Bart Brandsma
Foto: Anne Tastula
Interview von Anne Tastula mit Bart Brandsma, Polarisierungsberater
Sie sagten, dass Polarisierung normal sei, nichts, wovor man sich fürchten muss, und ziemlich wichtig für unsere Überlegungen. Wann wird Polarisierung etwas Schlechtes?
Damit sich die Zivilisation entwickeln kann, ist es erforderlich, sich einer gegnerischen Position gegenüber zu sehen. Wenn Polarisierung Entwicklung und soziale Inklusion in eine Gesellschaft bringt, ist es gut. Solange diskutiert wird, findet Entwicklung statt.
Polarisierung wird dann eine schlechte Sache, wenn sich eine Kluft zwischen Personen bildet und wir anfangen, einander gegenseitig zu beschuldigen und Eigenschaften des Feindes zu beschreiben, wie zum Beispiel in „diese ganzen Flüchtlinge, die kommen, um von unserem Wohlstand zu profitieren“. Dies sagt etwas über den anderen aus und setzt gleichzeitig den Rahmen für die Identität der eigenen Gruppe.
Es ist natürlich den Versuch wert, herauszufinden, wo die Sache kippt. Wann ist der Moment gekommen, wo man die Diskussion beendet und aufhört, Ideen zu suchen, und beginnt, sich gegenseitig zu beschuldigen.
Wo findet man aktuelle Beispiele von Polarisierung auf europäischer Ebene?
Polarisierung in ihrer einfachsten Ausprägung bedeutet: Wir haben Recht, und sie haben Unrecht. Derzeit ist es ein Gedankenkonstrukt, noch kein Konflikt. Polarisierung benötigt Nahrung, um zu gedeihen. Worte, Aussagen und Beschuldigungen dienen als Verstärkung.
In Rotterdam, in den Niederlanden, wo ich arbeite, ist die Polarisierung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen von Bedeutung. Dies kann auch auf europäischer Ebene beobachtet werden. Außerdem gibt es in ganz Europa zwei weitere, stark trennende Gruppierungen: heimattreue Nativisten gegen Globalisten und die Elite gegen das Volk. Die Populisten ziehen starken Nutzen aus der Polarisierung des Letzteren.
Bei allen Gruppierungen liegt der Druck auf den gleichen Berufsgruppen: Neutralen, Polizei, Lehrern, Bürgermeistern, Justizbeamten, Anklägern.
Da die Polarisierung die Dynamik des guten Gefühls fördert und daher nicht durch Beweise einfach zu beeinflussen ist, worin liegt der Schlüssel, um festgefahrene Meinungen zu verändern und die Dinge in einem anderen Licht zu sehen?
Dort wo sich Polarisierung zeigt, wollen wir die Meinung anderer verändern. Wir wollen sie mit neuen Fakten und neuen Weltanschauungen überzeugen. Aber sobald wir damit beginnen, ist es wahrscheinlich, dass wir zur Polarisierung beitragen.
Was wir eher tun sollten, ist, die richtigen Fragen zu finden und Menschen in diese Fragen einzubeziehen. Dies ist der Beginn der sozialen Inklusion.
Pusher, die lauten Stimmen an den entgegengesetzten Enden des Polarisierungsspektrums, bringen häufig Einzelthemen zur Sprache. Wir können aber jene Fragen finden, die wir alle beantwortet haben wollen, die Fragen, welche wirklich für die Gruppe in der Mitte, die schweigende Gruppe, wichtig sind.
Die Lösung ist die Stärkung der richtigen, der mittleren Gruppe, indem man deren Themen anspricht und deren Fragen formuliert. Solange die mittlere Gruppe stark bleibt und sich keine der beiden anderen Gruppen anschließt, kann man Polarisierung beherrschen. Wenn sich alle Menschen der mittleren Gruppe eine der Parteien anschließen, bedeutet dies im Grunde genommen Bürgerkrieg.
„In gewisser Hinsicht stellt Polarisierung jenes Stadium dar, in dem Radikalisierung (noch) keine Chance hat.“
Führung erfordert Präsenz und Zuhören, den richtigen Ton zu finden, nicht nur zu versuchen, zwischen richtig und falsch zu entscheiden, sondern unsere gemeinsame Zukunft und unsere gemeinsamen Fragenstellungen zu betrachten.
Das ist leicht gesagt, aber es benötigt lebenslanges Lernen, Authentizität und Persönlichkeit, um die Fähigkeiten zu entwickeln, um Urteile hinauszuschieben und weiter Fragen zu stellen; das heißt, zuhören und Fragen an Personen stellen, die sich gänzlich von uns unterscheiden.
Sie arbeiten als Trainer und Berater zum Thema Polarisierung. Kann die Gesellschaft lernen, sich gegen die negativen Auswirkungen der Polarisierung Widerstand zu leisten?
Vor zehn Jahren hat dies kaum jemand für wichtig erachtet. Wir benötigten all diese Vorfälle und Angriffe, um uns wachzurütteln. Jetzt haben Menschen das Gefühl, sie können nicht länger warten, bis wir noch polarisierter und radikalisierter sind. In gewisser Hinsicht stellt Polarisierung jenes Stadium dar, in dem Radikalisierung (noch) keine Chance hat.
Wir benötigen einen neuen Diskurs über Integration und soziale Inklusion, wobei wir das Thema Identität beiseitelassen. Anstatt zu fragen, ob man eher ein wahrer Muslim oder ein wahrer Finne sei, stellt sich die Frage, was sie dazu beitragen. Es wird immer Außenseiter geben, aber diese sollten nicht immer nach ihrer ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit beurteilt werden.
Welche Rolle spielen die Medien beim Thema Polarisierung?
Medien werden häufig der Polarisierung beschuldigt, aber das möchte ich nicht tun. Medien sind die Echokammer der Polarisierung.
Journalisten sollten sich fragen, ob sie einfach den Polen eine Stimme geben, oder ob sie in der Lage sind, Fragen an die Mitte zu stellen, welche die Polarisierung weniger anheizen würden. Ich glaube, das Publikum wartet darauf und die Medien selbst sind bereits müde, die Brücke zu bauen.
Sie haben Erfahrung durch die Arbeit in Ländern wie Nordirland, Libanon, dem Kongo, den Niederlanden und Belgien, wo Sie Ihren Polarisierungsrahmen getestet haben. Wer sind die Zielgruppen, die aus Kenntnissen über die Polarisierungsdynamik einen Vorteil ziehen würden?
Ich versuche, Menschen zu erreichen, die sich berufsbedingt in der Mitte befinden. Bürgermeister, Lehrer und die Polizei sollten daher für alle Bürger da sein, und sich neutral verhalten. Sie dürfen nicht einen der Pole bilden.
Training funktioniert auch sehr gut, wenn die Personen die Dringlichkeit der Angelegenheit begreifen. Fachleute erkennen bereits, dass wir Polarisierungsmanagement benötigen, und nicht nur Konfliktmanagement.
Es wäre hilfreich, wenn wir alle ein wenig Kenntnis über die Dynamik der Polarisierung hätten. Man hätte dann keine Angst, sondern würde es als normal ansehen und überlegen, wie man sich in diesem Falle verhalten soll.
Frieden ist das Resultat einer langen Kette an Konflikten. Polarisierung ist nichts, worüber man sich Sorgen machen sollte, solange wir wissen, wie wir damit zivilisiert umgehen.
Schlussendlich kann jeder profitieren, denn es handelt sich um Lebenskompetenzen wie Präsenz, Zuhören, Fragen stellen, und Themen finden, die alle betreffen. Dies ist ein Weg zur sozialen Inklusion. //
Bart Brandsma
ist ein niederländischer Philosoph, Berater und Trainer; er berät Fachleute, neue Wege zu erforschen, um mit Polarisierung umzugehen. Brandsma hat ein Model für Polarisierungsstrategien, Innensichten, Rollen und Methoden zur Intervention entworfen. Das „Radicalisation Awareness Network“ (RAN) bringt PraktikerInnen aus ganz Europa zusammen, die an der Prävention von Radikalisierung arbeiten.
Bart Brandsma erkennt fünf Rollen in jeder existierenden Polarisierung:
Die Pusher sind an beiden Enden des Spektrums zu finden und durch ihre Schwarz-weiß-Aussagen spielen sie eine führende Rolle, die Wir-gegen-Sie-Denkweise zu schüren.
Die Mitläufer wählen eines der Lager, obwohl sie nicht so radikal sind, wie die Pusher.
Die Schweigenden bleiben in der Mitte, entweder aufgrund starker Beteiligung, Gleichgültigkeit oder beruflicher Neutralität.
Der Brückenbauer interveniert und versucht, den beiden Polen zu helfen, einen Austausch der Meinungen oder Visionen zu erzielen.
Früher oder später wird der Sündenbock in der Mitte gefunden, der als Ventil für Schuldzuweisung und Wut dient. Diese Rolle kann zum Beispiel den Medien oder dem Brückenbauer zugeteilt werden.
Kommentare