Der ländliche Raum stellte die Erwachsenenbildung schon immer vor Herausforderungen (Autonome Provinz Bozen: 1989), die sie von urbanen Räumen unterscheiden: z. B. geringe Bevölkerungsdichte (unter 100 Einwohner*innen pro Quadratkilometer), Abwanderungen, demografische Besonderheiten in der Alters- und Sozialstruktur, kleinteilige Siedlungseinheiten in einem großflächigen Raum mit langen Wegen, flächendeckende Strukturdefizite – zum Beispiel hinsichtlich des öffentlichen Nahverkehrs, der Alltags-, Bildungs-, Kultur- und Gesundheitsversorgung, fehlende Arbeitsplätze in einer nur gering differenzierten Wirtschaftsstruktur, traditionsverbundene zivilgesellschaftliche (Vereins- und Politik-)Strukturen und schließlich auch die Naturnähe des Alltags und das große Erholungs- und Tourismuspotenzial.
Zweifellos gibt es nicht den ländlichen Raum und wir gehen von differenzierten ländlichen Raumstrukturen aus, die sich deutlich von urbanen Verdichtungsräumen unterscheiden. Dabei gehören strukturstarke ländliche Regionen wie beispielsweise die Insel Sylt oder Oberbayern ebenso dazu wie das Erzgebirge oder die Lausitz, die als strukturschwach bezeichnet werden können.
Angesichts solcher Lebensbedingungen ist traditionell der Bedarf an gesellschaftlicher und institutionalisierter Teilhabe und Gemeinschaft in ländlichen Räumen stark ausgeprägt (Ilien & Jeggle: 1978). Gesellschaftliche Modernisierungs- und Transformationsprozesse werden in diesem Kontext auf dem Land nicht nur als Chancen, sondern oftmals auch als nicht beeinflussbare Einflüsse „von außen“ wahrgenommen und führen zu Widerstand (Brockmann: 1977).
Dieses traditions- und spannungsreiche Stadt-Land-Verhältnis kann an dieser Stelle nur angedeutet werden (Priebe: 1982) und hat – hier sind wir beim Thema – auch Auswirkungen auf die Erwachsenenbildung.
Eine ihrer wichtigen Fragen im ländlichen Raum ist die nach dem Zusammenleben und der Gemeinwesenorientierung. Es geht darum, wie die endogenen Potenziale und Talente einer Region gefördert und aktiviert sowie in den Dienst des Gemeinwohls gestellt werden können.
Diese Idee, die sich seit Ende der 1970er-Jahre in der Raumplanung als Konzept der „Eigenständigen Regionalentwicklung“ operationalisiert hat (vgl. Hahne: 1989) – zur Abhebung von Konzepten der zentralen Orte und Steuerung – wird mit dem didaktischen Ansatz der „Dorfgespräche“ von Christian Boeser und Florian Wenzel (Wenzel & Boeser: 2022) erneut aufgegriffen. Es geht um ein Verfahren der Bürger*innenbeteiligung und Dorfentwicklung sowie um Demokratie-Lernen. Dabei spielt der Wertedialog, d.h. unhinterfragte Selbstverständlichkeiten und eigene Haltungen zu reflektieren und in einen öffentlichen Diskurs zu stellen, für die Autoren eine zentrale Rolle. Boeser und Wenzel sprechen von einer „Wertekompetenz“ und einer damit verbundenen Aktivierung der Demokratie (ebd., S. 29). Sie bewegen sich mit ihrem dazu erschienenen Handbuch, systematisch gesehen, an der Schnittstelle von Dorfentwicklung, Bildungsarbeit und Demokratieentwicklung, wie sie seit einigen Jahren sowohl in der Regionalplanung als auch der ländlichen Erwachsenenbildung diskutiert wird (Frahm & Hoops: 1987).
Christian Boeser ist Akademischer Oberrat an der Universität Augsburg, Erwachsenenpädagoge, Leiter des Netzwerks Politische Bildung Bayern und Initiator des Projekts „Streitförderer“, bei dem es um die Förderung einer demokratischen Streitkultur geht. Zusammen mit Wenzel hat er außerdem das erfolgreiche Format „Lange Nacht der Demokratie“ entwickelt, das seit 2018 alle zwei Jahre in bayerischen Kommunen und neuerdings auch außerhalb Bayerns stattfindet. In der Nacht vor dem Feiertag zur Deutschen Einheit am 3. Oktober werden in zahlreichen Städten und Dörfern konzertierte Aktionen zur Demokratieentwicklung in einem breiten Bündnis von Beteiligten aus Wirtschaft, Kultur, Bildung und Verwaltung durchgeführt. Der zweite Autor, Florian Wenzel, ist selbstständiger Moderator und Prozessbegleiter im Bereich des Demokratie-Lernens und koordiniert zahlreiche nationale wie internationale Projekte. Er ist Mitarbeiter im Netzwerk Politische Bildung Bayern und unterhält die Plattform www.peripheria.de.
Mit dem Handbuch zur „Dorfentwicklung“ liegt von den beiden Autoren neben dem zur „Langen Nacht der Demokratie“ (Boeser & Wenzel: 2022) ein weiteres Methodenbuch für die politische Bildungsarbeit vor.
Das Konzept des Dorfgesprächs wurde von Boeser und Wenzel zwischen 2017 und 2019 im Rahmen eines Modellprojekts der „Bundeszentrale für politische Bildung“ in Oberbayern in sieben Kommunen erprobt und evaluiert. Ab 2020 kam der Aspekt der „Streitkultur“ hinzu und findet in der vorliegenden zweiten Auflage seinen Niederschlag. Zwischenzeitlich ist das Konzept in 50 Kommunen deutschlandweit umgesetzt worden.
Anlass dieser Initiative waren für die Autoren gesellschaftliche Spaltungstendenzen seit 2015, das Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen sowie die Verbreitung von Verschwörungstheorien, Hass und Hetze.
Das Dorfgespräch soll vor diesem Hintergrund Menschen zusammenbringen, die sich im Alltag vielfach nicht (mehr) aktiv begegnen und die oft in unterschiedlichen Lebenszusammenhängen leben. Sie müssen voneinander erfahren, Geschichten hören und Anteil nehmen können. Es geht um „die (Re)Inszenierung eines Ortes als öffentlicher Treffpunkt“ (Wenzel & Boeser: 2022, S. 76) und im Kern um die Stärkung des Dorfes als Lebensraum. Dabei können wirtschaftliche, architektonische, infrastrukturelle oder soziale Entwicklungen im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Die Dorfgespräche rücken die Menschen mit ihren Talenten und Kompetenzen, aber auch mit ihren Sorgen und Nöten in den Mittelpunkt. Bevor die konkreten Planungsprozesse beginnen, muss jedoch Vertrauen entstehen. Das Dorf soll zu einer lernenden Gemeinschaft werden.
Das Konzept geht von folgenden sozialpsychologischen und gruppendynamischen Grundannahmen aus:
- Werte, Beziehungen und Konflikte der Beteiligten sind der Ausgangspunkt,
- bestehende Macht- und Abhängigkeitsstrukturen müssen sichtbar gemacht werden,
- Gestaltung eines (neuen) „Wir-Gefühls“ hat Priorität,
- Stärkung des politischen Bewusstseins und Motivation zur aktiven Teilnahme vor Ort,
- durch barrierefreie und niederschwellig didaktische Formate und Räume sollen möglichst viele Menschen angesprochen werden.
Zentraler Ausgangspunkt ist dabei die persönliche Begegnung als Basis eines nicht nur rationalen, sondern auch werteorientierten und emotionalen Dialogs. Im Fokus stehen die Menschen und nicht ihre Institutionen. Es geht um die Stärkung der Beziehungsfähigkeit für Veränderungen in der Dorfgemeinschaft. Dabei wird auch immer wieder deutlich, dass ein Dorfgespräch nur dann erfolgreich sein kann, wenn Menschen vor Ort bürgerschaftlich Verantwortung übernehmen. Hinzu kommt, dass die lokale Politik und Verwaltung den Beteiligungsprozess ernst nehmen und als Bestandteil kommunaler Selbstverwaltung sehen muss. Die Gefahr allerdings, dass Bürgerbeteiligung mehr oder weniger eine Alibifunktion für Politik und Verwaltung bekommt und zur Makulatur wird, ist vorhanden.
Vier zentrale Kriterien der Dorfgespräche werden ausführlich erläutert und machen den Hauptteil der Handreichung mit zahlreichen methodischen Hinweisen und Erfahrungen aus (ebd. S. 34 – 117): Beteiligung, Motivation, Dialog und Verstetigung. Dabei werden die Praxiserfahrungen der Autoren deutlich und auch ihre Theorieexpertise, die als „Konzeptionelle Grundlage“ an verschiedenen Stellen die Praxis erläutern.
Der didaktische Prozess eines Dorfgesprächs umfasst nach den Erfahrungen der Autoren ein Zeitfenster von sechs bis neun Monaten und benötigt ein Budget von 4.000 bis 6.000 Euro (Catering, Materialien, Dienstleistungen):
- ein Monat Vor-Planung: Festlegung und Akquise einer Gruppe von Prozessverantwortlichen, Moderator*innen und „Türöffner“;
- ein bis zwei Monate Stakeholder-Interviews sowie Definition von Erfolgskriterien;
- ein Monat Öffentlichkeitsarbeit;
- über zwei Monate hinweg zwei bis drei Dialogabende für die Dorfgemeinschaft mit dem Ziel der Begegnung, Auseinandersetzung und der Konkretisierung. Es geht um niederschwellige Begegnungsräume und Zeiten des Zuhörens und Aushandelns sowie der konkreten Entwicklung von Projekten;
- zwei Monate Implementierung von Detailprojekten und Stakeholder-Treffen für erste Ergebnisse;
- es folgt die Umsetzung der gesteckten Ziele für die Dorferneuerung in den Alltag.
Der Erfolg eines Dorfgesprächs hängt entscheidend vom Engagement der Beteiligten ab. Es ist kein „Top-down“-Prozess, bei dem wenige Expert*innen und politisch Verantwortliche Pläne für alle umsetzen. Es ist ein kollaborativer Beteiligungsprozess. Dazu benötigt es Moderator*innen, die über ein entsprechendes methodisch-didaktisches Instrumentarium verfügen. Von Bedeutung sind auch „ungewöhnliche Orte und Räume“ (ebd., S. 72 – 75), die keine klassischen Bildungsräume wie Volkshochschulen, Rathäuser oder Pfarrheime sein sollten. Und auch zu den Sitzmöglichkeiten und -anordnungen werden von Boeser und Wenzel Alternativen empfohlen – z. B. leichte und transportable Papphocker, die beschriftet werden können und gruppendynamische Prozesse unterstützen. Detailreich und auch didaktisch gut aufbereitet wird das Format der „Dialogabende“, einem Kernstück der Dorfgespräche, die sich auch unabhängig vom Konzept in anderen Kontexten einsetzen lassen.
Bildung wird in dem Konzept im konstruktivistischen Sinne als ein Prozess der Begegnung und des Austauschs unterschiedlicher Positionen bzw. als eine helfende Beziehung für demokratische vor-Ort-Entwicklungen verstanden. Das Konzept der Dorfgespräche ist eine gelungene Anregung und Hilfestellung, das an Konzepte der Bürgerbeteiligung aus den 1980er- und 1990er-Jahren (z. B. Rogge, Smith & van den Brink: 1997) sowie an Dorfentwicklungsmaßnahmen (z. B. Boos-Krüger: 1998; Frahm & Hoops: 1987) anschließt. Didaktisch sowie konzeptionell wird eine gemeinwesen- und netzwerkorientierte Erwachsenenbildung sichtbar, die derzeit nicht nur im ländlichen Raum an strategischer Bedeutung gewinnt (Egger & Bisovsky: 2023). //
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