Gebt den Kindern einen Grund zum Lernen1
Bildung in Neuseeland

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Gebt den Kindern einen Grund, zu schreiben

Morgens entdecken die Schüler einer zweiten Klasse, die ich besuche, eine kleine Tür an der Wand, im Miniatur-Briefkasten daneben steckt ein Zettelchen. Unterschrieben von einer Fee, die, so steht es im Brief, hinter dieser Tür eingezogen ist. Von da an herrscht rege Korrespondenz zwischen ihr und den Kindern, an der sich selbst die schreibfaulsten begeistert beteiligen. Wer lässt sich schon die Gelegenheit entgehen, eine Fee zur Brieffreundin zu haben?

In einer anderen Klasse finden die Schüler einen Koffer mit einem Amulett und alten Landkarten. Aufgeregt reden sie durcheinander: Wer ist der Besitzer? Sind sie einem Geheimnis auf der Spur? „Schreibt doch etwas“, sagt die Lehrerin, und die Kinder lassen sich nicht lang bitten.

Ob Feenbriefe oder Schatzkoffer: In Neuseeland werden Kinder nach allen Regeln der Kunst zum Schreiben verführt. Auch die Aufsatzthemen, die sich Lehrer ausdenken, sind verlockend. „Wenn ich drei Wünsche frei hätte“ oder „Wenn ich fliegen könnte“. Und den Kindern fällt so viel ein, dass sie gar nicht mehr aufhören wollen zu schreiben.

Feiert den Fehler

An zahlreichen deutschen Schulen lernen Kinder, nach Gehör zu schreiben. Fehler werden nicht korrigiert, weil man fürchtet, die Kinder sonst zu entmutigen. Eine Methode, die man in Neuseeland abwegig findet: Warum zulassen, dass sich Kinder an etwas Falsches gewöhnen, wenn doch jeder weiß, wie schwer es ist, einmal Gelerntes wieder zu entlernen? Außerdem käme keiner auf die Idee, dass der Hinweis auf einen Fehler ein Kind demotivieren würde, denn in Neuseeland sind Fehler nichts Schlimmes. Im Gegenteil: Man feiert sie. „Was für ein großartiger Fehler!“, ruft die Lehrerin, als ein Mädchen im Matheunterricht ein falsches Ergebnis nennt, weil dahinter eine interessante Strategie steckt, und in der ersten Klasse werden die Radierer aus den Federtaschen verbannt, weil Fehler nichts sind, was man beschämt entfernen muss. „Und wieder wächst dein Gehirn ein bisschen“, sagen die Lehrer, wenn ein Kind einen Fehler macht.

Als ich mir anschaue, wie die neuseeländischen Lehrer einer Grundschule, die ich besuche, Aufsätze korrigieren, merke ich aber, dass sie sehr genau wissen, wie viel Frustration sie einem Kind zumuten können. Der ursprüngliche Text des Kindes wird immer stehen gelassen, und alles, was man mit einem Häkchen versehen kann, weil es richtig ist, bekommt auch eins. Als Ansporn. Die Verbesserungen stehen gut lesbar darüber. Für sie benutzen Lehrer grundsätzlich einen grünen Stift, da Rot zu sehr Symbol für alles Negative geworden ist.

Zeigt Whanaungatanga

Whanaungatanga stammt aus der Sprache der Maori, der Ureinwohner Neuseelands, und hat keine deutsche Entsprechung, weil die damit verbundene Vorstellung in unserer Kultur höchstens als vage Sehnsucht existiert. Bei den Maori ist Whanaungatanga ein zentraler Begriff und bezeichnet das Gefühl von tiefer Verbundenheit. Konkret bedeutet Whanaungatanga, für die anderen zu sorgen, weil ihr Geschick untrennbar mit dem eigenen verbunden ist.

Die Wirkung von Whanaungatanga spürt man an neuseeländischen Schulen jeden Tag: Zu manchen Zeiten beantworten Kinder das Telefon im Schulbüro, damit die Sekretärin Pause machen kann, und als ein Junge wegen einer Krebserkrankung seine Haare verliert, rasieren sich die Klassenkameraden ihre auch ab. Nach dem Terrorangriff auf die Moschee in Christchurch staunten Menschen auf der ganzen Welt über die empathische Reaktion der Premierministerin und die Menschenketten, die Neuseeländer rund um Moscheen bildeten. Auch das war nichts anderes als Whanaungatanga. Uns Deutschen würde ein bisschen mehr Whanaungatanga äußerst guttun, und da könnte man sich von den neuseeländischen Schulen einiges abgucken. Die Schulen, die ich besuche, fördern Whanaungatanga, wo es nur geht. Sie haben klassenübergreifende Unterrichtsthemen und veranstalten Kinoabende in der Aula, und außerdem sorgen sie dafür, dass die Schüler sich in der unmittelbaren Umgebung engagieren, zum Beispiel indem sie am Strand Müll sammeln oder mit den Bewohnern eines nahegelegenen Altersheims Aerobic machen.

Zieht an einem Strang

Den ersten Entwurf des aktuellen neuseeländischen Curriculums verfassten im Jahr 2004 mehr als 15000 Schüler, Lehrer, Direktoren, Eltern, Wissenschafter und Maori-Vertreter zusammen. Anschließend wurden alle Neuseeländer eingeladen, Anmerkungen zu machen. Dass eine solche Einbindung der gesamten Bevölkerung Zeit und Mühe kostet, nahm man gern in Kauf, weil man wusste, dass ein breiter Konsens auf lange Sicht Probleme erspart.

Heute eint das Curriculum die Schulen Neuseelands, setzt dabei aber auf Kohärenz statt Gleichmacherei. Statt umfassender Kontrolle schaltet sich der neuseeländische Staat nur am Anfang und Ende ein, den Weg dazwischen macht er frei. Das Curriculum definiert die Lernziele, die für alle Schulen im Land bindend sind, und die Hauptaufgabe der Beamten besteht darin, sicher zu stellen, dass eine Schule diese erreicht. Wie sie das tut, ist zweitrangig. Mikromanagement gibt es nicht, und damit hat das Land Erfolg. In internationalen Vergleichsstudien schneidet Neuseeland über dem OECD-Durchschnitt ab.

Als ich einem neuseeländischen Lehrer erzähle, dass wir gar kein landesweit verbindliches Curriculum haben, sondern jedes Bundesland sein eigenes, weiten sich seine Augen. Ein Land, in dem Bildung nicht Chefsache ist? Wie kann das gehen? Die Antwort: Es geht nicht gut. In Deutschland fehlt die gemeinsame Vision, es fehlt der Masterplan, und das sollten wir ändern.

Bringt den Kindern die Liebe zu Büchern bei

„Puh“, stöhnt die Lehrerin, als sie den Klassenraum betritt. „Die ist aber schwer“. In der Hand hält sie eine Reisetasche. Als sie den Reißverschluss öffnet, purzeln Gummistiefel und Stilettos, Turnschuhe und Sandalen heraus.

Die Lehrerin schlüpft in ein Paar Stiefel, als sei es das Natürlichste der Welt, dass sie mit dem gesamten Inhalt ihres Schuhschranks in der Schule aufgetaucht ist. „Sehr bequem. Aber in ein paar Tagen gehe ich abends aus. Welche Schuhe ziehe ich da an?“ Ein Kind zeigt auf ein Paar Pumps. Die Lehrerin nickt. „Wollt ihr mitmachen?“, fragt sie. Die nächste halbe Stunde probieren sich die Schüler durch den Schuhhaufen, und am Ende sagt die Lehrerin: „Ihr seht: Es ist gar nicht einfach, Schuhe zu finden. Manchmal muss man eine Weile suchen.“ Sie macht eine Pause. „Mit Büchern ist es dasselbe. Das perfekte Buch muss genauso gut zu euch passen wie der richtige Schuh.“

Lesen lernen in Neuseeland, die erste und wichtigste Lektion: Kinder, die ungern lesen, gibt es nicht. Es gibt nur Kinder, die noch nicht das richtige Buch gefunden haben.

Seid pragmatisch, nicht ideologisch

Vor 40 Jahren hat Neuseeland sein Bildungssystem auf sehr unorthodoxe Weise umgebaut. Vom Chef einer Supermarktkette beraten, beschloss der damalige Premierminister, dass Schulen sich selbst verwalten sollen. Die Überlegung dahinter: Entscheider dürfen nie zu weit von den Folgen ihrer Entscheidungen entfernt sein. Seitdem befindet ein Kuratorium, das aus Eltern und Lehrern besteht, über alle Belange einer Schule selbst, und dementsprechend schnell ist auch Unterstützung da, egal ob es um schwierige Schüler oder renovierungsbedürftige Räume geht. Ein Hilferuf gegenüber Menschen, die man jeden Tag sieht, verhallt eben nicht so leicht ungehört. E-Mails an Sachbearbeiter im Schulamt leider schon.

Auch die Frage, ob Bildung etwas kosten darf, beantwortet man in Neuseeland überaus pragmatisch: Ja, warum denn nicht – sofern die Eltern das nötige Geld haben. Und so werden die Einzugsgebiete aller 2500 Schulen im Land regelmäßig untersucht, und zwar im Hinblick auf den durchschnittlichen Wohlstand der Menschen, die dort leben. Schulen in reichen Gegenden erhalten wenig Geld. Hier erwartet man, dass die Eltern sich beteiligen. Dafür bekommen die Schulen in finanziell schwachen Bezirken umso mehr. Während in Deutschland das Geld für Bildung meist nach dem Gießkannenprinzip vergeben wird, haben die Neuseeländer nämlich begriffen: Eine gerechte Gesellschaft entsteht nicht dadurch, dass man alle gleich behandelt, sondern indem man die gleichen Voraussetzungen für alle schafft.

Gebt den Kindern Erlebnisse

Periodensysteme, Atlanten, Schautafeln zur Vererbung – all das hat natürlich seinen Platz im naturwissenschaftlichen Unterricht in Neuseeland. Aber viel wichtiger als pure Theorie sind Erlebnisse. So gehen Oberstufenschüler mit ihrem Lehrer Mountainbike fahren und erfahren auf diese Weise am eigenen Leib, dass es mehr Kraft erfordert, loszufahren als bei gleichbleibender Geschwindigkeit weiterzufahren, bevor sie die Newtonschen Gesetze durchnehmen, welche die Erklärung für dieses Phänomen liefern.

Eine andere Klasse, die das Thema Antarktis durchnimmt, übernachtet bei den Pinguinen im Aquarium, und Schulanfänger machen das erste Experiment ihres Lebens mit Schokobonbons, essen diese aber nicht auf, sondern stellen Hypothesen auf, wie Schokolade schmilzt. Ein Junge, der sich daran erinnert, dass er in seinem schwarzen Pulli stärker schwitzt als im weißen, legt seine Drops auf einen schwarzen Eimer in die Sonne, und ein Mädchen reibt sie, weil sie festgestellt hat, dass ihre Hände auf diese Weise warm werden.

An vielen Schulen Neuseelands wurde außerdem die Geniestunde eingeführt. Immer freitags arbeiten die Kinder für einige Stunden an einem selbst gewählten Projekt.

Stellt den Lehrer in den Mittelpunkt

In Deutschland wird die Rolle von Lehrern seit einiger Zeit beständig heruntermoderiert. Mitunter sieht man sie nur noch als Unterrichtsbegleiter, und die Pädagogen selbst glauben auch nicht mehr so recht an ihren eigenen Einfluss. In einer Befragung durch das Allensbach-Institut schrieben sich lediglich acht Prozent eine „sehr große Bedeutung“ für die Entwicklung ihrer Schüler zu. In Neuseeland sieht man den Lehrer dagegen als absolut zentral für erfolgreiches Lernen an. Er ist kein Moderator oder Vermittler, sondern ganz im Gegenteil eine starke Figur, die den Unterricht klar strukturiert und steuert. Entsprechend ernst nimmt man auch die Frage, wie er sich stetig verbessern kann.

In Deutschland wird kaum überprüft, ob ein Lehrer seiner Fortbildungspflicht nachkommt. ­Neuseeländische Lehrer müssen ihre Lehrerlaubnis dagegen alle drei Jahre erneuern – und das dürfen sie nur, wenn sie an Fortbildungen teilgenommen haben. Dafür sind diese aber auch extrem wirkungsvoll. Während Fortbildungen in Deutschland meist externe Vorträge sind, die der Lehrer nach Unterrichtsschluss besucht, obwohl so etwas nachgewiesenermaßen wenig bringt, kommen die Fortbildner in Neuseeland direkt an die einzelne Schule, geben Modellstunden und gehen auf die individuellen Probleme und Fragen des Lehrers ein.

Schafft offene Systeme

2018 verbrachte der amerikanische Pädagogikprofessor Alan Daly drei Monate in Neuseeland, um das „Ökosystem von Lehrenden“ zu untersuchen. Allein diese Wortwahl ist erstaunlich, denn oft genug sind Lehrer in ihrer täglichen Arbeit sehr allein. Nicht aber in Neuseeland. „Das Besondere ist“, sagt Daly, „dass man sich auf nationaler Ebene bemüht, die Zusammenarbeit zwischen Lehrern zu fördern.“

Und tatsächlich: Dass ein Lehrer an einer Schule etwas Tolles tut und andere es nicht bemerken, ist in Neuseeland praktisch unmöglich. Schon vor mehreren Jahrzehnten reisten so genannte Inspektoren von Schule zu Schule und organisierten Unterrichtsbesuche, wenn sie fanden, dass zwei Lehrer etwas voneinander lernen könnten. Was für ein Gegensatz zu Deutschland, wo Schule ein geschlossener Mikrokosmos ist und Lehrer meist nur während ihres Referendariats einen zweiten Lehrer im Raum haben, der dann auch gleich alles, was sie tun, bewertet. Wen wundert es da noch, wenn Lehrer zu Einzelkämpfern werden?

Bereitet die Kinder auf die Freiheit vor

Fragt man die 18-jährige Abiturientin Julia nach dem Höhepunkt ihrer Schulzeit, muss sie nicht lange überlegen. „Das war das Solo Camp“, sagt die Neuseeländerin. Das Solo Camp ist Teil des Faches „Education outside the classroom“, das es an vielen neuseeländischen Schulen gibt, und geht so: Schüler verbringen 48 Stunden allein im Wald, nur mit dem Nötigsten ausgestattet, Telefon, Bücher und Musik sind verboten. Es handelt sich nicht um Überlebenstraining, die Jugendlichen müssen sich nicht von Spinnen und Mäusen ernähren, aber sie müssen etwas viel Schwierigeres tun. Schweigen, meditieren, allein sein.

„Zu lernen, wie man sich selbst aushält, ist das Wichtigste überhaupt“, sagt Julias Lehrer. Er hat alle Zwölftklässler, die am Solo Camp teilgenommen haben, an ihre Schlafplätze im Wald geführt, so weit voneinander entfernt, dass sie sich weder sehen noch hören konnten, hat ihnen für den Notfall eine Trillerpfeife zugesteckt und außerdem ein Buch mit leeren Seiten, über die er Fragen geschrieben hat: Wem möchtest du danken? Was hat dich geprägt? Wo möchtest du in sechs Monaten sein? Darüber sollten die Schüler während ihrer 48 Stunden allein im Wald nachdenken.

Julia sagt, dass sich natürlich längst nicht alle Fragen geklärt hätten. Noch immer sei die Zukunft unsicher, aber Angst, nein, die habe sie nicht mehr. „Und wenn ich mich doch mal vor etwas fürchte, dann sage ich mir: Wenn ich 48 Stunden allein im Wald überleben kann, schaffe ich das hier auch.“ //

1   Dieser Beitrag handelt über schulische Bildung in Neuseeland, er gibt jedoch viele wertvolle Hinweise wie Bildung und Erwachsenenbildung auf gleicher Augenhöhe arrangiert werden können. Siehe dazu auch die Rezension in dieser Ausgabe.

2   Erschienen in „Zeit@online“ am 26.12.2019. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin und von Zeit@online. https://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2019-12/bildung-neuseeland-schulen-lehrer-kinder-lernen

Hasel, Verena Friederike (2020): Gebt den Kindern einen Grund zum Lernen. Bildung in Neuseeland. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Winter 2019/20, Heft 269/70. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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