildungswesens in Deutschösterreich“ bis auf weiteres genehmigt und den Landesschulräten und Landesregierungen kundgemacht.11 Damit war der Grundstein für eine ganz neue Organisation des Volksbildungswesens gelegt.
Das Glöckel-Regulativ bestimmte zwar, dass dem Unterrichtsamt „die oberste Leitung und Beaufsichtigung des gesamten Volksbildungswesens in Deutschösterreich“ zukomme. Doch sollte der verwendete Ausdruck „Beaufsichtigung“ keineswegs eine Einschränkung der Handlungsfreiheit der freien Volksbildungsinstitutionen bedeuten, sondern sich lediglich auf die vom Volksbildungsamte veranlassten Volksbildungsangelegenheiten sowie auf die Organisierung als solche beziehen. Den freien Volksbildungsinstitutionen, von denen einige zunächst eine bürokratische Bevormundung befürchteten, stand das gemäß Regulativ zu schaffende staatliche Volksbildungsamt lediglich auf Wunsch beratend und helfend zur Seite.12
Das im Unterrichtsamt am Wiener Minoritenplatz Nummer 5 situierte und ihm unmittelbar nachgeordnete Volksbildungsamt wurde als Zentralstelle – als „Herzpunkt aller deutschösterreichischen Volksbildungsarbeit“ – eingerichtet, welches über die Verwendung der zunächst nur sehr spärlich zur Verfügung gestellten staatlichen finanziellen Mittel zur Förderung der Volksbildung sowie über die Dienstbarmachung der verschiedenen kulturellen Einrichtungen des Landes, wie Theater, Konzerte, Ausstellungen, Museen und Sammlungen für die Volksbildung zu entscheiden hatte und dem die Organisation und Durchführung von Kursen zur Heranbildung von Volksbildnern in den Bundesländern (Volksbildnerkurse) oblag.
Öffentliche Mittel seitens der k.k. Unterrichtsverwaltung waren bereits während der Monarchie an die volkstümlichen Universitätskurse an den Universitäten in Wien, Graz und Innsbruck ergangen. Neu waren die Subventionierungen der volksbildnerischen Vorträge und Vortragsreihen an den Hochschulen. Für die Wiener Technikerschaft war das Glöckel-Regulativ Anlass, eine „Freie Vereinigung für technische Volksbildung“ zu schaffen, deren gründende Versammlung am 9. November 1919 abgehalten wurde. Ihr galt es, den Bildungs- und Kulturwert der Technik in volksbildnerischen Veranstaltungen öffentlich darzulegen und das Verständnis für die Bedeutung der Technik beim Aufbau des daniederliegenden Wirtschaftslebens zu fördern.13
Das sich konstituierende Wiener Volksbildungsamt sah sich schon bald mit einer breiten Fülle von Subventionsbegehren konfrontiert. Nach dem Krieg waren viele der bereits in der Monarchie gegründeten Volksbildungsinstitutionen finanziell darbend. Zudem sollten aber auch neu entstehende gefördert werden: Neben dem Verein Zentralbibliothek in Wien, der Wiener und der Grazer Urania, dem Oberösterreichischen Volksbildungsverein für den Bau eines eigenen Volksheimes in der Linzer Bismarckstraße, dem Niederösterreichischen Volksbildungsverein mit seinen zahlreichen Ortsgruppen, dem Steiermärkischen Volksbildungsverein, dem Salzburger Volksbildungsverein sowie dem Kärntner Volksbildungsverein mit seiner Volkshochschule Klagenfurt am dortigen Gymnasium, waren unter anderem auch der Wiener Volksbildungsverein und die Volkshochschule „Volksheim“ Ottakring zu berücksichtigen, welche in den ersten Monaten nach dem Krieg nicht nur mit finanziellen Mitteln, sondern zwecks Aufrechterhaltung ihres Betriebs auch mit Kohlen versorgt werden wollten.14
Weitere Subventionsansuchen kamen vom Deutschösterreichischen Volksliedunternehmen, von Heimatvereinen, von den katholischen Frauenorganisationen, vom Reichsbund der katholischen deutschen Jugend Österreichs, seitens der deutschnationalen und deutschvölkischen Seite vom Verein Südmark, vom Deutschen Schulverein und von der Fichte-Hochschule, deren „Deutsche Volkshochschule“ sich im Gebäude des Deutschen Schulvereins in Wien befand, aber auch vom jüdischen Arbeiterbildungsverein.
Das Glöckel-Regulativ war auch der Beginn der staatlichen Unterstützung für die Durchführung von Führungen in zahlreichen österreichischen Museen und Sammlungen: So konnten in Wien Führungen im Naturhistorischen und im Kunsthistorischen Hofmuseum, im Museum für Kunst und Industrie, im Museum für Volkskunde, im Technischen Museum und in der Albertina organisiert werden. Dazu kamen Führungen in verschiedenen Stadt- und Landesmuseen sowie Museumsvorträge und Führungen in den Sammlungen der Stifte und Klöster des Landes.
Eine weitere neue und wichtige Förderschiene waren wohlfeile Klassikervorstellungen für Schülerinnen und Schüler aller Schulkategorien in den Theaterstädten Deutschösterreichs, so etwa die Abhaltung von Klassikervorstellungen für die Jugend am Wiener Burgtheater, aber auch Mittelschülerkonzerte im Wiener Konzerthaus sowie die Organisation von Wanderausstellungen und die Etablierung der Wanderbühne des Volksbildungsamtes. In der neuen, am 15. Oktober 1919 erstmals erschienenen, vom Volksbildungsamt herausgegebenen Zeitschrift „Volksbildung“ wurde neben der Diskussion aktueller volksbildnerischer Fragen und Probleme über all diese kunst- und kulturpopularisierenden Initiativen ausführlich berichtet.15
Zur Unterstützung der Tätigkeit des Wiener Volksbildungsamtes in den Bundesländern war gemäß Regulativ am Sitz der jeweiligen Landesschulräte die Schaffung von Landesreferenten für das Volksbildungswesen vorgesehen – außer in Wien, wo die diesbezüglichen Agenden vom Volksbildungsamt selbst durchgeführt wurden. Zwecks ihrer Ernennung wurden die Landeshauptmänner ersucht, Vorschläge hinsichtlich der Nominierung eines Dreiervorschlags zu erstatten, aus denen das Volksbildungsamt den Geeignetsten auszuwählen hatte.
Wie rasch die Länder den Volksbildungsreferenten als ihren – auch parteipolitischen – Einflussbereich ansahen, geht aus dem Bestellungsverfahren in Oberösterreich hervor. Landeshauptmann Johann Nepomuk Hauser schlug auf Ersuchen des Volksbildungsamtes für die Stelle eines Landesreferenten für das Volksbildungswesen den Volkskundler und Professor an der staatlichen Lehrer- und Lehrerinnenbildungsanstalt in Linz, Dr. Adalbert Depiny, als Bestgeeigneten vor. Zu dem vom Volksbildungsamt gemachten Vorschlag, den Professor am Staatsgymnasium in Linz, Dr. Wilhelm Gärtner, zum Landesreferenten zu ernennen, äußerte sich der Landeshauptmann nicht schriftlich. Er hatte aber mündlich die Erklärung abgegeben, dass eine diesbezügliche Ernennung für die christlichsoziale Partei ein Casus Belli darstellen könnte. Dessen ungeachtet wollte das Volksbildungsamt nicht gerne auf die bewährte volksbildnerische und organisatorische Kraft Professor Gärtners verzichten. Um mit der christlichsozialen Majorität des Landes in dieser kulturellen Angelegenheit in keinen zweckwidrigen Konflikt zu geraten, wurden daher für Oberösterreich zwei Landesreferenten ernannt: Depiny und Gärtner.17
Anlässlich der Ernennung des Kärntner Landesreferenten für Volksbildung, den Professor am Staatsgymnasium in Klagenfurt Dr. Emil Lorenz, teilte das Präsidium der Kärntner Landesregierung mit, dass das Volksbildungs-Regulativ „den besonderen Verhältnissen in Kärnten nicht in vollem Maße Rechnung trägt und die Landesregierung sich daher vorbehalten muss, eine entsprechende Umarbeitung dieses Regulativs im Sinne der Anpassung an die hiesigen Verhältnisse vorzunehmen.“ Da die Landesregierung über alle Verwaltungsangelegenheiten im Lande nicht nur informiert, sondern sich auch die notwendige Einflussnahme auf dieselben vorbehalten müsse, betrachte man den Volksbildungsreferenten als ein Organ der Landesregierung. Für das Wiener Volksbildungsamt war es natürlich unmöglich, auf diesen Vorschlag der Landesregierung einzugehen: Der Landesreferent könne nur aufgrund des Regulativs ernannt werden. Gemäß diesem wäre freilich ein stetes Zusammenwirken des Landesreferenten mit der Landesregierung dringend geboten. Nichtsdestotrotz sei der Landesreferent „ein in engstem Zusammenhange mit der Landesregierung vorgehendes Organ des Volksbildungsamtes“. Nicht zuletzt würden die Gesamtbezüge des Landesreferenten aus Staatsmitteln bestritten. Bezüglich seiner Amtsräume samt Beheizung und Beleuchtung sowie der Bereitstellung einer Schreibkraft auf Rechnung des Landes rechnete man aber mit einem Entgegenkommen der Länder.18
Um die volksbildnerische Bedeutung der drei österreichischen Universitäten gebührend zu berücksichtigen, sah das Glöckel-Regulativ noch drei Volksbildungsarbeitsgemeinschaften an den Universitäten in Wien, Graz und Innsbruck vor, wo auch die jeweiligen Zentralstellen für volksbildnerische Lehrmittel, Büchereien und Wanderbüchereien statuiert werden sollten. Zur Schaffung eines Grundstocks für eine eigene Volkbildungslehrmittelzentrale kaufte das Volksbildungsamt den gesamten pädagogischen Lichtbilderverlag der Firma Pichlers Witwe an, der über 40.000 Diapositive, 6000 Stereoskopbilder und 16.000 Vortragstexte umfasste, und der auf die drei Volksbildungsarbeitsgemeinschaften an den Universitäten verteilt werden sollte.19
Bei der staatlichen Organisierung des Volksbildungswesens sollte für Glöckel jede bürokratische Verwaltung auf das strengste vermieden werden. Es sollten lediglich die privaten Bildungsbestrebungen, bei möglichster Wahrung ihrer Selbständigkeit, in gemeinsame allgemeine Richtlinien gebracht und durch die Zusammenlegung gleichartiger Einrichtungen eine größere Leistungsfähigkeit erzielt werden. Leichte Beweglichkeit müsse sich mit der Anpassung an die lokalen Bedürfnisse auf das innigste verbinden.20
Um Idee und Praxis der Volksbildung mit allen Schichten des werktätigen Volkes zu verbinden war für Glöckel ein demokratisches, frei von unten nach oben wachsendes System von Bildungsräten essenziell, welches gemeinsam mit den staatlichen Bildungsämtern in der Lage wäre, Bildungsarbeit innerhalb der Massen zu leisten. Jede andere, rein obrigkeitliche oder nur von akademischen Kreisen ausgehende Arbeit würde für Glöckel an den Massen vorbeigehen. Stets sollten staatliche Verwaltung und frei gewählte Vertreter Hand in Hand arbeiten und so „gedeihliche Arbeit aus dem Volk für das Volk leisten.“21
In allen Orten Deutschösterreichs sollten Ortsbildungsräte gegründet werden, die sich auf Bezirksebene zu Kreis-, und auf Landesebene zu Landesbildungsräten, die als Beiräte der jeweiligen Landesreferenten gedacht waren, zusammenschließen sollten sowie zum Deutschösterreichischen Volksbildungsrat, der dem Leiter des Volksbildungsamtes beratend zur Seite stehen sollte. Die Ortsbildungsräte sollten aus Vertretern der bereits vor Ort bestehenden Bildungsvereine und Kulturinstitute, aus Vertretern der Lehrer- und Ärzteschaft, der im Ort bestehenden Sportvereinigungen und Gewerkschaften, aus Vertretern der lokalen beruflichen Organisationen und Genossenschaften sowie der lokalen Arbeiter-, Bauern-, Soldaten- und Elternräte bestehen, und den örtlichen Verhältnissen entsprechen.
Otto Glöckel
Foto: Georg Fayer/ÖNB
Die im Regulativ angedeutete praktische Durchführung von Volksbildungsarbeiten durch die Ortsbildungsräte sollte weder die Tätigkeit der freien Volksbildung ausschalten noch zu einer parteipolitischen Majorisierung führen, da sich die Tätigkeit der Ortsbildungsräte lediglich auf die Vermittlung von neutraler Bildung zu erstrecken hatte.23
Sobald sich ein Arbeitsausschuss eines Ortsbildungsrates im Sinne des Regulativs konstituiert hatte, und ein diesbezüglicher Bericht über Konstituierung, Zusammensetzung und künftige volksbildnerische Absichten an das Wiener Volksbildungsamt ergangen war, hatte er von diesem genehmigt zu werden. Der Ortsbildungsrat war damit eine staatlicherseits anerkannte Körperschaft und konnte auf staatliche finanzielle Unterstützung hoffen. In der Regel folgte auch bald ein Subventionsansuchen an das Volksbildungsamt.
Der Ortsbildungsrat hatte mit den lokalen Volksbildungsinstitutionen freundnachbarlich zusammenzuarbeiten und sie in ihren Bestrebungen zu unterstützten. Am besten sollen Vertreter der örtlichen Volksbildungsinstitutionen in den Ortsbildungsrat delegiert werden. Der Ortsbildungsrat musste konfessionell und parteipolitisch neutral sein und damit vollkommen dem Grundgedanken der staatlichen Organisierung des Volksbildungswesens entsprechen. Es war daher seitens des Volksbildungsamtes darauf hinzuwirken, dass er sich der Mitarbeit aller konfessionellen und politischen Gruppen der Ortsbevölkerung sichert.24
In mustergültiger Weise war dies etwa beim Ortsbildungsrat in Melk an der Donau durchgeführt worden, in dem neben Vertretern der Stadtgemeinde, Vertreter des Ortsschulrats, des Benediktinerstiftes, der Beamtenschaft und Freien Berufe, des Gewerberats, des Bürgerrats, Arbeiterrats, Soldatenrats und Bauernrats, des Christlichsozialen Arbeitervereins Melk, der Organisation der sozialdemokratischen Partei Melk, des sozialdemokratischen Frauenvereins, des Katholischen Frauenvereins, des Deutschen Volksvereins, des Niederösterreichischen Volksbildungsvereins Melk sowie des Ober-Gymnasiums und der Volkschule saßen.25
Der Ortsbildungsrat in Waidhofen an der Thaya war noch üppiger besetzt und bestand aus je einem Vertreter des Zweigvereins des Niederösterreichischen Volksbildungsvereins, des Vereins für Landeskunde, des Kasinovereins, des christlichsozialen Arbeitervereins, des sozialdemokratischen Arbeitervereins, des sozialdemokratischen Volksbildungsvereins, der Großdeutschen Vereinigung, des Deutscher Schulvereins, des Vereins Südmark, des Bildungsrats der Volkswehr, der Gemeindevertretung, des Bezirksschulrats, der Schulen, der Ärztevereinigung, des Turnvereins, des Gesangs- und Musikvereins, des Bauern-, Bürger- und Ständerats, aber auch aus je einem Vertreter der Handels-, Schuhmacher-, Gastgewerbe- und Baugewerbegenossenschaft sowie einem der Freiwilligen Feuerwehr.26
Nachdem der Vorstand des Volksbildungshauses Grazer Urania beim Volksbildungsamt angefragt hatte, ob er die Bildung des Ortsbildungsrates für Graz in die Wege leiten solle, wogegen keine Einwendung erhoben wurde,27 gab dieser zu bedenken, dass sich bei einem genauen Vorgehen gemäß Volksbildungs-Regulativ der Grazer Ortsbildungsrat aus mindestens 200 Personen zusammensetzen würde: Ein Ausschuss, der natürlich nicht arbeitsfähig gewesen wäre. Das Volksbildungsamt schlug daher vor, jeweils nur einen Vertreter einer in Graz vorhandenen Art von Schule und nur einen Vertreter der in Graz bestehenden politischen Parteien sowie nur ein oder zwei Vertreter der Arbeiterschaft (Gewerkschaften) und der bürgerlichen Berufe (Gewerbegenossenschaften) zu nominieren. Auch die Bildungsvereine sollten sich auf jeweils nur einen Vertreter einigen.28
Wieder anders verhielt es sich in Krems an der Donau: Dort wurde sowohl von sozialdemokratischer als auch von deutschnationaler Seite dem Volksbildungsamt vorgeschlagen, für die Schaffung eines Ortsbildungsrates Sorge zu tragen wollen. Da der Kampf der politischen Parteien in Krems ein besonders erbitterter sei, empfahl das Volksbildungsamt, eine ebenso pädagogisch geeignete, wie politisch neutrale Persönlichkeit mit der Schaffung des Ortsbildungsrates zu betrauen, was mit dem Direktor der Lehrerbildungsanstalt in Krems, Dr. Theodor Konrath, auch gelang.29 Bereits am 22. März 1920 konnte der Ortsbildungsrat Krems-Stein die Volkshochschule Krems in den Räumlichkeiten der Staatslehrerbildungsanstalt eröffnen, an der täglich von 8 bis 9 Uhr abends Vorträge volkstümlicher Art stattfanden. Da aber die Eintrittspreise sehr niedrig waren und der Ortsbildungsrat über keinerlei Stammvermögen verfügte, ersuchte er das Volksbildungsamt um eine einmalige Subvention. Da die Gründung einer Volkshochschule in Krems völlig den Intentionen des Volksbildungsamtes entsprach, wurde dem Ersuchen auch stattgegeben.30
Der Ortsbildungsrat in Fischau wiederum bestand ausschließlich aus sozialdemokratischen Mitgliedern. Da es angeblich unmöglich gewesen sei, andere, der Volksbildung bisher fernstehende Kreise zu gewinnen, konnte das Wiener Volksbildungsamt dem Ortsbildungsrat Fischau lediglich seine Position darlegen, dass Bildung eine Angelegenheit sei, die über den Parteien stehe, und es daher nicht angehe, dass der Ortsbildungsrat – ganz gleich wer seine Mitglieder wären – von vornherein parteipolitisch orientiert erscheine.31
Auf der anderen Seite des politischen Spektrums war es der deutschnationale Landtagsabgeordnete und Professor am Kremser Staatsgymnasium, Dr. Viktor Mittermann, der als Geschäftsführer der Deutschen Bildungsvereinigung im Wahlkreis unter dem Manhartsberg das Ersuchen stellte, Vertreter in die Bildungsräte zu berufen.32 In Langenlois erachtete das Volksbildungsamt den deutschnationalen Dürerbund als geeignet, die Konstituierung eines Ortsbildungsrates in die Wege zu leiten.33
Bis Ende 1920 entstanden auf diese Weise allein in Niederösterreich über 120 Ortsbildungsräte – in allen anderen Bundesländern waren es bedeutend weniger. Die meisten von ihnen lösten sich im Laufe der 1920er-Jahre wegen mangelnder finanzieller Unterstützung wieder auf, beziehungsweise wandelten sich zum Teil in Ortsgruppen des Volksbildungshauses Urania Wien um. Auf Länderebene hatten die Landesreferenten ihre Arbeit aufgenommen. Darüberhinausgehend zeigten sich die Glöckel nachfolgenden christlichsozialen Unterrichtsminister Walter Breisky und Emil Schneider wenig interessiert an einer weiteren Umsetzung des Glöckel-Regulativs.34
Auch zu einer Konstituierung von Landesbildungsräten ist es außerhalb Wiens nicht gekommen. Hier wurde der Wiener Volksbildungsrat – also der Landesbildungsrat für Wien – gemäß Regulativ nach Vorlage der Mitgliederliste von Otto Glöckel am 11. Juni 1920 anerkannt. Unter Vorsitz des ehemaligen Oberlehrers und sozialdemokratischen Gemeinde- und Stadtrats Josef Hellmann, dessen Vorsitzführung von einigen Wiener Volksbildungsinstitutionen mehrfach als parteilich scharf kritisiert wurde, setzte sich der Wiener Volksbildungsrat neben fünf Stadträten, dem Magistrats-Direktor und ausgewiesenen Experten – wie den Geografen Univ.-Prof. Dr. Eugen Oberhummer, den Mineralogen und damaligen Rektor der Universität Wien Univ.-Prof. Dr. Friedrich Becke, den Zoologen Univ.-Prof. Dr. Heinrich Joseph und den Kunsthistoriker Dr. Eduard Leisching – aus Vertretern folgender Volksbildungsinstitutionen und Körperschaften zusammen: dem Ausschuss der volkstümlichen Universitätsvorträge an der Universität Wien, dem Ausschuss für volkstümliche Hochschulkurse an der Technischen Universität Wien, dem Ausschuss für Volksbildung an der Hochschule für Bodenkultur, dem Ausschuss für volkstümliche Hochschulkurse an der Tierärztlichen Hochschule, dem Ausschuss für volkstümliche Akademiekurse an der Staatsakademie für Musik und darstellende Kunst, dem Technischen Museum, dem Reichsbildungsamt der deutschösterreichischen Volkswehr im Staatsamt für Heereswesen, der sozialdemokratischen Zentralstelle für das Bildungswesen, dem Volksbildungshaus Wiener Urania, dem Volksbildungsverein Apolloneum, der Freien Vereinigung für technische Volksbildung, dem Verein Volkslesehalle, dem Wiener Volksbildungsverein, dem Verein „Volksheim“, dem Verein „Zentralbibliothek“, dem Katholischen Bibliotheks- und Leseverein, dem Katholischen geselligen Fortbildungsverein Reunion und der deutschnationalen Fichte-Hochschule.35
Aber nicht nur bei der Konstituierung der Landesbildungsräte ergaben sich Schwierigkeiten, auch gegen das Regulativ als solches formierte sich Widerstand. Nicht nur im Schulwesen, auch im Volksbildungswesen war der Klerikalismus für Otto Glöckel ein seit der Monarchie beständiger – stets feindlich gesinnter – Begleiter seines bildungspolitischen Wegs. Zwar wurde seitens des Volksbildungsamtes explizit und wiederholt die Lehrerschaft aller Kategorien zur Mitwirkung an der Volksbildung eingeladen und auch regelmäßig Volksbildnerkurse an den Lehrer- und Lehrerinnenbildungsanstalten abgehalten. Doch war die im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche gedachte Reduktion des Priesteramtes auf sein Lehramt an den Schulen und Hochschulen für den Klerikalismus eine nicht hinzunehmende Provokation: Die Zentralstelle des Volksbundes der Katholiken der Steiermark erhob auf ihrer am 29. Dezember 1919 in Graz abgehaltenen Delegiertenversammlung energischen Protest gegen das Glöckel-Regulativ, dass es nicht der Mühe wert fand, bei der Errichtung der Volksbildungsräte nicht auch den katholischen Klerus explizit zu erwähnen, was als dessen Umgehung interpretiert wurde: „Die Kirche als älteste und bedeutendste Volksbildungsorganisation unseres Volkes ist in erster Linie berufen, ihren
erzieherischen Einfluss auch im Volksbildungswesen geltend zu machen.“36
Nach einem gleichlautenden Protest seitens des Steiermärkischen Katechetenvereins in Graz37 folgte das Professoren-Kollegium der Theologischen Fakultät an der Grazer Universität, welches zwar auf das Lebhafteste die Förderung des Volksbildungswesens durch den Staat begrüßte, es aber doch als Kränkung und schwere Zurücksetzung empfand, dass im Regulativ die Geistlichkeit nicht besonders hervorgehoben wurde. Die Fakultät gab der Erwartung Ausdruck, dass das Staatsamt eine entsprechende Änderung des Regulativs vornehmen werde.38
Den Einspruch versuchte das Volksbildungsamt in sachlicher Form aufzuklären und betonte, dass bei der Organisierung des Volksbildungswesens nicht im Geringsten eine Hintansetzung des katholischen Klerus beabsichtigt, und dass der pädagogisch tätige Klerus bei dieser Formulierung eingeschlossen sei, da dieser sowohl als „Lehrerschaft“ aufzufassen ist, als auch in den Ausschüssen für volkstümliche Universitätskurse Sitz und Stimme habe. Das Volksbildungsamt betonte, dass das Unterrichtsamt selbstredend jede Mitwirkung der katholischen Geistlichkeit bei den in Angriff genommenen objektiven Volksbildungsbestrebungen wärmstens begrüßen und fördern werde.
Trotz der offensichtlichen und klaren gesellschaftspolitischen Gegensätze insbesondere im Bereich der Kultur- und Bildungspolitik war es auch nach dem Ausscheiden der Sozialdemokraten aus der Bundesregierung und der Bildung des „Bürgerblocks“ in den 1920er-Jahren immer noch möglich, im Bereich der Bildungspolitik zu, wenn auch sehr schwer errungenen Kompromissen zwischen Christlichsozialen und Sozialdemokraten zu gelangen – etwa beim Volksschullehrplan 1926, beim Haupt- und Mittelschulgesetz 1927 und bei der Regelung der Schulkompetenzen im Rahmen der Verfassungsreform 1929. Mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise und ihren verheerenden sozialen und politischen Folgen nahmen ab den beginnenden 1930er-Jahren autoritäre und faschistische Versuche zur Lösung der ökonomisch-politischen Doppelkrise zu, die in den Austrofaschismus führten.
Eine der ersten Maßnahmen des austrofaschistischen Systems war die Aufhebung des verhassten „Glöckel-Erlasses“ über die Untersagung des schulischen Zwangs zur Teilnahme an religiösen Übungen. Das „Neue Österreich“ sollte auf christlicher, deutscher und vaterländischer Grundlage errichtet werden. Die Trennung von Staat und Kirche wurde revidiert und der Katholizismus zur Staatsreligion erhoben. Die Lehrerschaft wurde unter verschärfte Kontroll- und Disziplinarmaßnahmen gestellt, sozialdemokratische und jüdische Lehrkräfte nach dem Februar 1934 entlassen oder zwangspensioniert. Neue „vaterländische“ Lehrbücher hielten das Soldatentum und das Führertum hoch. Bildung sollte wieder zum Privileg werden. Durch die rigorose Handhabung von verschärften Prüfungsvorschriften versuchte man den Zudrang zu den Mittel- und Hochschulen einzudämmen. Man wandte sich gegen die „Überproduktion“ eines städtischen, gebildeten – und potenziell kritischen – Proletariats, dass durch die Weltwirtschaftskrise nicht entsprechend verwendet werden konnte, und gegen eine höhere Mädchenbildung. Die Volksbildung versuchte man verstärkt zu beaufsichtigen, im „vaterländischen“ Sinn zu beeinflussen und ihre Funktionäre durch regimekonforme zu ersetzten.
Im Zuge des Februaraufstands wurde Otto Glöckel am 13. Februar 1934 in seinem Büro im Wiener Stadtschulrat verhaftet. Als körperlich gebrochener Mann wurde er nach Einzelhaft und Gefangenschaft im Anhaltelager Wöllersdorf erst wieder am 19. Oktober 1934 freigelassen und unter Polizeiaufsicht gestellt. Sein Wirkungskreis war verloren, sein Lebenswerk vernichtet, seine wirtschaftliche Situation trostlos, seine Gesundheit erschüttert.40 Am 23. Juli 1935 verstarb er an den Folgen seiner Haft durch einen Herzschlag.
Schulreform und Volksbildung
Die Schul- und die Volksbildungsreform Otto Glöckels sind die zwei Seiten ein und derselben Medaille. Ihre gemeinsame Aufgabe war der Abbau der Bildungsprivilegien: Die Kinder und die Erwachsenen aus den unterprivilegierten Schichten sollten gefördert und der Zugang zu Bildungschancen und höherer Bildung für alle – ohne Rücksicht auf Herkunft und Vermögen – ermöglicht werden.
Sollte in der Monarchie ein denkfaules, geistig wenig regsames und stets nach Führern ausblickendes Volk herangebildet werden, so lagen für Glöckel die Grundfesten der Demokratie in einem stolzen, arbeitsfreudigen und klugen Volk, das von seinen Rechten den richtigen Gebrauch macht und jeden einzelnen befähigt, ein gutes Stück der Verantwortung selbst zu tragen. Durch das Bildungssystem sollte für Glöckel ein aufrechtes und starkes Geschlecht herangebildet werden. An die Stelle des monarchischen Herdentieres sollte der stolze Republikaner treten. In der reformierten Schule sollte die Jugend selbständig denken, handeln und richtig urteilen lernen. In der Volkshochschule sollten die Erwachsenen verstandesmäßig geschult und zu selbständig und vernünftig denkenden und verantwortungsvoll handelnden Demokraten erzogen werden, die zwischen ehrlichem politischem Streben und Demagogie zu unterscheiden vermögen.
Weder in der Schule noch an der Volkshochschule sollte der Klassenkampf, der politische oder religiöse Tageskampf ausgetragen werden. Die Schülerinnen und Schüler sollten nicht zur Religion gezwungen werden, und das religiöse Bekenntnis eines Lehrers sollte nicht über seinen beruflichen Aufstieg entscheiden. In der Schule sollte die Wahrheit und nichts als die reine, rücksichtslose Wahrheit ihre Heimstätte finden. Die Wiener Volkshochschulen zogen sich mit ihrer politischen und religiösen Neutralität auf das Ideal der Vermittlung einer streng wissenschaftlichen Weltanschauung zurück.
Schulreform und Volksbildungsreform standen in einem engen Zusammenhang mit der Demokratisierung des ganzen öffentlichen Lebens. Für Glöckel war die Schulbildung die Einübung der Heranwachsenden in die bestehende bürgerlich-demokratische Gesellschaft. Für die Wiener Volkshochschulen führte der Weg der Bildung von der intellektuellen Emanzipation des Einzelnen zu seiner sozialen Integration in die bestehende bürgerlich-demokratische Gesellschaft. Die Demokratisierung der Schule betraf die Organisation, die Lehrinhalte und die Lehrweise, aber auch die sozialen Verkehrsformen. In einer demokratischen Schule hatte die Rolle des Lehrers und das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler anders zu sein als in der Monarchie. Die Schülerinnen und Schüler sollten nicht länger passive Objekte der Wissensvermittlung sein. Der Drill der alten Schule, das mechanische Einpauken und Auswendiglernen sollen der Vergangenheit angehören. Die Schulreform forderte einen neuen Lehrertypus und neue pädagogische Eigenschaften der Lehrer: weg vom Katheder und hin zur pädagogischen Begleitung, weg von der autoritären und hin zur partnerschaftlichen Wissensvermittlung. Durch Lehrerkammern und Elternvereine sollte die demokratische Mitsprache, Mitbestimmung und Mitverantwortung an den Schulen ermöglicht werden. Die Organisation der Volksbildung vollzog sich bereits seit der ausgehenden Habsburgermonarchie im Rahmen der zivilgesellschaftlich entstandenen Volksbildungsvereine und ihrer demokratisch gewählten Organe. Das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden sollte – trotz des bestehenden Bildungs- und Wissensgefälles – partnerschaftlich und respektvoll sein: denn beide konnten und sollten voneinander lernen. Es waren schließlich Erwachsene, die freiwillig am Abend in die Vorträge und Kurse kamen, um sich weiterzubilden, und dabei ihre ganze bisherige Berufs- und Lebenserfahrung mitbrachten und auch aktiv einbringen konnten. Mit den seminaristisch organisierten, oft über Jahre währenden Fachgruppen am „Volksheim“ Ottakring sowie mit den Urania-Gemeinden an der Wiener Urania bestanden Arbeitsgemeinschaften zwischen wissenschaftlichen Experten und interessierten Laien, die in möglichst egalitärer Weise in ihrem jeweiligen Fachgebiet um Wissen und Erkenntnis rangen. Mit den Hörervertretern bestand an den Volkshochschulen zudem eine demokratische Form der Mitbestimmung bei der Programmerstellung.
Im Gegensatz zur alten Schule der Monarchie, die sich in erster Linie auf die Geistesbildung beschränkt hatte, sollte die neue Schule Otto Glöckels versuchen, den ganzen Menschen zu bilden, und neben der Geistes-, auch die Gefühls- und Willensbildung pflegen. Dafür war die Überwindung der Distanz zwischen Schule und Lebenswirklichkeit bedeutsam. Die Lebenspraxis von Gesellschaft und Wirtschaft sollte Eingang in die Schule finden, das Tor zum Leben außerhalb der Schule weit aufgestoßen werden. Für die Wiener Volkshochschulen war die Verbindung von Leben und Wissenschaft, die Vermittlung von universitärem Wissen in das Alltagsleben der Menschen der Ausgangspunkt und Wesenskern ihres Wirkens. Sowohl in der neuen Schule als auch an der Volkshochschule sollten die Lebenswirklichkeit und die Lebensprobleme der Menschen der Ausgangspunk des Lernens sein. In Analogie zur Arbeitsschule sollte an den Volkshochschulen das Neue selbst entdeckt, das natürliche Interesse erweckt, zu scharfer und selbständiger Beobachtung angeleitet und zur Bewertung des Beobachteten geführt werden. Nicht die alte Schule der Monarchie, wo das vom Lehrer gebotene angenommen – gelernt – werden musste, war das Ideal der Volkshochschule, sondern der Lehrende, der versucht, aus den Lernenden all das, was sie in ihrer alltäglichen oder beruflichen Umgebung beobachtet und erlebt haben, herauszuholen, um diesen geistigen Besitz zu einem geordneten Wissen zu verbinden. An den Schulen und an den Volkshochschulen sollte es einen lebensvollen Unterricht geben, mit einer die Selbständigkeit im Denken und Handeln fördernden freien Rede. Die Erziehung zur Demokratie durch Mitbestimmung und Mitentscheidung solle die Aufgabe sowohl der Schulen als auch der Volkshochschulen sein. Für den Volksbildner und Gymnasialprofessor Edgar Zilsel sollte es nicht nur an den Volkshochschulen, sondern auch in einem reformierten Philosophie-Unterricht an den Schulen so sein, dass dem Schüler nicht eine fertige Weltanschauung in den Mund gestopft wird, sondern dass der Lehrer gemeinsam mit seinem Schüler ehrlich, sachlich und gerecht jene Problemstellungen und Begriffe erarbeitet, die dem jungen Menschen ermöglichen, Antworten auf die Grundfragen der Natur, des eigenen Lebens und der menschlichen Gesellschaft selber zu finden.43
Sowohl die Volkshochschüler als auch die „Glöckel-Schüler“ sollten, ausgehend vom bodenständigen Unterricht und der Vermittlung der Geschichte und Schönheit der Heimat, durch das Kennen- und Verstehenlernen der wirtschaftlichen und kulturellen Bestrebungen fremder Völker ein gutes Stück Weltbürgertum in sich aufnehmen. An die Stelle des Völkerhasses sollte das Völkerverstehen treten, die Achtung und vielleicht später sogar Freundschaft zu allen Kulturvölkern.44 Die Loslösung Deutschösterreichs aus dem Staatenverband mit den nichtdeutschen Völkern der alten Monarchie machte es für Glöckel zur Selbstverständlichkeit, dass die Geschichte der Heimat wieder mehr als bisher als ein Teil der Geschichte Deutschlands dargestellt werden sollte. Die heranwachsende Jugend sollte ihre Heimat als ein deutsches Land auch geschichtlich kennen und schätzen lernen, und sie als untrennbar verknüpft mit dem gesamten Deutschtum empfinden. So sollte auch in allen Fragen der Schulreform die größte Angleichungsmöglichkeit an Deutschland ins Auge gefasst werden, wie dies eine eigene pädagogische Kommission zur Angleichung in allen Hochschulfragen zur Aufgabe hatte, und wie dies durch einen ständigen Vertreter des Unterrichtsamts bei der österreichischen Gesandtschaft in Berlin gewährleistet sein sollte. Zwar wurde das Volkshochschulsystems der nordischen Staaten als vorbildlich angesehen, doch schien dem Wiener Volksbildungsamt der „nordische Volkscharakter“ jenem des österreichischen als allzu verschieden, als dass die nordischen organisatorischen Vorbilder ohne weiteres übernommen werden dürften. Sehr viel näher stünde die reichsdeutsche Bevölkerung, weswegen es geboten schien, vor der praktischen Durchsetzung der neuen Volkshochschuleinrichtungen in Österreich die in Deutschland geschaffenen Institutionen vor allem in den Groß- und Kleinstädten zu studieren.45
Schlussendlich und vor allem – davon zeigte sich Otto Glöckel zutiefst überzeugt – war es für das Gelingen sowohl der Schulreform als auch der Volksbildungsreform essenziell, dass die Reformgedanken in das Volk getragen, und damit zur Sache des Volkes werden. //
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