Einleitung
Im Anschluss an die, in meinem letzten Beitrag1 erläuterte allgemeine kritische Perspektive auf das Konzept des lebenslangen Lernens und damit in Zusammenhang stehenden pädagogischen Maßnahmen, steht hier nun die Frage im Zentrum, inwieweit die gewonnenen Erkenntnisse konkret Anwendung finden können. Dies geschieht am Beispiel des Kompetenz-Portfolios des Rings Österreichischer Bildungswerke.
Dabei sind folgende Fragestellungen leitend: Welche Risiken birgt das Kompetenz-Portfolio und welche Aspekte der allgemeinen Kritik am lebenslangen Lernen scheinen in Bezug darauf als gerechtfertigt? Welche Chancen hat das Kompetenz-Portfolio, um diese Risiken zu vermeiden? Inwieweit stellt es aufgrund seiner besonderen Beschaffenheit vielleicht sogar schon eine Reaktion auf diese Kritik dar? Was bleibt schließlich als Handlungsoption offen, um verstärkt einer Entwicklung von der Citizenship- hin zur Employability-Perspektive entgegenzuwirken?
Risiken
So lässt sich auf den ersten Blick eine generelle Skepsis gegenüber einer Verknüpfung der Bereiche Zivilgesellschaft und Erwerbsarbeit auch im Falle des Kompetenz-Portfolios nicht von der Hand weisen. Die Charakteristik der Freiwilligenarbeit, die sich auszeichnet durch den „freien/freiwilligen und selbstbestimmten ‚Gegenstandsbezug‘, von moralischen Gefühlen und persönlichen Leidenschaften“ (Kellner: 2007a, S. 53) kann zu Gunsten arbeitsmarktrelevanter Interessen aus dem Fokus geraten. Dies scheint tatsächlich eine ganz ausschlaggebende Problematik zu sein, die in vielen bildungspolitischen Entwicklungen im Zuge des lebenslangen Lernens mehr thematisiert werden müsste. Denn auf Grundlage des Humankapitalgedankens, der den Menschen in seiner Gesamtheit für ökonomische Verwertungsprozesse systematisch nutzen möchte, könnte ein Bilanzierungsinstrument wie das Kompetenz-Portfolio in genau diese Kerbe schlagen: „Die Ökonomisierung aller Lebenssituationen und die Ausrichtung aller individuellen Interessen und Handlungen an den Interessen des Marktes können dazu führen, dass das Handlungsfeld Freiwilligenarbeit seiner Eigenständigkeit und Eigensinnigkeit tendenziell beraubt wird und das freiwilliges Engagement […] zum berufsvorbereitenden Lehrgang wird.“ (Düx et al.: 2008, S. 196).
Einerseits kommt den Maßnahmen zur Bilanzierung informell erworbener Kompetenzen in Bezug auf die Unsicherheit und die Fragmentierung der Bildungswelt nun eine besondere Bedeutung zu, denn sie bieten den Lernenden die Möglichkeit, sich ihren fortlaufenden Bildungsprozess und die ständige Wissensakkumulation bestätigen zu lassen und können somit „dem erworbenen Wissen seine […] Flüchtigkeit nehmen und es symbolisch festhalten“ (Kade & Seitter: 1998, S. 55). Andererseits sorgen sie jedoch gleichzeitig für einen verstärkten Wettbewerb und Konkurrenzkampf, indem sie individuelle informelle Lernprozesse sichtbar und dadurch auch erst miteinander vergleichbar machen (vgl. Pongratz: 2007, S. 11). Die Folge ist eine immerwährende Qualitätskontrolle von Bildungsprozessen durch deren Dokumentierung und Standardisierung.
Eine weitere Gefahr besteht darin, dass das Potenzial, das im Kompetenzbegriff bezüglich einer zeitgemäßen Übersetzung des klassischen Bildungsbegriffs liegt, durch die Verwendung eines stark begrenzten Kompetenzvokabulars eingeschränkt wird. Dieses orientiert sich am dominierenden betriebswirtschaftlichen Kompetenzdiskurs und stellt somit eine Reduktion auf die kognitiven Fertigkeiten dar. Dadurch wird die Breite, der im Freiwilligenengagement potenziell erwerbbaren Kompetenzen nicht abgebildet und der Blick auf dieses verkürzt. Bei einer Fokussierung auf einzelne Kompetenzen kommt es zur Reduktion auf ein gesellschaftlich erwünschtes, limitiertes Kontingent an Inhalten. Verstärkt wird der Eindruck dieses Zurechtstutzens und Inform-Bringens von vielfältigen Erfahrungen durch die Wahl der Form eines Portfolios, einem Instrument, das sich ansonsten v.a. im wirtschaftlichen Kontext findet, nämlich als Mappe mit einer Ansammlung von Bildungsprodukten. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, erfolgt eine Analyse der Kompetenzen ausschließlich hinsichtlich ihrer für den Arbeitsmarkt relevanten Aspekte.
Chancen
Es zeigt sich also, dass sich die Kritik am Kompetenz-Portfolio vor allem darauf richtet, dass überhaupt eine Verknüpfung zwischen Freiwilligenengagement und Erwerbsarbeit hergestellt wird und diese in diesem Zusammenhang auch ernst genommen werden sollte. Da es nun aber bereits sehr viele Modelle im Bereich der Kompetenzbilanzierung gibt und dies – wie sich noch zeigen wird – auch viele Chancen beinhaltet, sollte vor allem die Frage diskutiert werden, auf welche Art und Weise die Erstellung erfolgt.
Anlässlich der nicht von der Hand zu weisenden Ökonomisierungstendenzen und dem damit zusammenhängenden Konkurrenzkampf in nahezu allen Lebensbereichen besteht die Aufgabe nun also in der Suche nach einer „Lernkultur, die möglichst ohne Belehren auskommt, aber soziales Lernen und Weiterlernen anregt und Lernen als Beitrag zu sozialem Zusammenhalt versteht […]. Dann bekommt auch ‚lebenslanges Lernen‘ einen pädagogischen Sinn: Es bietet die Chance selbstbestimmte Lernprozesse in sozialen Zusammenhängen zu organisieren, zu betreuen und zu erleben“ (Wrentschur: 2012, S. 103 f.).
Dabei bietet das zivilgesellschaftliche Umfeld, in dem das Freiwilligenengagement zu verorten ist, ein geeignetes Lernfeld, in dem sich der/die Einzelne auf implizite Art und Weise mit wichtigen Fragen auseinandersetzen kann, wie zum Beispiel: Welche Gesellschaft befördern wir mit unserer Arbeit? Und bezogen auf die darin stattfindenden Lernprozesse: Worin besteht ein Lernen, das Menschen befähigt, gut zu leben?
Warum sich also die Zivilgesellschaft als eigenes Lernfeld nicht zu Nutze machen und dieses fördern, indem den dort gemachten Lernprozessen Anerkennung geschenkt wird?
Freiwilligenengagement stellt idealerweise einen Bereich dar, der zum größten Teil außerhalb der Einflusssphäre von Staat und Markt liegt und damit Platz für die direkte Begegnung zwischen Individuum und Gesellschaft bietet. Somit eignet es sich gut für die Bildung eines kritischen Bewusstseins über gesellschaftliche Zusammenhänge. Der Vorteil dieses nicht geplanten und beabsichtigten Lernarrangements liegt auf der Hand: „Mit wachsender Komplexität der Gesellschaft nimmt die Bedeutung nicht formal organisierter Lernprozesse zu. Wer in vielen Settings agiert konfrontiert sich mit verschiedenen sozialen Umwelten, setzt sich mit diesen auseinander“ (Düx et al.: 2008, S. 231). Diese Komplexität kann durch keine gesteuerten Prozesse künstlich hergestellt werden. Im Lernfeld Freiwilligenengagement wird dadurch eine ganz spezielle Verknüpfung zwischen individuellem Lernprozess und sozialer Umwelt geschaffen.
Die Portfolio-Erstellung als pädagogisch begleiteter Prozess
Nun bietet der Portfolio-Prozess die Möglichkeit der Kritik und der Erweiterung des Kompetenzansatzes (vgl. Kellner 2007a, S. 54), denn im Vergleich zu anderen Kompetenznachweisverfahren handelt es sich dabei um einen begleiteten Selbsteinschätzungsprozess. Die methodische Vorgehensweise zeichnet sich durch eine Kombination aus Workshoparbeit und Einzelberatung in Form einer begleiteten Selbstbewertung aus. Somit verfügt das pädagogische Personal – in diesem Fall also die Portfolio-BegleiterInnen – über enorme Einflussmöglichkeiten. So kann z. B. im Zuge des Portfolio-Prozesses der Versuch unternommen werden, „die im Doppelcharakter [von Bildung] enthaltene Dialektik von geistiger Autonomie […] und Anpassung an die gesellschaftlichen Verhältnisse […] aufzunehmen und weiterzuentwickeln.“ (Lahner: 2011, S. 96). Zuträglich ist ihm dabei das Lernfeld Freiwilligenengagement, denn es ermöglicht „Erfahrung und Erleben, wie soziale Probleme in ihrer Komplexität analysiert, beurteilt und aufgegriffen werden – daraus bildet sich Bewusstsein: Bildung beinhaltet Reflexion und Entscheidung zum Handeln ohne auf Wissen und soziales Potential zu verzichten.“ (Lenz zitiert nach Wrentschur: 2012, S. 102).
Die große Chance des Kompetenz-Portfolios besteht zudem darin, gerade vor dem Hintergrund der verschiedenen Diskurse über Bildung, Kompetenz und lebenslanges Lernen zu diskutieren, welchen Sinn die Erstellung desselben hat und damit einer reinen Verwertungslogik entgegenzusteuern. Der Portfolio-Prozess, verstanden als explizit pädagogische Situation, bietet den Freiwilligen die Möglichkeit, sich genau über die Risiken, die eine zu unbekümmerte Handhabung beinhaltet, bewusst zu werden, denn: „Die Geschichte zeigt, dass es keine Eindimensionalität im Bildungsdiskurs gibt, sondern dass gerade das Spannungsverhältnis zwischen konkurrierenden Anschauungen der entscheidende Impulsgeber für Innovationen im Bildungsbereich darstellt.“ (Fuchs: 2007, S. 148) Die Lösung kann also nicht in einer kompletten Ablehnung jeglicher pädagogischer Maßnahmen im Bereich des lebenslangen Lernens liegen, sondern es sollte durch ständige kritische Reflexion versucht werden, jede einzelne Maßnahme hinsichtlich ihrer Tendenz einer zu starken Zurichtung auf eine Verwertbarkeit des Individuums und seines Lernprozesses zu beurteilen. Darin verbirgt sich zusätzlich eine Chance für die Verknüpfung pädagogischer Praxis und Bildungstheorie, denn diese „haben zweifellos immer einen schweren Stand gehabt und haben ihn noch heute. Deshalb sollte aber gerade die hausgemachte Schwere überwunden und selbstkritische Lähmung vermieden werden. Die angemessene Selbstkritik hat daher nicht nur darin den eigenen Anteil am Falschen zu thematisieren, sondern auch die traditionelle Bornierungen sprengende Eröffnung neuer Horizonte voranzutreiben, sowohl theoretisch als auch praktisch.“ (Euler: 1997, S. 165).
Anregungen zur Ausgestaltung des Portfolio-Prozesses
Im Anschluss an die Diskussion der Chancen und des Potenzials des Kompetenz-Portfolios folgen an dieser Stelle nun Vorschläge zur Ausgestaltung der genannten Möglichkeiten.
Der Workshop für die Portfolio-Erstellung kann einen Rahmen bieten, in dem diese Möglichkeiten erprobt werden, und zwar aus den bereits erwähnten Gründen: Zum einen der Tatsache, dass es sich dabei um eine pädagogische Situation handelt mit dementsprechenden Einflussoptionen der Workshopleitenden, zum anderen aufgrund der Möglichkeit des offenen und aktiven Austausches innerhalb einer Peergroup. Dort kann v. a. über das Aufwerfen entsprechender Fragen das Kompetenz-Portfolio weiterentwickelt werden.
Eine der zu stellenden Fragen wäre zum Beispiel: Für die Entwicklung welcher Kompetenzen eignet sich das Freiwilligenengagement? Diese sollten dann auch im Kompetenz-Portfolio abgebildet werden. Denn die Oberbegriffe der fachlich-methodischen, sozial-kommunikativen sowie personalen Kompetenz kategorisieren die Kompetenzen zwar, mit welchen konkreten Einzelkompetenzen diese dann gefüllt werden, ist dem/der ErstellerIn jedoch selbst überlassen. So könnten diese auch mit Kompetenzen aus alternativen Modellen gefüllt werden, die im Zusammenhang mit Freiwilligenengagement Sinn ergeben. Ein gutes Beispiel hierfür liefert Oskar Negts Konzept der „Gesellschaftlichen Kompetenzen“ (2011). Seine Auswahl von sechs Kompetenzen (Identitätskompetenz, Gerechtigkeitskompetenz, technologische, ökologische, ökonomische und historische Kompetenz) begründet er mit der Tatsache, dass mit ihnen „individuelle Interessen mit dem Blick auf das Ganze der Gesellschaft, das Gemeinwesen“ (ebd., S. 222) verbunden werden können und sie es dadurch ermöglichen, gesellschaftliche Zusammenhänge herzustellen. Dadurch soll individuelle und gesellschaftliche Emanzipation, Urteilskraft, Autonomie sowie Partizipation an demokratischen Prozessen gefördert werden.
Darüber hinaus ist es das Format des Kompetenz-Portfolios, nämlich das sich Bewusstwerden und Erfassen von Kompetenzen in einem geführten Dialog mit ausgebildeten PortfoliobegleiterInnen, bei dem eine Reflexion über die eigenen Tätigkeiten im Ehrenamt und über die vom Arbeitsmarkt geforderten Kompetenzen im Mittelpunkt steht, welches eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Kompetenzen ermöglicht. Der Vorteil des Kompetenz-Prozesses liegt also v.a. in der „konstruktiven Erweiterung des [gängigen] Kompetenzansatzes“ (Kellner: 2007a, S. 58).
Die intensive Beschäftigung mit dem Thema Bildung und allen damit zusammenhängenden Begrifflichkeiten führt nun jedoch zu keinerlei Vereinfachung der Situation, sondern eröffnet „den Blick auf ein Meer an Ambivalenzen“ (Bakic & Horvath: 2011, S. 17). Diese auszuloten kann jedoch davor bewahren, dass die Mechanismen, die Bildung zum „rhetorischen und legitimatorischen Selbstbedienungsladen für jedwede pragmatisch und rasch durchzuführende Umsteuerung [machen]“ (ebd.), als solche nicht erkannt werden.
Bei allen Begriffen – lebenslanges Lernen, Kompetenz und Bildung – hat sich gezeigt, dass sie im Laufe der Zeit einer starken Veränderung unterlagen und auch aktuell noch sehr unterschiedlich ausgelegt werden können. Sich diesen Prozess, vor allem in Abhängigkeit von seiner jeweiligen politischen, sozialen und ökonomischen Situation zu vergegenwärtigen, erscheint daher eine sehr sinnvolle Möglichkeit, um etwaigen Gefahren einer unreflektierten Benutzung dieser Begriffe entgegenzuwirken. Daher sollte dies auch in den Workshops für die Erstellung des Kompetenz-Portfolios thematisiert werden. Eine Sensibilisierung der Teilnehmenden für die unterschiedlichen Diskurse erscheint in diesem Zusammenhang sehr wichtig, damit sie ihren eigenen Kompass für den Begriffsdschungel entwickeln können. Dem Risiko einer personalen Selbstverdinglichung durch die „Simulierung bestimmter Absichten“ (Honneth zitiert nach Kellner: 2007b, S. 112) steht somit die Chance einer produktiven Selbsterkundung gegenüber. //