Lorenz Maroldt, Susanne Vieth-Entus: Klassenkampf. Was die Bildungspolitik aus Berlins Schuldesaster lernen kann.
Berlin: Suhrkamp 2022, 267 Seiten.

„Verantwortungsdschungel“, „unorganisierte Überzuständigkeit“, „organisierte Unzuständigkeit“ – Schlagwörter, die das bildungspolitische Versagen, unter dem Berliner Schulen leiden, charakterisieren. Letztere finden sich, völlig im Gegensatz zum Berliner Wissenschaftssektor, in Rankings meist auf letzten Plätzen.

Mit journalistischer Verve analysieren Susanne Vieth-Entus und Lorenz Maroldt, Redakteurin und Chefredakteur beim Berliner „Tagesspiegel“, die (Spar)Politik der letzten drei Jahrzehnte. Tragisch: Es fehlt nicht an Geld – aber es kommt nicht dort an, wo es gebraucht wird und wo es politischen Zielsetzungen entspricht.

Auffällig sind viele desolate Schulgebäude, Sanierungen, die jahrelang verzögert wurden, und ein Mangel an ausgebildeten Fachlehrer*innen. Unzureichender Fachunterricht führt zu schwachen Leistungen der Schüler*innen. Problematisch erweist sich auch die Schulverwaltung, die sich etwa zu 80 Prozent aus ehemaligen Lehrer*innen rekrutiert, zu sehr ideologisch ausgerichtet und durch bezirkspolitische Interessen sowie durch wahlwirksame Entscheidungen dominiert ist. So kam es zu eklatanten Diskrepanzen zwischen politischen Absichten und bildungspolitischer Realität.

Das „Politversagen der Berliner Schule“ wird in zehn Stationen vorgeführt. Eine davon beschreibt den zentralen Kritikpunkt: „Das Land vertreibt seine Lehrkräfte“. Dies erfolgte durch die Aufhebung der Verbeamtung 2004 wie in anderen Bundesländern, die das aber bald wieder rückgängig machten.1

Zudem wurden die entsprechenden Studienplätze an den Hochschulen vermindert. ­Anlass war der Sparkurs zu Beginn der 2000er-Jahre. Inzwischen lehren „Quereinsteiger“, mit Lehrbefähigung in anderen Fächern, aber auch „Seiteneinsteiger – Lehrer ohne volle Lehrverpflichtung (LovL)“, wo sie dringend gebraucht werden. Die Kritik, der Lehrberuf werde „entqualifiziert“, verhallt.

Eingeschränkte Lehrkompetenz wird in den Brennpunkt-Schulen besonders spürbar. Dort häufen sich soziale Probleme, Folgen von Migrationshintergrund und Armut. Die Komplexität der Anforderungen lässt sich aufgrund zu geringer Erfahrungen und Kompetenzen bei den Lehrenden sowie fehlender spezieller Aus- und Fortbildung schlecht bewältigen. Als Konsequenz der Sparpolitik gibt es auch in den für Schulprobleme zuständigen Behörden, z. B. Jugend-, Bau- oder Sozialamt zu wenig qualifiziertes Personal.

Weitere Aspekte des Bildungsdesasters sind „einstürzende Schulbauten“, rudimentäre Digitalisierung, „Schikanieren der Freien Schulen“, auch oder gerade, wenn sie erfolgreich sind, und fehlender Mut zur Leistung. 

Insgesamt, urteilt das Autorenpaar, mindern Schulen nicht bestehende soziale Ungleichheit. Es zeigt sich weiterhin zu großer Abhängigkeit der Schülerleistung von der Herkunft sowie im innerdeutschen Vergleich erhöhtes negatives Abschneiden in den Abschlussklassen. Es fehlt der politische Wille, lautet ein Urteil, zur Kontrolle und Durchsetzung von Vorgaben. Die Kluft zwischen den politischen Versprechungen und der schulischen Realität bleibt bestehen.

Das Buch ist um „Auswege“ bemüht. Analog zu den zehn Stationen des „Bildungsdesasters“ werden skizziert: Staatsvertrag gegen Lehrermangel abschließen; Verwaltung reformieren; überprüfbare und durchsetzbare Pflichten festlegen; von anderen, vor allem von Hamburg und München, lernen; durch Frühförderung besonders bei Migrationshintergrund Potenziale fördern; Vielfalt belohnen; finanzielles Gießkannenprinzip beenden; mehr Dezentralisierung und Autonomie zulassen.

Für „Berliner Eltern“ bietet das Buch einen ermutigenden Schluss (S. 247): „Leicht ist es nicht, in der heruntergewirtschafteten, zerklüfteten Berliner Bildungslandschaft eine gute, ja, die beste Schule für das eigene Kind zu finden. Aber die Suche lohnt sich.“

Das Buch ist ein Lehrstück, welche negativen Folgen politische Sparprogramme im sozialen Bereich haben. Es bietet, genau recherchiert und erfrischend lesbar, Argumente und Hinweise, Bildungspolitik als komplexes, realpolitisches Problemfeld zu verstehen. Es zeigt, dass Bildung, Lernen und Weiterlernen von der frühen Kindheit bis ins Alter, von der Krabbelstube bis zur Universität, von der Schule bis zur Erwachsenenbildung in ihrer sozialen Komplexität, in ihren sozialen Zusammenhängen und Konsequenzen diskutiert und behandelt werden sollten.

Ein kurzweiliges Buch für Eltern und Großeltern – und solche, die es noch werden wollen – in der Erwachsenenbildung im Sektor politische Bildung bestens einsetzbar. //

1   Eine aktuelle Meldung darf hier durch den Rezensenten eingefügt werden: Berlin hat im Sommer 2022 nach 18 Jahren die Verbeamtung wieder eingeführt! Siehe: https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2022/07/berlin-lehrer-verbeamtung-unterbrechung-zwei-jahrzehnte.html#:~:text=Seit%20dem%20Jahr%202004%20hat,220%20Ernennungsurkunden%20an%20Lehrkr%C3%A4fte%20verteilt [11.1.2023].

Lenz, Werner (2022): Lorenz Maroldt, Susanne Vieth-Entus: Klassenkampf. Was die Bildungspolitik aus Berlins Schuldesaster lernen kann. Berlin: Suhrkamp 2022, 267 Seiten. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Winter 2022, Heft 278/73. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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