Thema des Interviews waren die Perspektiven der Demokratieentwicklung in Österreich und auf europäischer Ebene sowie die Rolle der Bildung in Bezug auf Demokratieentwicklung.
Bisovsky: Wie schätzen Sie den aktuellen Zustand der Demokratie in Österreich ein? Sehen Sie Entwicklungen, die die Demokratie gefährden könnten?
Fischler: Ich sehe keine Entwicklungen, die soweit gehen, dass eine unmittelbare Gefahr für die österreichische Demokratie bestehen würde. Aber man muss mehr auf die Tendenzen achten und auf die Änderungen, die heute schon feststellbar sind und sich, wenn man sie nicht ernst nimmt, zu einem Problem auswachsen können. Wenn man sich den Internationalen Demokratieindex ansieht, dann gehört Österreich nicht mehr zu den Besten in Europa.2 Auch bei der Freiheit des Journalismus befindet sich Österreich nicht unter den Ersten, sondern bestenfalls im oberen Mittelfeld.3 Angesichts des Populismus, der in Österreich intensiver ist als in anderen europäischen Staaten, ist Wachsamkeit angebracht. Man wäre in Österreich gut beraten, wenn man in Demokratie investiert. Es geht darum, den Anfängen zu wehren.
Welche Investitionen in Demokratie meinen Sie?
Die Investition, die man für die Demokratie machen kann, ist eine zweifache. Zum einen muss man in Bildung investieren und zum anderen muss man in Strukturen investieren, die dazu führen, dass wichtige Prinzipien wie Transparenz und Ähnliches gewährleistet sind. Da haben wir jahrelang herumgetan in Österreich, bis wir einer der letzten Staaten in Europa waren, der kein Informationsfreiheitsgesetz hatte. Jetzt ist das Informationsfreiheitsgesetz auf dem Weg, es ist zwar nicht optimal, aber man kann damit leben.
Wir haben in Österreich die Situation, dass kein geringer Teil der Menschen, die hier schon lange leben und ihre Abgaben entrichten, nur eingeschränkt wahlberechtigt ist.
Es wäre an der Zeit, darüber nachzudenken, wie man das Wahlrecht umgestalten kann, dass die Menschen, die schon eine gewisse Zeit in Österreich leben, auch wahlberechtigt sind.
Hier gibt es auch andere Debatten, wobei ich glaube, dass diese weniger Erfolgschancen haben. Zum Beispiel die Diskussion um eine Stimmengewichtung, die abhängig ist von der Zahl der Kinder, die eine Familie hat. Das wird wahrscheinlich nicht funktionieren. Es wird dabei bleiben, dass eine Stimme für eine Person steht.
Was aber auch wichtig wäre, ist die Frage wie man zu Kandidaten kommt. Wie werden diese ausgewählt? Das reine Listenwahlrecht, das wir in Österreich haben, ist veraltet. Es würde auch helfen, das Demokratiebewusstsein zu stärken, wenn etwa ein Teil der Abgeordneten, die in ihrem Wahlkreis die meisten Stimmen bekommen, direkt in das Parlament einziehen würde. Diese Personen hätten die größte Basis, sich als Abgeordnete oder Abgeordneter einer Region bewähren zu können. Um auf der anderen Seite das politische Kräfteverhältnis beizubehalten, müsste man den übrigen Teil der Mandate nach dem Listenwahlrecht verteilen. Das wäre ein Ansatz, um die Demokratie in Österreich zu beleben.
Eine stärkere Bürgerbeteiligung wird immer wieder diskutiert …
Hier muss man unterscheiden, wie die Bürgerbeteiligung in der repräsentativen Demokratie funktioniert und welche Elemente der direkten Demokratie man einsetzt. Ich bin ein Befürworter der repräsentativen Demokratie, denn sie gewährleistet Stabilität und auch Kontinuität. Hier ist das Wahlrecht einer der entscheidenden Faktoren. Was die direkte Demokratie betrifft, sind neben den klassischen Formen wie Volksbegehren, derer es zur Zeit viele gibt, neuere Formen wie Bürgerräte sehr interessant. Denn diese haben sich dort, wo man davon Gebrauch macht, bewährt. Als Beispiel nenne ich Vorarlberg.4 In anderen Staaten hat man solche Bürgerräte sogar für nationale Themen eingesetzt, zum Beispiel in Irland.5 Es hat sich gezeigt, dass die Schwarmintelligenz dazu beitragen kann, Schwierigkeiten bei der Entscheidungsfindung in einer Demokratie zu überwinden. In der EUREGIO6 ist es im neuen Protokoll gelungen, dass auch auf dieser Ebene solche Bürgerräte eingerichtet werden können.7
Hier stellt sich die Frage, wie verbindlich die Entscheidungen für die Politik sind, die in Bürgerräten getroffen werden.
Das ist eine rechtliche Frage. Es muss im Vorhinein geklärt werden, welche Verbindlichkeiten man Bürgerräten zugesteht. Das ist letztlich eine Frage der parlamentarischen Entscheidungen in welchem Ausmaß man bereit ist, Kompetenzen, die eigentlich den Parlamenten zustehen, einem Bürgerrat abzutreten.
Welche Beispiele guter Praxis, wie Demokratie attraktiver werden könnte, wären auf europäischer Ebene zu nennen?
Es stellt sich auf europäischer Ebene die Frage nach der europaweiten Demokratie. Hier ist noch viel Handlungsbedarf. Man muss sich aber auch eingestehen, dass es viel schwieriger ist, 27 Staaten demokratisch zu organisieren. Längerfristig wird das nur gehen, wenn man ernsthafte europäische Parteien schafft, denn der politische Wille muss ja manifestiert werden. Ohne europäische Parteien kann das auf die Dauer nicht funktionieren.
Was verstehen Sie unter europäischen Parteien?
Wie der Name sagt, es geht um europaweit, in europäischen Angelegenheiten agierende Parteien und nicht bloß um eine Koordination nationaler Parteien. Es geht auch konkret um die Frage, die schon 10 Jahre lang diskutiert wird, nämlich um das Spitzenkandidaten-Modell. Das heißt, dass die Europäischen Parteien eine Kandidatin oder einen Kandidaten benennen und als Spitzenkandidat nominieren. Das hat bisher nur unzureichend funktioniert. Die Frage ist auch, wie bindend das ist. Wir haben bei der letzten Europawahl erlebt, dass die EVP-Fraktion Manfred Weber als Spitzenkandidaten gehabt hat und es war angekündigt, dass er im Falle einer Mehrheit für die EVP als Kommissionspräsident vorgeschlagen wird. Es ist dann anders gekommen und das ist den Wählerinnen und Wählern gegenüber nicht fair.
Soll das Europäische Parlament mehr Kompetenzen erhalten?
Ja, auf jeden Fall. Das Europäische Parlament hat bis heute kein Initiativrecht, es kann keinen Gesetzesentwurf zur Abstimmung vorlegen.
Jetzt möchte ich auf Beispiele guter Praxis zurückkommen. In Spanien, konkret in Girona (Katalonien) wurde uns im Rahmen eines europäischen Projektes ein Modell des „participatory budeting“ präsentiert. Auf lokaler Ebene standen Teile des Budgets für die Bürger*innen zur Verfügung, die sich darauf einigen konnten, wofür das Budget verwendet werden sollte.
Spanien ist ein zentral verwalteter Staat, wir leben in einem föderalen Staat, etwas wo es Verfassungsgesetze gibt, die die Kompetenzen abgrenzen. Bei uns wäre das anders zu sehen. Aber in zentral verwalteten Staaten ist das eine interessante Geschichte. Unabhängig davon könnten aber auch bei uns zum Beispiel die Länder hergehen und sagen, wie beteiligen wir die Bürger am Budgetierungsprozess. Das müsste man einfach tun.
Könnte die Digitalisierung dazu beitragen, die Akzeptanz der Demokratie zu verbessern? Oder sehen Sie das als eine gefährliche Entwicklung?
Die Digitalisierung sehe ich in einer anderen Rolle. Wir leben in einer Zeit, wo wir vor großen Transformationen stehen. Die drei größten Transformationen, vor denen wir stehen, sind: die klimabedingte Transformation, die digitale Transformation und schließlich die demographische Entwicklung. Um Transformationsprozesse zu gestalten ist Demokratie gefragt. Zurzeit leben wir damit, dass diese Prozesse nicht vernunftgesteuert sind, sondern vielfach durch fakes, durch sogenannte einfache Antworten gesteuert werden. Das führt aber ins Nichts. Wir haben aktuell eine Kluft zwischen der Dimension notwendigen Transformationen und der politischen Bereitschaft der Bevölkerung, diese Transformationen aktiv anzugehen und mitzutragen. Hier sind faktenbasierte Diskussionsprozesse zu führen und die Politik muss hier Vorschläge liefern, wie diese Transformationen machbar sind.
Das demographische Thema ist ein stark europäisches Problem. In Europa haben wir weltweit die Bevölkerung mit dem höchsten Durchschnittsalter. Das Missverhältnis zwischen der derzeitigen Generation und der künftigen Generation wird immer größer und viele Investitionen und Entscheidungen, die heute getroffen werden, müssen von der nächsten Generation getragen werden. Da entsteht ein großes Spannungsfeld, mit dem wir uns dringendst beschäftigen müssen. Denn das könnte gleichzeitig auch der Hebel dafür sein, dass die Migrationsfrage in einem neuen Licht erscheinen könnte. In Wirklichkeit müssen wir begreifen lernen, dass wir Migration brauchen um unser Sozialsystem aufrecht zu erhalten.
Diese Transformationen sind Kernaufgaben, die in einer Demokratie zum Teil schwieriger zu bewältigen sind, weil immer die notwendigen Mehrheiten gebildet werden müssen. Aber das ist kein Argument, um zu sagen, daher lassen wir das.
Ich nehme viele negativ besetzte Diskurse über die Demokratie wahr. Warum gibt es keinen positiven Diskurs zu den Stärken der Demokratie?
Viele haben geglaubt, dass die politische Diskussion durch Kurzbotschaften über SMS oder andere verkürzte Botschaften ersetzt werden kann. Wir müssen wieder zu einer persönlichen politischen Debatte zurückkehren und Argumente begründen und austauschen. Wir müssen wieder lernen, dass es auch Teil der politischen Kultur ist, zu streiten und sich zusammenzuraufen. Demokratie braucht diese Auseinandersetzung. Eine Demokratie, die glaubt, es wird alles eitel Wonne über die Bühne gehen, ist keine Demokratie, die eine Chance auf eine nachhaltige Zukunft hat.
Ich möchte noch zur Bildung im Allgemeinen und zur Erwachsenenbildung im Besonderen kommen. Wo sehen Sie die besondere Aufgabe der Bildung, was die Akzeptanz von Demokratie und was Bildung als Förderung von Demokratie betrifft?
Politische Bildung greift zu kurz, wenn man nur über politische Systeme etwas lernt, wenn man lernt, Politik zu beschreiben. Man muss lernen, Politik zu machen. Die Schule spielt bei der Politischen Bildung eine wichtige Rolle. Man muss auf spielerische Art sehr früh beginnen, zu lernen, was es heißt, füreinander Verantwortung zu übernehmen. Die ursprüngliche Idee bei der Politischen Bildung war, dass sie ein Unterrichtsprinzip sein soll. Allerdings hat sich in der Praxis gezeigt, dass sich dann niemand zuständig gesehen hat. Dann hat man ein eigenes Fach geschaffen. Doch das ist auch noch weit weg von einer idealen Lösung.
Wir unterschätzen bei weitem die Notwendigkeit und die Leistungen der informellen Bildung. Das, was früher in Vereinen und in Jugendorganisationen stattgefunden hat, gibt es kaum mehr und das ist ein großer Mangel. Man hat nie ernsthaft überlegt, wie man dieses Manko kompensieren kann. Wir brauchen Plattformen, wo man Demokratie einüben kann. Niemand fällt als großer Demokrat vom Himmel, das muss gelernt und praktisch geübt werden.
Die Erwachsenenbildung und die Volkshochschule sind eine solche Plattform. Es wird Wissen über Demokratie vermittelt, es gibt viele Veranstaltungen in den Volkshochschulen, wir haben einen Demokratie-MOOC8 entwickelt, an dem schon rund 1.900 Personen teilgenommen haben. Das ist das eine, aber das andere ist, dass Demokratie gelernt und geübt werden muss. Hier ist die Erwachsenenbildung gefordert, Demokratie auszuprobieren und zu praktizieren.
Ja natürlich. Das gehört meiner Meinung nach in den Bildungsauftrag der Erwachsenenbildung. Die Erwachsenenbildung wird aber viel zu wenig wertgeschätzt und sie wird auch sehr unterschätzt, was ihre Möglichkeiten und ihre Wirkungen betrifft.
Ich habe vor zwei Jahren mit einigen Freunden ein Konzept entwickelt, wie man Leute, die in die Politik einsteigen wollen, besser auf diese Aufgaben vorbereiten kann. Wir haben dazu das Bildungsmodul „Love politics“9 entwickelt. Alt-Bundespräsident Heinz Fischer und ich machen hier als Berater mit. Der Lehrgang wird berufsbegleitend in 9 Bausteinen umgesetzt. Das Interesse ist sehr groß, wir haben den Lehrgang ins Internet gestellt und nach wenigen Wochen haben wir für 35 Plätze rund 1.300 Bewerbungen erhalten. Aktuell haben wir bereits 4 Module durchgeführt und die Teilnehmenden sind sehr zufrieden. Aber für die Zukunft geht es auch darum, dass wir mit Ressourcen ausgestattet werden, damit der Lehrgang auch zu sozial verträglichen Gebühren umgesetzt werden kann.
Ein weiteres Modell setzt die VHS Götzis in Vorarlberg um. Im Auftrag des Landes führt sie den „Politiklehrgang für Frauen“ durch. Hier sollen Frauen gestärkt werden, die in der Politik tätig sind bzw. in die Politik gehen wollen.
Wir sind nicht geschlechtsspezifisch unterwegs. Ich halte das aber für sehr wichtig, dass mehr Frauen ins politische Geschehen eingebunden werden, denn sie sind mit ihren spezifischen Fähigkeiten eine Bereicherung und tragen zur Verbesserung der Diskussionskultur bei.
Was ist für Sie das Attraktive an Politik?
Politik heißt Entscheidungen treffen und auch Macht ausüben. Macht ist einer der Urtriebe des Menschen und das sollte man auch nicht verschweigen. Es ist schon eine gewisse Genugtuung, wenn man Erfolge in der Politik erzielen kann und wenn man in der Gesellschaft etwas weitergebracht hat. Ich war in der Politik immer mein Leben lang ein Reformer. In der Agrarpolitik gibt es zwei Reformen, die den Namen eines Politikers tragen. Es gibt eine Fischler-Reform und es gibt eine MacSherry-Reform – das war mein Vorgänger als Kommissar für Landwirtschaft. Die Fischler-Reform ist bis heute die größte Reform, die in der europäischen Agrarpolitik durchgeführt wurde,10 das gibt schon eine gewisse Zufriedenheit.
Also: Nicht verwalten, sondern gestalten.
Genau, so kann man es nennen. Verwalten ist nach den Regeln des Montesquieu Exekutive. Gestalten ist letztendlich Legislative.
Vielen Dank für das Interview. //
„Love Politics“ richtet sich an politische Talente aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Ziel ist es, eine neue Generation von Politiker*innen auszubilden, die lernen akute gesellschaftliche Probleme gemeinsam und parteiübergreifend anzugehen. Viele Menschen finden den Weg in die Politik ausschließlich über eine Partei nicht mehr zeitgemäß. Bevor sie sich einer Partei verschreiben, möchten sie das politische System und seine Wirkmechanismen kennenlernen.
„Love Politics“ ist eine politisch unabhängige gemeinnützige Organisation, die überparteilich agiert, um die liberale Demokratie zu festigen. „Wir sind davon überzeugt, dass Politik die Vielfalt der Gesellschaft widerspiegeln sollte, um das Vertrauen in die Demokratie wiederherzustellen und den Zusammenhalt in der Gesellschaft zu stärken.“
Das Ausbildungsprogramm umfasst 9 Module über einen Zeitraum von 9 Monaten. Im September 2023 startete der erste Love Politics-Lehrgang in Wiener Neustadt, Österreich. Die Themen der einzelnen Module sind: 1. Ohne Team kein Change 2. Meine Ziele in der Politik 3. Politik verstehen 4. Demokratie gestalten lernen 5. Fit für Politik 6. Krise und Veränderung 7. Neue Allianzen für eine neue Politik 8. Keine Politik ohne Europa 9. Politik für das 21. Jahrhundert.
Genauere Informationen und Anmeldung zum Newsletter: https://www.lovepolitics.net/
Der Demokratie-MOOC stellt ein Curriculum für die demokratiepolitische Bildung dar, wobei die vollständigen Lehr- und Lernmaterialien zur Verfügung gestellt werden. So dient der MOOC einerseits der Weiterbildung von allen interessierten Personen, Multipliaktor*innen, Kursplaner*innen, Kursleiter*innen, Lehrer*nnen oder
(Sozial-)Pädagog*innen. Andererseits stellt der MOOC auch Materialien und Methoden zur Verfügung, damit sich die Teilnehmenden auch motiviert und in der Lage fühlen, Kurse, Unterricht oder Projekte zur Politischen Bildung zu entwickeln und anzubieten.
Der Demokratie-MOOC besteht aus drei Paketen, die folgende Themen beinhalten: Im ersten Paket (Demokratie MOOC Teil 1) finden sich nach einer Einführung (Lektion 1) diese Themen: Politik und Demokratie, Handlungsmöglichkeiten im politischen System Österreichs und Demokratie und Medien. Im zweiten Paket (Demokratie MOOC Teil 2) werden diese drei Themen bearbeitet: Geschichte der Demokratie – Kampf um Demokratie, Migration, Integration und Identitäten und Demokratie in Europa und Demokratien weltweit. Im dritten Paket (Demokratie MOOC Teil 3) stehen folgende Themen zur Verfügung: Grundrechte und Rechtsstaat, Demokratie und Wirtschaft, Freiheit und Sicherheit sowie Staat, Ideologien und Religionen.
Ein aktuelles Modul hat „Demokratie und Partizipation – Politische Beteiligung und Teilhabe in der Alltagspraxis“ zum Thema: https://imoox.at/mooc/course/view.php?id=461
Weitere Informationen: https://demooc.at/
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