Europa gilt als Wiege der Zivilisation, als Grundlage für kulturelle Errungenschaften, als Hort von Vernunft, Freiheit und Demokratie. Trotz destruktiver politischer Systeme und ihrer Konsequenzen in der europäischen Geschichte gibt es genug positive Selbstbilder. Kaum thematisiert aber wird, dass das „zivilisierte Europa“ jahrhundertelang als „überlegene Herrenrasse“ agierte und andere Kulturen herabsetzte.
Mit dem Begriff „europäischer Traum“ will Aleida Assmann, vielfach ausgezeichnete Wissenschafterin im Fachbereich Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft, kein stolzes Selbstbild pflegen. „Europäischer Traum“ versteht sie als „ […] gemeinsames Leitbild des Denkens und Handelns für die Nationen der EU, die miteinander in einer Geschichte der Gewalt verbunden sind“. (S. 9). Die Geschichte Europas mit den Alpträumen und mit den Träumen von Frieden sieht Assmann als Lernprojekt, aus dem gemeinsame Normen und Ressourcen für die Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft zu gewinnen sind. Assmann meint, wir können aus der Geschichte lernen und sie akzentuiert die Rolle des kollektiven Selbstbilds der EU. „Erinnerungskultur“, für die Autorin ein anderer Begriff für politische Bildung, stärkt die gesellschaftliche Teilhabe und ermöglicht, sich in Museen, Denkstätten und Archiven selbstkritisch mit der eigenen Geschichte zu beschäftigen. Ein gesellschaftliches Bewusstsein von Gewalt, Unrecht und Rechtsstaatlichkeit, eine Widerstandskraft gegen Staatsterror werde dadurch aufgebaut. Solche Gedanken präsentiert die Autorin im ersten Teil ihres Buches, der der Frage „Kann man aus der Geschichte lernen?“ gewidmet ist.
In diesem ersten Teil erörtert die Autorin aus europäischer Perspektive die Friedenssicherung, die Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit, den Umgang mit historischer Wahrheit sowie die Wiederentdeckung der Menschenbereiche. Vier Bereiche, in denen nach Meinung der Autorin die europäische Gemeinschaft sehr wohl Konsequenzen gezogen habe. Sie habe in den letzten sieben Jahrzehnten nicht nur wirtschaftlichen Wiederaufbau betrieben, sondern auch entscheidende Lektionen aus der Geschichte gelernt.
Im zweiten Teil unterlegt Assmann die von ihr hervorgehobenen Lehrstationen in der europäischen Geschichte mit Fallbeispielen. Bezüglich „Friedenssicherung“ nennt sie den 8. und 9. Mai als europäische Gedenktage: Es gälte den 8./9. Mai 1945 als Tag des Sieges der Alliierten über Hitler-Deutschland und die Achsenmächte, als „Tag der Befreiung“ zu bedenken. Den 9. Mai 1950 hebt sie außerdem als Gründungstag der EU hervor – damals wurde vom französischen Außenminister Robert Schuman die europäische Produktionsgemeinschaft für Kohle- und Stahl vorgeschlagen. Für die „Demokratisierung“ beschreibt Assmann die deutschen Antworten auf Nationalsozialismus und DDR sowie die Problematik von „Vergessen und Erinnern“ am Beispiel des Spanischen Bürgerkrieges. Im Hinblick auf „Erinnerungskultur“ erörtert die Autorin die Rolle der 68er-Bewegung für die Bearbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Sie betont ein „dialogisches Erinnern“, also ein über das Nationale hinausgehendes Erinnern, um die verschränkte Gewaltgeschichte in Europa zu erkennen. Im Bereich „Menschenrechte“ verweist Assmann auf die Migrationsgeschichte in Europa im 20. Jahrhundert – besonders auf die deutsche im und nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie stellt Bezüge von Menschenrechtsfragen mit der Reform des deutschen Staatsangehörigkeitsgesetzes her und erörtert den Wandel Deutschlands zu einem Einwanderungsland.
Assmann skizziert die zwei Seiten in der Geschichte Europas: dessen Schönheit, Entdecker- und Erfinderpotenzial versus der Gewalt, Enteignung und Unterdrückung. Die von ihr genannten vier Lehren, die sie aus den letzten sieben Jahrzehnten der Geschichte Europas ableitet, sieht sie als künftige regulative Ideen und Prinzipien. Doch sie meint, der Prozess, aus der Geschichte zu lernen, hört nie auf, wir können die Lehren nicht revidieren, aber erweitern.
Assmanns Buch ermutigt den „europäischen Traum“ zu leben. Angenehm lesbar, informativ und kenntnisreich zeigt die Autorin Stationen des Erinnerns, aus denen Orientierungen für individuelles und gesellschaftliches Handeln zu gewinnen sind.
Das Buch ist für den Einsatz im Rahmen politischer Bildung, aber auch als Beitrag zur Diskussion über die weitere Entwicklung und Gestaltung Europas zu empfehlen. //
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