Judith Klemenc: Begehren, Vermittlung, Schule. Suchende Erkundung dessen, was auftaucht, während man tut

Judith Klemenc: Begehren, Vermittlung, Schule. Suchende Erkundung dessen, was auftaucht, während man tut
München: kopead 2014, 189 Seiten.1

„Suchende Erkundungen dessen, was auftaucht, während man tut“ untertitelt die Autorin Judith Klemenc ihr Buch „Begehren, Vermittlung, Schule“, in welchem sie Einblick gibt in den Kunstunterricht an einem Gymnasium.

Die AkteurInnen des Schulalltags werden aus unterschiedlichen Positionen betrachtet. Um verschiedene Blicke in das Geschehen zu ermöglichen, bedient sich Judith Klemenc der Technik dreier SprecherInnenweisen. Diese Methode erlaubt „eine Anerkennung von befremdenden Andersheiten“ und eröffnet einen mehrdeutigen Sprachraum als literarisches, als akademisches und als souveränes Subjekt der Lehre.

„Mein Schreiben richtet sich an eine Praxis, die ich aus sich differierenden Perspektiven reflektiere“, sagt sie zu Beginn und erläutert ihr dringendes Bedürfnis, mit ihren Texten ein Begehren für eine Lehre im Kontext Schule sichtbar zu machen, es gar als Bedingung für einen Unterricht anzusehen. Was könnte es bedeuten, so die Autorin, würden normative Erkenntnisweisen hinterfragt und Irritationen oder gar Mehr- und Uneindeutigkeiten entstehen? Ihr Bestreben sei, Befremden auszulösen, indem sie sich einem tradierten Wissenschaftsdiskurs widersetzt und der Befremdung jene Relevanz zuspricht, die nötig sei, um Unkenntliches anzuerkennen. „Dabei hinterfrage ich Unterricht und denke von dort aus theoretische Ansätze und Positionen weiter.“ Daraus würde sich ein dramaturgischer Textaufbau eröffnen, der, so die Autorin, „meine differenztheoretische Perspektivierung mit einem Erleben in der Institution Schule verknüpft“.

Blinder Fleck

Das Erleben in der Institution Schule beginnt für die LeserInnen mit dem Beschreiben eines Videos. In der Arbeit ihres Schülers Valentin erkennt sich die Lehrerin, sie spiegelt sich plural und mannigfaltig wider, erlebt sich als gefroren, überholt, sie wird mit ihren „möglichen Subjektformationen konfrontiert“. Die Videoarbeit und deren weitere Bearbeitung durch Pinselstriche und Schablonen, vor allem das Gespräch mit ihrem Schüler ermöglichen das Sichtbarmachen unterschiedlicher Theorien und philosophischer Diskurse. Vor allem zeigt das Gespräch Lehrerin/Schüler, dass bei allem Bemühen, einander zu verstehen, sich beide der jeweiligen Erkenntnisabsicht widersetzten und sich die Bedeutungsräume in einem dualistischen Verhältnis bewegten. Dabei würde ein tradiertes Geschlechterverhältnis eine Rolle spielen. „War er es, der sie von einer logozentrischen Interpretation überzeugen wollte, so war es sie, die ein Verhältnis zu Halb- und Unsichtbarkeiten evident machte.“ (S. 52).

Warum sieht ein Mensch etwas und ein anderer nicht, fragte die Filmemacherin Ruth Beckermann in einer ORF-Diskussion zum Thema Holocaust und Auschwitz. Wie ist es möglich, dass offensichtlich Sichtbares für manche unsichtbar wird?

Der Ansatz, den Judith Klemenc in ihrem Buch vermittelt, lautet: Dem blinden Fleck nachgehen, Unterricht für Halb- und Unsichtbarkeiten öffnen, Leerstellen aufspüren, Blicke schärfen und sich in Widersprüche setzen. „In einer weiteren Konsequenz operiert der Apparat Schule nicht nur in einem Verhältnis zwischen den SchülerInnen untereinander, sondern auch in LehrerInnen-SchülerInnen-Verhältnissen. Als heteronormativer Ort von Gemeinschaft fordert er eindeutige Codes der Kommunikation ein, die, wie anders, mithin geschlechtlich begründet sind.“ (S. 78).

Begehren

Ist es nicht ein Tabu, über das Begehren in der Vermittlung zu schreiben – und das gar im Kontext Schule? Was hat Begehren da zu suchen? – So die Frage auf der Einladung zur Buchpräsentation in der Frauenbildungsstätte Frauenhetz. Am Beispiel der Videoarbeit ihres Schülers Valentin und dem Dialog darüber werden zwei SprecherInnenweisen sichtbar, die wenig gemein haben. Zwar gab es den Versuch, einander zu verstehen, jedoch widersetzten sich beide der jeweiligen Erkenntnisabsicht. Sie als zugeschriebenes Subjekt der Lehre wollte ihn für ihren Bedeutungsrahmen verführen. Hier verweist Klemenc auf einen Bedeutungszusammenhang zwischen Führen und Verführen und erhebt den Anspruch, dass ein Führen in pädagogischen Verhältnissen immer auch das Verführen – zu einer anderen Sichtweise oder Erkenntnis etwa – inkludiert. Bildungsprozess also als Verknüpfung der eigenen Identität mit befremdenden Andersheiten.

In einem anderen Beispiel zeigt sich die Ambivalenz des Raumes, in welchem sich Lehre abspielt. Als ihre SchülerInnen unaufmerksam sind, fordert sie auf, dass alle auf die Tische steigen. Mit Schuhen. Sie, der Lehrkörper, legt sich auf den Boden und alle Blicke sind auf sie gerichtet. Wie ist das, fragt sie, und ein Schüler meint: „Naja, ganz cool, Frau Professor.“ Sehr eindrucksvoll schildert die Autorin, was das mit ihr macht: „Liege da unter ihnen, ihre Köpfe über mir, auf mich blickend, herab blickend, ihr gemeinsamer Blick auf mich gerichtet, wie auf ein Tier, im Schuss, ihre Blicken schießen, treffen…“. Dann dreht sie den Blick um: Sie auf dem Tisch und die SchülerInnen am Boden, ihr zu Füßen liegend. „Stehe noch da, oben, auf dem Tisch, schweige, blicke herab, auf alle, widerlich, meine SchülerInnen, da am Boden, ich da oben, nicht auf gleicher Augenhöhe.“ In der geänderten Position machte die Lehrerin in der „choreographischen Körper- und Rauminszenierung ein diametrales Schema von Handlungsräumen deutlich und soweit spiegelte sie ihre SchülerInnen als die ihr Untertänigen“. Gleichzeitig im Sichtbarmachen von Machtverhältnissen kam in ihr eine Lust hoch, die aber gleichzeitig einen Widerwillen auslöste. Sie nahm „ein Begehren wahr, die anderen zu demütigen, um sich die Anerkennung des lacanianischen Phallus zuzusprechen“. (S. 140). Mit einem Sprung vom Tisch beendete die Lehrerin die als unwürdig empfundene Sequenz.

Sehen

Das Buch von Judith Klemenc ist keine leichte Lektüre. Auch wenn eine, wie ich, die philosophischen Debatten und die Theorien von Lacan, Foucault, Butler, Derrida … und die umfangreiche Fachliteratur nicht oder nur ungenügend kennt – es ist ein Gewinn und eine Lust, den Gedankenschleifen der Autorin zu folgen und sich zu Erkenntnissen, etwa dem antigoneischen Begehren, verführen zu lassen. Vor allem die sehr lyrische Sprache, in der die Autorin in erster Person sichtbar wird, ist ein Genuss. „Gewiss, es war ein blinder Fleck, der am Anfang war, ein Video, ein Ich-Sehe, welches verstört wurde, die Sprecher_innen hakten sich ein, ritzten, durchlöcherten diesen Text. Und am Ende werden deren Erkenntnisse nicht eindeutig sein, ein Dunkel, ein Schweigen, am Rande und daneben, werden es gespensterhafte Subjektformationen sein, die sie verunsichern. Allerdings wird es wohl allen drei Sprecher_innen gemein sein, dass sie ein ihnen Unkenntliches anerkennen, um menschlich zu werden.“ (S. 183). //

1  Nachdruck aus der Volksstimme vom März 2015.

Danneberg, Bärbel (2015): Judith Klemenc: Begehren, Vermittlung, Schule. Suchende Erkundung dessen, was auftaucht, während man tut. München: kopead 2014, 189 Seiten1. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Juli 2015, Heft 256/66. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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