PIAAC, der Gendergap und die etwas andere Interpretation

Im Rahmen von PIAAC, dem Akronym für „Programe for the International Assessment of Adult Competencies“, häufiger als Erwachsenen-PISA bezeichnet, wurden in der Erhebungswelle 2011/2012 bei erwachsenen Probanden/innen im Alter von 16-65 Jahren drei Schlüsselkompetenzen, nämlich a) Lesekompetenz, b) Alltagsmathematische Kompetenz und c) Problemlösen im Kontext neuer Technologien erhoben. Die Wahl für diese drei Kompetenzbereiche wird damit begründet, dass sie als Basis für den Erwerb weiterer Kompetenzen und als Voraussetzung für ein erfolgreiches Bestehen am Arbeitsmarkt und am gesellschaftlichen Leben erachtet werden. (Statistik Austria: 2013, S. 14).

Bereits bei den ersten Analysen wurde auch entlang der in diesem strukturierend quantitativen Forschungskontext selbstverständlich binär gedachten „sex category“ (Gildemeister: 2005, S. 133) in weiblich und männlich unterteilt und nach entsprechenden Unterschieden gefahndet. Nicht überraschend – weil aus ähnlichen Erhebungen im schulischen Bereich wie PISA und TIMSS bekannt – zeigten sich Genderdifferenzen zugunsten der männlichen Teilnehmer im Bereich der Alltagsmathematik (13 Punkte im Mittel) und auch beim Problemlösen im Kontext neuer Technologien (9 Punkte im Mittel). Was aber erstaunte, war, dass in dieser Erwachsenengruppe Frauen auch im Bereich der Lesekompetenz – zwar nur um vier Punkte – aber doch signifikant schlechtere Leistungen zeigten. Dies irritiert, da in anderen Erhebungen zur Lesekompetenz – auch in anderen Ländern – bei Schüler/innen (PISA, PIRLS) Lesen häufig als überlegene Domäne der Mädchen resultiert. (Suchan & Wintersteller: 2013, S. 35; Wallner-Paschon: 2012, S. 19).

In den vertiefenden Analysen (Ponocny-Seliger & Ponocny: 2014, S. 170 ff.) gestattete man uns Einsicht in das Aufgabenmaterial, um der Hypothese nachzugehen, ob durch die Formulierung der Fragen, gemäß den empirisch vorhandenen unterschiedlichen Genderrealitäten, Vor- oder Nachteile für Frauen bzw. Männer zu erwarten sind. Tatsächlich lassen sich ja in Österreich bei 14 Leseaufgaben signifikant schlechtere Leistungen bei den Frauen finden, und nur bei vier Aufgaben sind letztere den Männern überlegen. Im Hinblick auf geschlechtsspezifische Aufgabenformulierung auffällig waren dabei aber insbesondere Aufgaben, die – traditionell und durchaus stereotyp gedacht – eher männliche Lebensrealitäten bzw. Kompetenzen widerspiegeln: zum Beispiel eine Anleitung zum Telefonieren im Ausland, wo anzugeben ist, welche vollständige Nummer zu wählen ist, um aus einer bestimmten Stadt oder ins Ausland zu telefonieren; das korrekte Ablesen von Marktanteilen eines Produktes, das Ablesen von Entfernungen zwischen Städten, die Beantwortung inhaltlicher Fragen, die aus Grafiken zur Börsenkapitalisierung und zu Tagesumsätzen resultieren, sowie generell das Auffinden von numerischen Fakten aus Textmaterial. Auch das textliche Zurechtfinden auf einer Homepage, die sich dem Bauingenieurswesen widmet, und Literaturbewertung zu gentechnisch veränderten Lebensmitteln kommt jedenfalls österreichischen Männern mehr gelegen als den Frauen. Waren die Inhalte der Leseaufgaben aber weniger naturwissenschaftlich oder technisch formuliert, sondern eher von allgemeinerem Interesse, oder wenn keine tabellarischen Darstellungen zu interpretieren waren, zeigten sich Frauen sogar überlegen beziehungsweise wenigstens mit den männlichen Teilnehmern gleichauf. (Ebd. S. 182–183). Die Wirkung dieser – teilweise wenig gendersensiblen – Formulierungen des Aufgabenmaterials verstärkt sich bei der Schlüsselkompetenz Alltagsmathematik, wo sich in Österreich keine Aufgaben finden lassen, bei denen Frauen im Schnitt bessere Leistungen als Männer erzielen. Insbesondere die Berechnung prozentueller Veränderungen, das Ablesen aus Tabellen und Grafiken, das Schätzen und Berechnen von Längen und räumliche Aufgaben fällt Männern deutlich leichter als Frauen. (Ebd. S. 183–184). Auch beim Problemlösen im Kontext neuer Technologien lassen sich nur Aufgaben finden, die Männern leichter fallen, wie etwa das Anlegen von E-Mail Ordnern, das Sortieren von E-Mails oder das Arbeiten mit Excel-Listen. Auch die Benutzung eines Online-Kalenders, um Karten für ein Fußballspiel zu bestellen, fällt den männlichen Teilnehmern – eher wenig überraschend – deutlich leichter. (Ebd. S. 184).

Diese den Männern teilweise mehr entgegenkommende Ausformulierung des PIAAC-Aufgabenmaterials wirkt sich in Österreich deutlich stärker aus, als das in Finnland oder Frankreich der Fall ist, da sich in diesen beiden Vergleichsländern in der Lesekompetenz nur vereinzelt Aufgaben finden, in denen Männer überlegen sind. Sowohl in Finnland als auch in Frankreich zeigen Frauen im Schnitt höhere Lesekompetenz.

Warum diese beiden Vergleichsländer? Die Wahl für Finnland und Frankreich wurde aus theoretischen Überlegungen getroffen. In Finnland resultieren zum einen besonders gute durchschnittliche PIAAC-Ergebnisse und es hebt sich auch im Hinblick auf sozialpolitische und genderrelevante Indices deutlich von Österreich ab. Geschlechtergerechtigkeit wird als „ritualisierte Selbstverständlichkeit“ (Matthies: 2004, S. 91) begriffen, indem sich Frauen weitgehend der männlichen Norm angepasst haben, voll berufstätig und somit finanziell unabhängig sind und eine hohe Bildungsorientierung aufweisen – und das bei mindestens einem Kind. Frankreich zeigt im PIAAC-Vergleich zwar durchwegs schlechtere Leistungen als Österreich, weist aber eine radikal pronatalistische Grundhaltung auf, wo die Vereinbarkeit von Beruf und Familie staatlich forciert wird. (Beckmann: 2008, S. 11).

Aus feministischem Blickwinkel regt prinzipiell die unkritisch hingenommene Binarität Frau versus Mann als zentrale strukturierende Variable zum Widerspruch an. Warum werden standardmäßig Frauen gegen Männer in den Ring des sozialstatistischen Vergleichs geschickt, wo doch feministische Forschung bereits seit Jahrzehnten diese Dichotomie kritisch zu diskutieren sucht? Daher entschieden wir uns für einen zusätzlichen Analysedurchlauf mit einer Kategorisierung, die lebensweltlich massiv mit dem Gender der Teilnehmer/innen verknüpft ist, nämlich der, ob PIAAC-Teilnehmer/innen Kinder haben oder nicht. Entgegen der vielen biologisch orientierten Theorien rund um die Ursache von Geschlechtsunterschieden bei kognitiven Leistungen – neurophysiologisch, hormonell, vorgeburtlich et cetera – gibt es (noch) keine anerkannte derartige Theorie im Hinblick auf Fertilität (nein/ja). Sehr wohl stellt aber die Verantwortung für Kinder und vor allem das damit einhergehende zeitliche Engagement für Eltern eine massive Herausforderung insbesondere für die Teilnahme am Arbeitsmarkt und den von diesem geforderten Skillserwerb dar.

Was passiert nun, wenn man kinderlose Teilnehmer/innen gegen solche mit Kindern antreten lässt, und das anhand von Aufgabenmaterial, das vornehmlich auf arbeits- und erwerbsrelevante Kompetenzen hin entwickelt wurde? Teilnehmer/innen mit Kindern verlieren – und zwar ohne Unterschied, ob es sich um Frauen oder Männer handelt! Im Bereich der Lesekompetenz beträgt der „Childrengap“ 16 Punkte, also das Vierfache des Gendergap, im Bereich der Alltagsmathematik sind es 12 Punkte, also fast genauso viel wie die Genderdifferenz (13. Punkte), und beim Problemlösen sind es ganze 20 Punkte (zum Vergleich betrug die Genderdifferenz neun Punkte). Manche Leser/innen werden nun – vielleicht sogar empört – darauf hinweisen, dass dies viel zu vereinfachend gedacht und gerechnet ist, da diese Dichotomie doch holzschnittartig ist und wenigstens das Alter, die Anzahl der Kinder, der Bildungsstand, der Migrationshintergrund und viele andere Einflussgrößen mitzuberücksichtigen sind. Interessant – bei Geschlechtsunterschieden ist frau/man da nie so zimperlich, diese werden in (fast) allen Untersuchungen genauso vergröbernd angegeben und in der Folge weiter diskursiviert. Hier geht man prinzipiell davon aus, dass diese Unterscheidung schon per se sinnvoll und wissenschaftlich produktiv ist.

Wir haben selbstverständlich rechnerisch einigen zusätzlichen Einflussgrößen, wie dem Alter, dem Bildungsgrad, dem Migrationshintergrund und auch der Anzahl der Kinder Rechnung getragen und dennoch festgestellt – Kinder zu haben ist für die PIAAC-Teilnehmer/innen, unabhängig von deren Geschlecht, vor allem in der Altersgruppe von 16 bis 44 Jahren, in allen drei Schlüsselkompetenzen von Nachteil. Das ist demnach jene Altersgruppe von Erwachsenen, deren Kinder, so vorhanden, noch elterlicher Betreuung bedürfen. Im Hinblick auf die Lesekompetenz sieht man deutlich (vgl. Abb. 1), dass sich in diesem Alterssegment kinderlose Frauen und Männer gar nicht unterscheiden, beziehungsweise Frauen sogar besser performen; auch zwischen Frauen und Männern mit Kindern ist hier kein Unterschied, beide bringen aber signifikant schlechtere Leistungen als Menschen ohne Kinder. Bei den Alltagsmathematischen Kompetenzen zeigen besonders Frauen mit Kindern über alle Altersstufen hinweg schlechtere Leistungen, während kinderlose Frauen in jüngeren Jahren wenigstens mit Männern mit Kindern mithalten können. Was das Problemlösen betrifft, zeigt sich in der Gruppe der jungen Erwachsenen (16-44) ein deutliches Ranking: 1) kinderlose Männer, 2) kinderlose Frauen, 3) Männer mit Kindern, 4) Frauen mit Kindern; letztere stellen übrigens durch alle Altersgruppen die Verliererinnen dar. (Ponocny-Seliger & Ponocny: 2014, S. 175–178).

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Abbildung 1: Lesekompetenz in Österreich
(Quelle: Ponocny-Seliger & Ponocny; eigene Berechnungen aus den PIAAC-Daten 2011/12)

Was sind nun mögliche Erklärungen für diese Kinder-Differenz, die jetzt mit dem Geschlecht in Wechselwirkung tritt? Aus den in PIAAC zusätzlich erhobenen Daten ersehen wir, dass Kinder sich bei Frauen negativ auf die Bildungsjahre auswirken, während das bei Männern tendenziell nicht der Fall beziehungsweise sogar umgekehrt ist – Frauen mit Kindern fallen häufiger aus dem Bildungssystem heraus. Kinder brauchen Zeit, und diese Zeit kann frau/man nicht für das Training ihrer/seiner Skills nutzen – wie sich ebenfalls aus den PIAAC-Daten belegen lässt. Kinder wirken sich aber – vor allem in Österreich – insbesondere negativ auf die (arbeitsmarktspezifische) Lernbereitschaft  aus, und dieser Effekt verstärkt sich noch einmal bei Hausfrauen. Außerdem nehmen jüngere Erwachsene mit Kindern auch seltener an formaler Erwachsenenbildung teil. (Ebd. S. 178–181).

Fazit

Kinder zu haben oder nicht stellt eine – ebenso diskutierbare – Binarität wie Geschlecht dar, definitiv aber eine statistische Kategorisierung, die im Rahmen von PIAAC große, ja sogar größere Unterschiede zeitigt als die vielbeschworene Geschlechterdifferenz. Menschen mit Kindern in betreuungspflichtigem Alter sind im Rahmen der von PIAAC vorgelegten Aufgaben unterlegen; dieser Effekt ist in Österreich stärker als in Finnland oder Frankreich. Zwar trainieren Menschen mit Kindern selbstverständlich eine Vielzahl von Kompetenzen, darunter sicherlich auch solche Kompetenzen, die für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben äußerst relevant, ja unverzichtbar sind, aber diese Kompetenzen wurden in PIAAC eben nicht gezielt thematisiert, wobei diese Kompetenzen einem so formalisierten Rahmen wie PIAAC auch schwer erhebbar wären. Das PIAAC-Aufgabenmaterial testet spezifisch in die Richtung berufsbezogener Kompetenzen, also erwerbslastig und mit einem Blick auf die Anforderungen weithin männerdominierter Lebenswelten.

Anhand der Daten von Finnland und Frankreich lässt sich aber ablesen, dass sich der Nachteil von Frauen mit Kindern reduzieren lässt, wenn Länder verstärkt sowohl auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie als auch auf Gendergerechtigkeit setzen. Insbesondere Weiterbildung und Kinderbetreuung muss vermehrt ein genderfokussiertes Anliegen sein, um hinkünftig zu verhindern, dass sich Fertilität in Interaktion mit dem Geschlecht in messbare berufliche Kompetenz á la PIAAC einschreibt. //

Literatur

Beckmann, Sabine (2008): Männer und Familienarbeit in Schweden, Frankreich und Deutschland. Bremen. Verfügbar unter: http://www.sabinebeckmann.de/Vortrag_Arbeitnehmerkammer_SabineBeckmann_Web.pdf [28.2.2015].

Gildemeister, Regina (2004): Doing Gender: Soziale Praktiken der Geschlechterunterscheidung. In: Ruth Becker & Barbara Korthendiek, Handbuch Frauen und Geschlechterforschung (S. 132–140). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Matthies, Aila-Leena (2004): Wie Wirtschaft, Bildung und Familienpolitik sich gegenseitig auf die Sprünge helfen – aufgezeigt am Beispiel aus Finnland. In: Eidgenössische Koordinationskomission für Familienfragen EKFF (Hrsg.), Zeit für Familien. Beiträge zur Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsalltag aus familienpolitischer Sicht (S. 91–106). Bern. Verfügbar unter: http://www.ekff.admin.ch/c_data/d_Pub_Zeit_453KB.pdf [28.2.2015].

Ponocny-Seliger, Elisabeth & Ponocny, Ivo (2014): Genderunterschiede in PIAAC. In: Statistik Austria (Hrsg.), Schlüsselkompetenzen von Erwachsenen. Vertiefende Analysen der PIAAC-Erhebung 2011/12 (S. 170–187). Wien: Statistik Austria.

Statistik Austria (2013): Schlüsselkompetenzen von Erwachsenen. Erste Ergebnisse der PIAAC-Erhebung 2011/12. Wien: Statistik Austria.

Suchan, Birgit, & Wintersteller, Anna (2013): Lesen. Unterschiede zwischen Mädchen und Burschen. In: Ursula Schwantner, Bettina Toferer & Claudia Schreiner, PISA 2012. Internationaler Vergleich von Schülerleistungen. Erste Ergebnisse Mathematik, Lesen, Naturwissenschaft (S. 34–35). Graz: Leykam.

Wallner-Paschon, Christina (2012): Lesen. Leistungsunterschiede zwischen Mädchen und Buben. In: Birgit Suchan, Christina Wallner-Paschon, Silvia Bergmüller & Claudia Schreiner, TIMSS 2011. Schülerleistungen in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften in der Grundschule. Erste Ergebnisse (S. 18–19). Graz: Leykam.

Ponocny-Seliger, Elisabeth/Ponocny, Ivo (2015): PIAAC, der Gendergap und die etwas andere Interpretation. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. April 2015, Heft 255/66. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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