Vor neuen Aufgaben: Die europäische Erwachsenenbildung in unruhigen Zeiten

Es sind bewegte Zeiten in Europa. In vielen Ländern steigt die Skepsis gegenüber dem Projekt EU. Während drängende langfristige Weichenstellungen wie der Kampf gegen den Klimawandel, der Umgang mit digitalen Informationstechnologien oder die Rolle Europas in der Welt zu behandeln sind, dominierten das Gerangel um den Brexit oder die Neubesetzung der Kommission im letzten Jahr die Debatte. Hinzu kam und kommt der Umgang mit der Corona-Pandemie, in der Europa wenig einheitlich und solidarisch agierte. Die neue EU-Kommission unter Ursula von der Leyen versucht derweil, ehrgeizige Zielsetzungen zu formulieren und die Mitgliedsstaaten davon zu überzeugen. Vor diesem Hintergrund stellt sich auch die Frage nach der Rolle der Erwachsenenbildung in Europa und ihren Perspektiven in den kommenden Jahren.

Lost in diversity – die große Vielfalt der Erwachsenenbildung

Die Situation der Erwachsenenbildung und ihrer Träger ist in Europa noch immer von großer Vielfalt und substantiellen Unterschieden geprägt. Dies liegt zum einen und vorrangig in der Tatsache begründet, dass die Erwachsenenbildung vermutlich jener Sub-Sektor des Bildungssystems ist, in dem die nationalen Traditionslinien noch heute am wirkmächtigsten sind.

In den nordischen Ländern etwa gehört eine ganzheitlich verstandene „Folkbildning“ quasi zur DNA der einzelnen Länder (Andersen & Björkman: 2018). Erwachsenenbildung wird vom bürgerschaftlichen Engagement aus gedacht und vom Staat breit gefördert, das Bewusstsein für ihre Wirkungen ist Allgemeingut. Berufliche Qualifizierung wird dabei als separater Strang gedacht. In Mitteleuropa und bis zu einem gewissen Grade auch in den angelsächsischen Ländern gilt Erwachsenenbildung als Aufgabe und Kompetenz der Kommune, die diese Dienstleistung im Sinne kommunaler Daseinsfürsorge bereitstellt. Demgegenüber konzentriert sich das Verständnis von Erwachsenenbildung in Osteuropa seit dem Zusammenbruch des Sozialismus noch immer auf berufliche Qualifikation (die selbstverständlich auch in anderen Regionen eine herausgehobene Rolle spielt). Die südeuropäische Erwachsenenbildung ist von einer Dominanz kleiner, lokaler Träger geprägt und hängt oftmals in existenzieller Weise von europäischen Fördermöglichkeiten ab. Inzwischen haben sich auf globaler Ebene die wichtigsten Netzwerke und Institutionen, u.a. der Weltrat für Erwachsenenbildung (ICAE), das UNESCO Institut für lebenslanges Lernen (UIL) und die „Global Campaign for Education“ zusammengetan, um diesem Effekt durch ein gemeinsames Branding des Begriffes „ALE“ (Adult Learning and Education) entgegenzuwirken. Der Launch des neuen Brands wurde Corona-bedingt auf  Ende dieses Jahres verschoben, der Europäische Erwachsenenbildungs-Verband EAEA und auch der Deutsche Volkshochschul-Verband beteiligen sich an dem Projekt. (Gartenschlaeger: 2019).

Einen guten Überblick über die aktuell in den verschiedenen Regionen diskutierten Fragestellungen und Probleme gibt die jährlich durchgeführte Umfrage der EAEA unter ihren Mitgliedern (EAEA: 2019). Dort werden für 2019 folgende Themen prioritär genannt:

  • Viele Mitglieder beklagen, dass Erwachsenenbildungsangebote, Rahmenbedingungen und Finanzierung noch immer zu einseitig auf die berufliche Qualifizierung fokussiert sind. Aspekte wie gesellschaftliches Miteinander, Inklusion oder aktives bürgerschaftliches Engagement als Themen der Erwachsenenbildung werden insbesondere von Regierungen zu wenig wertgeschätzt und gefördert. Regierungshandeln ist vielfach von einem veralteten, dichotomischen Verständnis von existentiell notwendiger beruflicher Qualifizierung einerseits und allgemeiner Erwachsenenbildung andererseits, die als Luxus angesehen wird, geprägt.
  • Bildungsferne Schichten haben noch immer die geringsten Partizipationsraten in der Erwachsenenbildung. Die EU-Kommission hat hierfür den Begriff „low-skilled trap“ geprägt. Dieser Effekt ist im Übrigen sowohl bei der Weiterbildung am Arbeitsplatz, als auch bei der Beteiligung an anderen Angeboten zu beobachten. Ursächlich hierfür sind u.a. eine gewisse Stigmatisierung und negative Lernerfahrungen.
  • Ein Thema, das besonders die berufliche Qualifizierung betrifft, ist die Anerkennung von Fertigkeiten und Abschlüssen. Europaweit sind (mit wenigen Ausnahmen) die Systeme der Anerkennung bestehender Kompetenzen unterentwickelt.
  • Wie kein anderer Sektor des Bildungswesens wird die Erwachsenenbildung in Europa von zivilgesellschaftlichen Organisationen getragen. Ungeachtet dieser Tatsache gestalteten sich die Partizipationsmöglichkeiten der Träger an sie betreffende politische Entscheidungsprozesse in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich.
  • Der Einfluss europäischer Empfehlungen (Vorgaben dürfen im Bildungsbereich nicht gemacht werden, da dieser Sektor unter die Hoheit der Mitgliedsstaaten fällt) wird recht unterschiedlich bewertet: Während er in kleineren, wirtschaftlich eher schwächeren Staaten am größten ist (interessanterweise auch bei solchen, die gar nicht der EU angehören), ist er in Ländern wie Deutschland sehr begrenzt. Demgegenüber erfahren die globalen „Sustainable Development Goals“ (SDGs) eine wachsende Aufmerksamkeit für politische Entscheidungen, allerdings auf niedrigem Ausgangsniveau.

Die neue EU-Kommission: Bildung hoch auf der Agenda

In Brüssel brachte das letzte Jahr einige wichtige Veränderungen mit sich: Mit Ursula von der Leyen wurde eine neue Kommissionspräsidentin gewählt, auch ihr Kabinett enthält viele neue Gesichter. Glaubt man ersten Verlautbarungen, so sieht sie es als eine ihrer Hauptaufgaben an, die EU wieder „näher zu den Menschen zu bringen“. Partizipation und Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern sind dabei wichtige Bausteine. Der erfolgreichen Umsetzung des Konzeptes des lebenslangen Lernens und des Rechts auf Bildung für alle wird eine Schlüsselrolle für die weitere Entwicklung Europas in den kommenden Jahren zugewiesen. Dabei wird ein Fokus weiterhin auf der beruflichen Qualifizierung liegen, allerdings erweitert in Richtung der Vermittlung grundlegender Fertigkeiten („foundational und transversal skills“) im Sinne einer Befähigung zum lebenslangen Lernen einerseits, digitaler Kompetenzen andererseits. Deutlich ist zudem die wachsende Bedeutung, die der Vermittlung Europäischer und demokratischer Werte zugemessen wird. Diese positive Tendenz einer verstärkten Wahrnehmung der Weiterbildung als Teil des lebenslangen Lernens spiegelt sich auch in den ersten Konzeptpapieren der neuen Kommission. So basiert die „European Skills Agenda“ (European Commission: European Skills Agenda 2020) vom Juni 2020 auf dem Konzept des lebenslangen Lernens und schließt mit Aktion 8 („Skills for Life“) ausdrücklich auch nicht beruflich verwertbare Bildung mit ein. Im Konzept des Wiederaufbaufonds zur Bewältigung der Corona-Pandemie wird Weiterbildung ausdrücklich als eine von sieben „Flagship-Projects“ genannt (European Commission/Next Generation EU: 2020). Weitere wichtige Weichenstellungen werden für den Herbst erwartet, unter anderem die neue Bildungsstrategie und eine Weiterführung der „Europäischen Agenda für Erwachsenenbildung“.

Demgegenüber sind angesichts des neuen Fokus auf die Bewältigung der Pandemie substantielle Rückschläge bei der Ausgestaltung des Förderprogramms Erasmus+ zu erwarten. Ursprünglich waren hier starke Zuwächse geplant. Das Budget sollte mindestens verdoppelt werden, Europaparlament und Kommission sprachen sich sogar für eine Verdreifachung aus. In der Diskussion war auch eine Erweiterung der Spielräume für die Erwachsenenbildung, etwa indem wieder grenzüberschreitende Mobilitätsangebote für Lernende möglich werden oder bisher nicht zugängliche Programmlinien geöffnet werden sollten. Was davon umgesetzt werden kann, ist derzeit ungewiss und hängt davon ab, wie sich die drei beteiligten Parteien Parlament, Kommission und Mitgliedsstaaten einigen werden.

Die Zuständigkeit für die Erwachsenenbildung wird leider auch in der neuen Kommission auf drei Generaldirektionen (DGs) aufgeteilt: DG „Jobs“ (ehemals Employment) unter dem Luxemburger Nicolas Schmit beherbergt die Abteilung (Unit) für Erwachsenenbildung, die damit vermutlich weiterhin den Fokus auf beschäftigungswirksame Erwachsenenbildung legen wird. Demgegenüber werden andere wichtige Zuständigkeiten, insbesondere die für das gesamte Förderprogramm Erasmus+ in der DG „Innovation, Education and Youth“ gebündelt, die von der Bulgarin Mariya Gabriel geleitet wird. Zudem gibt es Indizien dafür, dass auch der neue Vize-Präsident Margaritis Schinas in seinem Portfolio zu „Promoting the European way of life“ Anteile insbesondere der politischen Erwachsenenbildung haben wird (European Parliament: 2019). Noch ist nicht absehbar, welche Konsequenzen diese Fragmentierung für eine holistische Sicht auf die Erwachsenenbildung (etwa in steuerlicher Hinsicht) haben wird. Die EAEA wird bei ihren Bemühungen für eine stärkere Beachtung der Erwachsenenbildung weiterhin auf die Unterstützung der „Lifelong Learning Interest Group“ (LLL Interest Group: 2020) rechnen können, in der sich interessierte Parlamentarier mit Vertretern der Erwachsenenbildung regelmäßig austauschen.

Auf dem Weg zu einem holistischen Verständnis von Erwachsenenbildung

Interessante Verschiebungen ergeben sich bei der Festlegung der thematischen Schwerpunkte für die Arbeit der EAEA in den nächsten Jahren. Dominierten auch hier in den vergangenen Jahren die Themen Qualifizierung für den Arbeitsmarkt und Grundbildung fast ausschließlich die Debatte, ist jetzt feststellbar, dass auf ein breiteres Verständnis von Erwachsenenbildung Bezug genommen wird. In der zweiten, überarbeiteten Auflage des „Manifesto for Adult Education in the 21st Century: The Power and Joy of Learning“(EAEA-Manifest: 2019) werden neben der öffentlichen Verantwortung für die Erwachsenenbildung ihr transformativer Charakter und ihr Beitrag zur Stärkung europäischer Werte betont. Daneben wird weiterhin die besondere Verantwortung für benachteiligte und marginalisierte Bevölkerungsgruppen, die Rolle der Erwachsenenbildung für berufliche Qualifizierung und die Herausforderungen der digitalen Entwicklung betont. Mit dem Konzept der „life skills“ versucht die EAEA zudem einen Grundkanon von Fertigkeiten zu definieren, die für eine vollwertige Teilhabe an Beruf und Gesellschaft sowie ein erfülltes individuelles Leben notwendig sind.

Interessant könnte in diesem Zusammenhang auch ein Prozess werden, den die EU-Kommission zur Neudefinition der erforderlichen Kompetenzen für europäische BürgerInnen im 21. Jahrhundert angestoßen hat. Die Kommission versucht unter dem Stichwort „Life Competencies – LifeComp“ (European Commission/LifeComp: 2020) zu beschreiben, welche Fertigkeiten europäische BürgerInnen heute benötigen. Dies wird in drei Kategorien systematisiert: Persönliche Kompetenzen (z.B. die Fähigkeit, für die eigenen Gesundheit Verantwortung zu tragen oder mit Veränderungen umzugehen), soziale Kompetenzen (wie Empathie, kommunikative Fertigkeiten oder die Befähigung zur Zusammenarbeit) und die Fertigkeit zum Lernen („Learning to Learn“, etwa die Befähigung zum selbstorganisierten Lernen). Es liegt auf der Hand, dass dieser Prozess erhebliche Auswirkungen auf die Ausgestaltung des Bildungssektors („Lifelong Learning“) haben sollte. Erfreulich ist dabei insbesondere, dass das Konzept einer Engführung auf kurzfristiges, beruflich verwertbares Wissen entgegensteht. Und auch die Erwachsenenbildung kann insofern profitieren, als dass sie unverzichtbar für das angestrebte Lernkontinuum im Lebensverlauf ist und Angebote verantwortet, die wichtig zur Zielerreichung sind (etwa in der Gesundheitsbildung und der politischen Bildung).

Es ist im Moment noch schwierig zu prognostizieren, wohin sich die Erwachsenenbildung unter der neuen EU-Kommission entwickeln wird. Neben einigen erfreulichen Anzeichen, die auf eine gestiegene Wertschätzung hindeuten, stimmt insbesondere die Fragmentierung des Sektors und seine knappe personelle Ausstattung in der Kommission skeptisch. Von zentraler Bedeutung wird daher eine koordinierte und effektive Lobbyarbeit sein. //

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Seit 1953 vertritt die „European Association for the Education of Adults“ (EAEA) die Interessen der Erwachsenenbildung auf europäischer Ebene. Dem Verband gehören 133 Organisationen aus 43 Ländern an. Neben der Interessenvertretung gegenüber den europäischen Institutionen widmet sich die EAEA vor allem der Vernetzung und dem Erfahrungsaustausch der Mitgliedseinrichtungen. Zudem werden kontinuierlich Fortbildungen zu europäischen Fragestellungen angeboten.

Kontakt:
European Association for the Education of Adults (EAEA)
Mundo-J
Rue de l’Industrie 10, 1000 Brussels
Tel. +32 2 893 25 22
eaea-office@eaea.org
www.eaea.org

1   Dieser Artikel basiert auf einer Veröffentlichung in der Zeitschrift EB – ERWACHSENENBILDUNG, Vierteljahresschrift für Theorie und Praxis der Katholischen Erwachsenenbildung Deutschland.

Literatur

Andersen, Lene Rachel  & Björkman, Tomas (2018): The Nordic Secret – A European story of beauty and freedom. Stockholm: fri tanke.

EAEA (2019): Adult Education in Europe 2019. A civil Society View. Online verfügbar unter: https://eaea.org/wp-content/uploads/2019/12/Country-Reports-2019.pdf [18.9.2020].

EAEA (2019): Manifesto for Adult Learning in the 21st century: The Power and Joy of Learning. Online verfügbar unter: https://eaea.org/wp-content/uploads/2019/04/eaea_manifesto_final_web_version_290319.pdf  [18.9.2020].

European Commission (2020): European Skills Agenda. Online verfügbar unter: https://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=1223 [18.9.2020].

European Commission (2020): LifeComp: The European Framework for Personal, Social and Learning to Learn Key Competence. Online verfügbar unter: https://ec.europa.eu/jrc/en/publication/eur-scientific-and-technical-research-reports/lifecomp-european-framework-personal-social-and-learning-learn-key-competence [18.9.2020].

European Commission (2020): NextGenerationEU. Commission presents next steps for €672.5 billion Recovery and Resilience Facility in 2021 Annual Sustainable Growth Strategy. Online verfügbar unter: https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/ip_20_1658 [18.9.2020].

European Parliament (2019): Hearings of European Commissioners-designate. Margaritis Schinas, Vice-President: Promoting the European way of life. Online verfügbar unter: http://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/BRIE/2019/640177/EPRS_BRI(2019)640177_EN.pdf [18.9.2020].

Gartenschlaeger, Uwe (2019): Why is Adult Education neglected – and what can we do to change this? In: ELM Magazine. Online verfügbar unter: https://elmmagazine.eu/news/why-is-adult-education-neglected-and-what-can-we-do-to-change-this/ [18.9.2020].

Lifelong learning Interest group (2020): Webpage. Online verfügbar unter: http://www.lll-interestgroup.eu/ [18.9.2020].

Gartenschlaeger, Uwe (2020): Vor neuen Aufgaben: Die europäische Erwachsenenbildung in unruhigen Zeiten. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Herbst/Winter 2020, Heft 271/71. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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