Jonathan Aldred: Der korrumpierte Mensch. Die ethischen Folgen wirtschaftlichen Denkens.

Jonathan Aldred: Der korrumpierte Mensch. Die ethischen Folgen wirtschaftlichen Denkens.
Stuttgart: 2020, 443 Seiten.

Der deutsche Titel legt fest. Zumindest einen Menschen. Wir anderen sind gar nicht korrumpiert? Das führt in die Irre. Der englische Titel „Licence to be Bad“ dockt bei James Bond an. Der Untertitel verdeutlicht: „How Economics Corrupted Us“. Es geht um die Wirtschaftswissenschaften – Economics – denen ein tüchtiges Quantum Schuld (nicht Trost, James Bond) zugesprochen wird. Woran? An Denkweisen, Forschungswegen, Ergebnissen von Thinktanks und natürlich auch: Wer finanziert die „stolzen, brutalen“ Denker – wer profitiert? Eine letzte Antwort gibt das Buch nicht, aber es erhebt einen Vorwurf: Wir alle schwächeln, weil wir die Ökonomen Macht über uns gewinnen ließen und lassen.

Jonathan Aldred, Professor für Ökonomie an der University of Cambridge, richtet eine eindringliche Botschaft an uns: Wirtschaft ist kein naturgegebenes System. Sie ist „[…] die Summe der Entscheidungen und Aktivitäten von etlichen Milliarden Menschen“ (S. 388). Sie kann, natürlich auch mit Hilfe des Rats von ExpertInnen, beeinflusst werden. Wir sollen keineswegs warten, bis Ökonomen ihre Meinung ändern und bescheidener werden, sondern unsere Macht nutzen, damit dies geschieht. Vier Schritte in diese Richtung schlägt Aldred seiner wissenschaftlichen Community vor:

– besser kommunizieren und genauer Schlussfolgerungen erklären;

– die jeweiligen persönlichen, politischen und moralischen Einschätzungen klar offenlegen;

– weniger arrogant, sondern verantwortungsvoller agieren, um das Vertrauen der Öffentlichkeit zurückzugewinnen;

die akademische Ausbildung reformieren.

Auf dem etwas episch gestalteten Weg bis zu Aldreds Empfehlungen am Ende seiner Publikation, gibt es viel zu lesen – eine differenzierte, reichhaltige Geschichte ökonomischer Ideen und eine ebenso reichhaltige detailreiche Darstellung von Lebensgeschichten und Wirkweisen ihrer Proponenten. Aldred registriert in den letzten fünf Jahrzehnten einen Wandel von Ideen und Wertvorstellungen, an denen wir unser Verhalten orientieren. Wir akzeptieren z. B., die „Gier“ von Banken und Bankern, dass VW und andere Konzerne KundInnen betrügen, dass die Verantwortung von Unternehmen nur darin besteht, Gewinne zu steigern. Der Modus von „Trittbrettfahrern“ hat sich durchgesetzt, kooperatives Verhalten gilt als irrational, wir verlassen uns darauf, dass „die anderen“ ihren Beitrag für das Gemeinwohl leisten.

Wie es so weit gekommen ist? Aldred antwortet immer mit Blick auf die Ökonomie. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg dominierte die Auffassung von John Maynard Keynes (1883–1946): Aufgabe des Staates sei es, die Wirtschaft zu fördern und ausreichende Sozialleistungen zu sichern. Auf Ansichten des Österreichers Friedrich August von Hayek (1899–1992) basierend entwickelte sich eine Denkschule, die aus Sorge, die Makroökonomik von Keynes führe in Totalitarismus, gegen das Einmischen von Regierungen in die Wirtschaft und für individuelle Freiheiten auftrat.

Gegen Keynes Ansichten, Regierungen haben die Aufgabe, die Kräfte des Marktes zugunsten der ganzen Gesellschaft und des Gemeinwohls einzusetzen, formierte sich nun eine andere Weltanschauung. Sie wurde nach etwa drei Jahrzehnten, ab 1979 mit dem Amtsantritt von Margaret Thatcher in Großbritannien und dem von Ronald Reagan, ab 1981, in den USA sowie den entsprechenden Positionierungen der von ihnen geführten Parteien, wirksam.

Durch die Vielfalt von Ideen verschiedener Ökonomen, ihre Streitgespräche, ihre Theoreme, ihre Fehlschläge und ihre Erfolge führt Aldreds Buch. Er spricht von einer „Geschichte dieser Hohepriester“, die erklärt, warum ihre ökonomischen Ansichten unser Leben dominieren.

Verkürzt gesagt konfrontiert das Buch Leserin und Leser damit, dass wir alle – mag sich der Preis auch unterscheiden – käuflich sind. Durch die Einsicht, welche wirtschaftswissenschaftlichen Ideen uns in diese Rolle hinein begleitet und geleitet haben, könnten Bildungsprozesse ausgelöst werden.

Für Kurse geeignet, die (wirtschafts-)wissenschaftliches Knowhow vermitteln und zur Reflexion von individuellem und kollektivem Verhalten anregen wollen. Eine gewisse didaktische Reduktion des Inhalts – im Sinne: „Viel Stoff, wenig Zeit“ (Martin Lehner) – könnte die Thematik in einschlägigen Angeboten der Erwachsenenbildung sicherlich attraktiv präsentieren. //

Lenz, Werner (2020): Jonathan Aldred: Der korrumpierte Mensch. Die ethischen Folgen wirtschaftlichen Denkens. Stuttgart: 2020, 443 Seiten. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Winter 2020, Heft 272/71. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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